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(Toronto, 1907-1932
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SAMMLUNG
THE0L0GI8CHEE LEHRBĂśCHER
EINLEITUNG IN DAS NEUE TESTAMENT
BEAEBEITET
VON
HEINEICH JULIUS HOLTZMANN
DR UND OBD. PROFESSOR DER THEOLOGIE
IN STRASSBURG
PREIBURG I. B. 1886
AKADEMISCHE VERLAGSBUCHHANDLUNa VON J. C. B. MOHR
(PAUL siebeck)
LEHRBUCH
DER
)l /.
HISTORISCH-KEITISCH'EN
EINLEITUNG
IN DAS
NEUE TESTAMENT
VON
HEINRICH JULIUS HOLTZMANN
DB UND OKD. PROFESSOR DER THEOLOGIE
IN STRAS8BUEG
ZWEITE VERBESSEETE UND VERMEHRTE AUFLAĂźE
\
PREIBĂśRG I. B. 1886
AKADEMISCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG VON J. C. B. MOHR
(PAUL SIEBECK)
Das Recht der Uebersetzung in fremde Sprachen hehält sich die
Verlagsbuchhandlung vor.
Druck von 0. A. Wagner in Freiburg i. B.
Yorwort.
Wenn der geplante Cyklus theologischer LehrbĂĽcher gerade mit
vorhegendem Werke eröffnet worden ist, so hat dies seinen Grund
lediglich darin, dass die Druckfertigmachung des Manuscriptes ĂĽber
einen Gegenstand, welchen ich im verflossenen Sommer zum zwanzig-
stenmal in öffentlichen Vorlesungen behandelt habe, eine verhältniss-
mässig nur kurze Zeit in Anspruch nehmen konnte. Meine Absicht
war, ein Werk zu liefern, welches über den gegenwärtigen Stand der
das Neue Testament betreffenden kritischen Fragen umfassende,
gleichmässige und übersichthche Auskunft ertheilen, zugleich aber
auch das Material der Controversen mit einer fĂĽr akademische Lehr-
und Lemzwecke genügenden Vollständigkeit bieten sollte. Der eigene
Standpunkt konnte und sollte nicht verleugnet werden; er musste
aber zurĂĽcktreten hinter dem Streben nach einer objectiven Dar-
stellung, welche jedwede, einer wissenschaftHchen Begründung fähige,
Ansicht zum Wort imd zum Recht gelangen lässt.
Die kritischen Stimmen, welche anlässHch der ersten Auflage
laut geworden sind, haben anerkannt, dass die oben ausgesprochenen
Grundsätze mit dem Programm des ganzen Unternehmens überein-
stimmen und dass auch die AusfĂĽhrung nicht allzuweit hinter der
Aufgabe zurĂĽckgeblieben ist. FĂĽr den Fall einer zweiten Auflage,
wie eine solche gerade ein Jahr nach der ersten Veröffentlichung
nothwendig geworden ist, haben sich mancherlei WĂĽnsche und Be-
gehren hören lassen. Die meisten derselben konnten im neu gestalteten
Text stillschweigend berĂĽcksichtigt, beziehungsweise erledigt werden.
Beispielsweise sei auf die Erweiterung der letzten Absätze auf S 193
und 420 hingewiesen. Oft bezogen sich die Ausstellungen nur auf
Gegenstände formaler Natur. Dass ich es in dieser Beziehung
gleichwohl zuweilen beim Alten bewendet sein Hess, darĂĽber glaube
ich mich nicht in jedem einzelnen Falle ausdrĂĽckhch verantworten
zu mĂĽssen. Insonderheit erscheint mir unerheblich die vielfach
angeregte Controverse ĂĽber die Reihenfolge der abzuhandelnden
Stoffe. Die Stellung des besonderen Theiles hinter dem allge-
meinen (vgl. S 20) kann sich schon auf den, besonders fĂĽr den
Druck durchschlagenden, Zweckmässigkeitsgrund berufen, dass auf
solche Weise zahllose Wiederholungen z. B. von BĂĽchertiteln ver-
mieden sind. Dabei brauchte die Reihenfolge, in welcher der
VI Vorwort.
2. Theil die einzelnen Schriften zur Behandlung bringt, keineswegs
eine chronologisch geordnete zu sein. Eine solche soU sich ja erst
aus Untersuchung der genealogischen Verhältnisse und der übrigen
Zeitspuren, welche zu beobachten sind, ergeben. Sonach können die
neutest. Schriften nur nach den grossen Gruppen, in welche sie von
selbst zerfallen, geschieden und geordnet, es dĂĽrfen Schriften, die
wie die synoptischen Evglien, die Plsbriefe, die kath. Briefe innerUch
verwandt sind und darum eine gewisse Gleichmässigkeit in der
kritischen Behandlung verlangen, nicht etwa lediglich aus RĂĽcksicht
auf die Zeitrechnung auseinander gerissen werden.
SachHch ist mehrfach der "Wunsch nach einer bestimmteren
Sprache und Färbung, nach handgreiflicherer Bezeichnung derjenigen
Wagschale ausgesprochen worden, welche durch das Uebergewicht
der Gründe herabgezogen wird. Bei grundsätzHchem Einlenken in
diese Bahn hätte ich die ganze Haltung des vorHegenden Werkes,
die nicht ohne Bedacht gewählte und nicht ohne Selbstverleugnung
durchgefĂĽhrte, darangeben mĂĽssen. Treffend hat in dieser Richtung
ein berufener Recensent darauf hingewiesen, „dass der wissenschaft-
hche Zweck eines akademischen Lehrbuchs die Heranbildung des
Lernenden zu wissenschaftlicher Selbständigkeit, sein praktischer
Zweck die Brauchbarkeit für Angehörige aller Richtungen ist."
„Die Sicherheit, mit welcher diese beiden Zwecke erreicht werden,
steht in umgekehrtem Yerhältniss zu der Sicherheit, mit welcher die
eigene Anschauung als die allein berechtigte zur Geltung gebracht
zu werden pflegt."
Ueberdies gestehe ich, dass meine Arbeit von vorn herein auch
die eigenthchen Fachgenossen im Auge gehabt hat. Sie wĂĽrde gern
als Ausgangspunkt für eine annähernde Verständigung zwischen den-
jenigen dienen, welche der evangehschen Earche den Ruhm des
wissenschaftHchen Verständnisses auch auf dem speciellen Gebiete
der neutestamenthchen Literaturgeschichte zu erhalten suchen. Darum
wurde nicht blos dafĂĽr Sorge getragen, dass die auf jeder Station
des kritischen Prozesses sich ergebenden Probleme möghchst deut-
Hch an's Licht treten, sondern es ist auch durch Angabe der Namen,
welche zumal in der Neuzeit für die verschiedenen Lösungsversuche
eintreten, eine Uebersicht ĂĽber den dermaligen Stand des Kampfes
ermöglicht worden. Der Kundige wird sich angesichts solcher Zu-
sammenstellungen mit Leichtigkeit von den zuweilen etwas abseits
von den Bahnen der Wissenschaft gelegenen Interessen ein Bild
machen, welche ganze Reihen von confessionell oder kirchenpoHtisch
verbundenen Theologen auch auf dem Gebiete unserer Disciphn ver-
eint auftreten lassen, während andererseits das Zusammentreffen von
sonst sehr verschieden gerichteten Autoritäten auf Einem Punkt ein
gĂĽnstiges Vorurtheil fĂĽr die Haltbarkeit der betreffenden These er-
wecken wird. In nicht wenigen Fällen liegt schon in den in Rede
stehenden Verzeichnissen eine stillschweigende Verurtheilung leicht-
fertiger Behauptungen. Mitunter liest man z. B. immer noch die
zuversichthch hingeworfene Behauptung, die Marcushypothese sei im
Aussterben begriffen, die Erklärung der Synoptiker aus zwei Quellen
Vorwort. vn
statt aus der mĂĽndlichen Tradition habe sich ĂĽberlebt u. s. w. Ein
BHck auf die S 362 f, 375 f verzeichneten Namen genĂĽgt , um ein
derartiges Gerede zu wĂĽrdigen. Dies der Grund, wesshalb ich zwar
nicht wenige Namen dritten und vierten Ranges jetzt wieder ge-
strichen, manches Yerzeichniss entweder ganz getilgt oder durch
ZurĂĽckfĂĽhrung auf ein anderes vereinfacht, das System der grossen
Gruppen selbst aber nicht aufgegeben habe. Es schadet nichts,
wenn kĂĽnftige Leser aus solchen Registern unter Anderem auch
ersehen, welche und welcherlei Yelleitäten, gichtbrüchige Hypothesen,
„Standpunkte", die selbst nicht stehen können, zur Signatur der
officiellen Theologie unserer Tage gehört haben*). Allerdings ist
in solchen Registern auch jetzt noch mancher Name stehen geblieben,
ohne dass die Titel der einschlägigen Werke beigeschrieben oder
schon zuvor genannt worden wären. In der Regel wird man dann
die betreffenden Nachweise in denjenigen meiner Specialarbeiten finden,
welche an der Spitze der betreffenden Abschnitte aufgefĂĽhrt sind.
"Wenn ĂĽbrigens auch der Streit der Meinungen das Erste ist,
was bei dieser Methode hervortritt und in die Augen fällt, so sollte
doch die positive Darstellung der Sache selbst keineswegs darĂĽber
zu kurz kommen. Nur muss man dieselbe am rechten Ort suchen.
Gleich das erste Kapitel der Geschichte des Kanons giebt eine
Skizze der altchristlichen Literaturgeschichte, wie letztere nach den
hier vertretenen Resultaten sich gestalten mĂĽsste, so dass schon
dadurch in allen wichtigen Fällen unzweideutig die Richtung ange-
geben ist, nach welcher die Debatten ĂĽber das Detail Entscheidung
suchen. Im besonderen Theile aber wird bezĂĽglich der theils be-
jahenden, theils ablehnenden Stellung zur Tradition, welche ich bei
Beurtheilung sämmtlicher Briefe des NT einnehme, keinerlei Zweifel
mögUch sein. Mit etwas grösserer Zurückhaltung sind die sog.
geschichtHchen BĂĽcher behandelt , zumal Johannes und Apostel-
geschichte; aber auch hier war es unmögHch, Ueberzeugungen , die
sich mir, allerdings oft nach längerem Schwanken, zuletzt immer
deutlicher gestaltet, immer unabweisbarer aufgedrängt haben, unter
den Scheffel zu stellen. Nur verlange man in einem Buche, welches
programmmässig Unparteüichkeit verspricht, nicht Anwendung einer
Fracturschrift, die auf meilenweite Entfernung lesbar, weil auf blöde
Augen berechnet wäre.
Auch ein Register ist begehrt worden; das beigegebene konnte
um so kĂĽrzer gehalten werden, als gleichzeitig das Inhaltsverzeich-
niss durch Aufiiahme neuer Unterabtheilungen erhebHche Erweite-
rungen erfahren hat. Was hier schon deutlich in die Augen fällt,
also namentlich Ort und Stelle, wo die einzelnen kanonischen und
apokryphischen SchriftstĂĽcke zur Behandlung kommen, brauchte dort
nicht wiederholt zu werden. Vielmehr wurde in das Register nur
aufgenommen, was zur sachhchen und sprachlichen Orientirung, zur
*) Auch mit B. "Weiss , dem umsichtigsten und fleissigsten unter den Ver-
tretern dieser Theologie, habe ich micli so allseitig auseinandergesetzt, dass ich
es kaum bedauern kann, seine soeben buchhändlerisch angezeigte Einleitung in
das NT nicht zu Gesicht bekommen zu haben.
VIII Vorwort.
Kenntliclimachung der Stellung alter und neuer Autoritäten zu den
vorliegenden Problemen, zur Uebersicht ĂĽber die Leistungen maass-
gebender Schriftsteller dient. Unmöglich konnten alle Namen auf-
genommen werden. In erster Linie wurden solche berĂĽcksichtigt, die
an vielen oder wenigstens an verschiedenen Orten des Werkes genannt
sind. Vermeidung von Wiederholungen war schon durch die RĂĽck-
sicht auf den zu Gebote stehenden Raum auferlegt. Beispielsweise
werden daher die im zweiten TheĂĽe vorkommenden Mittheilungen
ĂĽber die altkirchhche Bezeugung einzelner Schriften erst recht ver-
ständhch, wenn man sie als Einzelausführungen in die Geschichte
des Kanons, wie solche der erste TheĂĽ im grossen Zusammenhang
gibt, hineinzeichnet. Aus demselben Grunde wurde die im Eingange
aufgefĂĽhrte Literatur der Disciplin in der Geschichte der Kritik,
welche den Schluss der Geschichte des Kanons bildet, nicht aber-
mals abgedruckt. Ueberhaupt ist von älterer Literatur nur was
bleibender Bedeutung sicher scheint , von neuerer und neuester
dagegen alles dasjenige verzeichnet worden, was dem an alte Probleme
neu Herantretenden eben jetzt gute Dienste leisten wird.
Im besondern Theil hat die zweite Auflage die formelle Neue-
rung getroffen, dass die jĂĽngeren Commentare und bedeutenderen
Monographien ĂĽber die einzelnen BĂĽcher an die Spitze der betreffen-
den Kapitel und Sectionen gesteht wurden. Die Abschnitte ĂĽber
2 Cor, Rm und Eph, auch über die Evglien haben erhebliche Zusätze
erfahren. Neu hinzugekommen ist ein gedrängter Nachweis über
den Bestand der apokryphischen Literatur und ihrer Bearbeitung.
Ganz ohne Nachbesserungen und Erweiterungen ist wohl kein Ab-
schnitt geblieben ; das gilt auch vom allgemeinen Theil.
Schulden der Dankbarkeit habe ich gegen Verstorbene und
gegen Lebende abzutragen. Unter jenen nimmt den ersten Platz
Dr. Wilhelm Vatke ein. Ohne die nachhaltige Anregung, welche
ich 1851 — 52 als sein Zuhörer empfing, würden die Studien, welche
in vorhegendem Werke zu einem relativen AbschlĂĽsse gelangt sind,
ĂĽberhaupt nicht gemacht worden sein. Aufriss und allgemeine An-
ordnung werden sich noch heute nicht allzuweit von seinem Schema
entfernen, welches mir zur Vergleichung nicht mehr zu Gebote
steht. Um so erwartungsvoller sehe ich der bevorstehenden Ver-
öffenthchung seiner Vorlesungen entgegen, deren spätere Ausgestal-
tung mir unbekannt gebheben ist.
Zum Danke verpflichtet mich aber auch die freundHche und
nachsichtige Aufnahme, welche mein Werk in der Oeffenthchkeit
gefunden hat. Für sachHche Verbesserung und Vervollständigung
bin ich besonders den Herren Dr. A. Jülicher (Göttingische ge-
lehrte Anzeigen 1886, S 581 f) und Lic. P. W. Schmiedel (brief-
lich), fĂĽr UnterstĂĽtzung bei der Correctur zweien badischen Geistlichen,
meinem Freunde Wilhelm Seufert und meinem Bruder Otto
HoLTZMANN, verbunden.
Strassburg, 1. Oktober 1886.
H. Holtzmann.
Inhalt.
Seite
Vorwort V
Inhaltsverzeichniss IX
Sigla der biblischen Citate XV
Sigla der Citate aus Zeitschriften und Sammelwerken XV
Ergänzungen und Berichtigungen XVI
Geschichte und Literatur, Inhalt und Oliedernng der Bisciplin . . 1
1. Alte und mittlere Zeit 1
2. Sechszehntes und siebzehntes Jahrhundert 2
3. BegrĂĽndung der Disciplin 3
4. Der neuere Protestantismus 4
5. Katholische Arbeiten 6
6. Das Ausland 7
7. Das Reformproject 9
8. Der Begriff der Disciplin 11
9. Die Disciplin innerhalb der theologischen Encyklopädie .... 12
10. Greschichte des Kanons 15
11. Geschichte des Textes ... * 16
12. Specielle Einleitung 19
Allgemeiner Theil 21
Gesohiclite des Textes 23
Erstes Kapitel : Von der XJeherlieferung des Textes . 23
1. Aeltere formale Geschichte des Textes. Neutestamentliches Schreib-
und BĂĽcherwesen 23
2. Aeltere materiale Geschichte des Textes 26
1. Unabsichtliche Aenderungen S 26. 2. Absichtliche Aende-
rungen S 27. 3. Fälschungen S 28.
Zweites Kapitel: Tom textkritischen Apparat 32
1. Von den Handschriften 32
1. Allgemeines S 32. 2. Stoffe S 33. 3. Schriftarten S 34.
4. Form S 35. 5. Wort- und Satzabtheilung 36. 6. Kapitel-
Abtheiluug S 38. 7. Terminologie S 40. 8. Die berĂĽhm-
testen Uncialhandschriften 41.
2. Von den Schriftstellern des kirchlichen Alterthums 46
1. Allgemeines zur Textgeschichte S 46. 2. Die patristischen
Citate S 49.
3. Von den alten Uebersetzungen 52
1. Morgenländische Uebersetzimgen 53
1. Syrische S 53. 2. Aegyptische S 55. 3. Aethiopi-
sche S 55. 4. Armenische S 55. 5. Georgische S 56.
6. Arabische S 56. 7. Persische S 56. 8. Gothische
S 57. 9. Slavischc S 57.
2. Lateinische Uebersetzungen 58
1. Vorhieronymianische S 58. 2. Die Vulgata S 63.
X Inhalt.
Seite
Drittes Kapitel: Geschichte des gedrĂĽckten und des recensirten Textes 67
1. Editiones principes 67
2. Das Jahrhundert zwischen Erasmus und Elzevier 68
3. Der Textus receptus 69
4. Das Jahrhundert zwischen Mill und Grriesbach 70
5. Die deutsche Arbeit der letzten 100 Jahre 74
6. Die enghsche Arbeit der Gregenwart 81
7. Erträgnisse der textkritischen Bemühungen 85
1. Allgemeine Unterscheidungen S 85. 2. Grundsätze der
recensirenden und der emendirenden Kritik S 87.
(Jesoliiclite des Kanons 91
Vorbemerkungen ĂĽber Aufgabe und Literatur derselben ........ 91
Erstes Kapitel: Die neutestamentliche Literatur 94
1. Urchristliche und altkirchliche Literatur . 94
2. Aeltere Schriftstellerei 95
3. Apostolisches Material zur Kanonbildung 98
4. Das nachapostolische Zeitalter 101
5. Nachapostolisches Material zur Kanonbildung 107
Anhang: Alttestamentliche Pseudepigraphen 109
Zweites Kapitel: Die Torgeschichte des Kanons ...:.... 110
1. Die älteren apostolischen Väter 110
2. Papias 114
3. Justin der Märtyrer 118
4. Die späteren apostolischen Väter 122
5. Die späteren Apologeten 129
6. Die Gnostiker • 133
Drittes Kapitel: Der ältere Kanon 140
1. Der Kanon und die katholische Kirche 140
2. Das Muratorianum 146
3. Der Kanon des Irenäus und des Tertullian > • • 151
4. Der alexandrinische Kanon 154
Viertes Kapitel: Der spätere Kanon 157
1. Von Eusebius bis zu Athanasius 157
2. Name und Begriff des Kanons 161
3. Name und Begriff des Apokryphischen 165
4. Abschluss des Kanons im Morgenland 169
5. Abschluss des Kanons im Abendland 172
FĂĽnftes Kapitel: Der Kanon und der Protestantismus 175
1. Die beiden Stadien der protestantischen Kritik 175
2. Das reformatorische Stadium . . 177
3. Die Uebergangszeit 181
4. Von Semler zu Baur 183
5. Die TĂĽbinger Schule 186
6. Die kritische Richtung 189
7. Phantasiemässig construirende Reaction 193
8. Dogmatisch operirende Restauration 196
9. Wissenschafthche Opposition 199
10. Die Gegenwart 204
Sechstes Kapitel : Die protestantische Kritik des Kanons.
(Uebergang zum besonderen Theil.) 207
1. Lage der kanonbildenden Kirche 207
2. Unkritische Stimmung des Zeitalters 210
3. Methodisches Vorgehen der Kirche 214
4. Maassgebende Motive der Kanonbildung 217
5. Psychologische Wurzel der sog. Fälschungen 221
Inhalt. XI
Seite
Besonderer Theil 227
Erstes Kapitel: Die paulinischen Briefe 229
Die Briefe an die Thessalonicher 233
1. Die Christengemeinde zu Thessalonich 233
2. Veranlassung und Inhalt des 1. Briefes 234
3. Veranlassung und Inhalt des 2. Briefes 235
4. Echtheit 236
5. Der eschatologische Hauptpunkt 238
Der Brief an die Gralater 241
1. Die galatischen Gemeinden 241
2. Paulus und die Gralater 242
3. Veranlassung und Inhalt des Briefes 244
4. Datum des Briefes 245
5. Echtheit 246
Die Briefe an die Korinther 246
1. Paulus in Korinth 246
2. Die Parteien in Korinth 247
3. Veranlassung und Inhalt des 1. Briefes 249
4. Veranlassung und Inhalt des 2. Briefes 251
5. Verhältniss der beiden Briefe zu einander 254
Der Brief an die Römer 256
1. Datum und Inhalt 256
2. Die Leser 258
3. Zweck 263
4. Integrität des Briefes 269
Der Brief an Philemon 274
Der Brief an die Kolosser 276
1. Paulus und die Kolosser 276
2. Die Irrlehre 277
3. Datum und Inhalt 279
4. Echtheit 280
Der Brief an die Epheser 283
1. Inhalt 283
2. Die Adresse 284
3. Echtheit , 287
4. Das Verhältniss zum Kolosserbrief 291
1. Die Sachlage S 291. 2. Die Lösungsversuche S 293.
3. Die Interpolationshypothese S 295. 4. Gemeinsamer
Charakter S 296.
Der Brief an die Philipper 297
1. Abfassungsort und Verhältniss zu Eph, Col, Phm 297
2. Veranlassung 298
3. Inhalt und Integrität 300
4. Echtheit 302
Die Pastoralbriefe 304
1. Inhalt 304
2. Geschichte der Kritik 306
3. Die vorausgesetzten Situationen im Leben des Paulus . . . 308
4. Die Hypothese von der zweiten Gefangenschaft des Apostels
in Rom 311
5. Das kĂĽnstlich Gemachte und Ungeschichtliche der Voraus-
setzungen . . 315
6. Sprachhches 317
7. Zeitverhältnisse 321
XII Inhalt.
Seite
Der Hebräerbrief , 326
1. Inhalt 326
2. Schicksale des Briefes 327
3. Unpaulinischer Ursprung 330
1. Persönliches S 330. 2. Sprachliches S 331. 3. Cita-
tionsweise S 332. 4. Schriftstellerisches Verhältniss S 332.
5. Theologischer Standpunkt S 334.
4. Verfasserschaft 335
5. Abfassungszeit 336
6. Adresse 338
7. Zweck 343
Zweites Kapitel : Die GeschichtsbĂĽclier 345
Die synoptischen Evangelien 345
1. Evangelium und EvangeHen 345
2. Die Synoptiker und das synoptische Problem 347
3. Aeltere Lösungsversuche 351
4. Gegenwärtiger Stand der kritischen Frage 357
1. Die Traditionshypothese S 357. 2. Die Urevangeliums-
hypothese S 358. 3. Die Benutzungshypothese S 360.
4. Matthäus oder Marcus S 366. 5. Vermittelungen S 370.
5. Die Spruchsammlung 371
6. Synoptische Tafel 376
7. Entstehungszeit 382
8. Das Evangelium nach Matthäus 386
1. Echtheit S 386. 2. Ursprache S 387. 3. Dogmatischer
Charakter und Zweck S 389.
9. Das Evangelium nach Marcus 393
1. Verhältniss zu Johannes Marcus S 393. 2. Verhältniss
zu Petrus und Pls S 394.
10. Das Evangelium nach Lucas 397
1. Echtheit S 397. 2. Dogmatischer Charakter u. Zweck S 399.
Die Apostelgeschichte 402
1. Titel, Inhalt und Eintheilung 402
2. Verhältniss zum 3. Evangelium 403
3. Das Problem des Buches 404
4. Die Quellenfrage . . . , 406
5. Die Frage nach dem Zweck und geschichtlichen Charakter . 409
1. Geschichte der Kritik S 409. 2. Instanzen der Kritik
S 410. 3. Apologetischer Gegensatz S 414. 4. Vermitte-
lungen S 416.
6. Zeit • 418
7. Bezeugung 419
Drittes Kapitel: Die jolianneisclie Literatur 420
Die Offenbarung 421
1. Apokalyptik 421
2. Inhalt 423
3. Zeitlage 425
4. Verfasser 429
5. Bezeugung 435
Das vierte Evangelium 438
1. Das Johanneische Problem 438
1. Einführung der Erzählung S 438. 2. Oertliches S 439.
3. Zeithches S 439. 4. Reden und Thaten S 441
5. Christusbild S 442. 6. Composition S 443. 7. Theolo-
gischer Standpunkt S 444.
Inhalt. Xni
Seite
2. Geschichte der Kritik 444
1. Der Angriffs 445. 2. Vertheidigungsexperimente S 446.
3. Vermittelungen S 447. 4. Die gegenwärtige Sach-
lage S 448.
3. Vorläufige Resultate bezüglich der Geschichtlichkeit des johan-
neischen Berichts 450
1. KĂĽnstliche Einrahmung S 450. 2. Geschichtliche
Erinnerungen S 451. 3. Schriftstellerisches Verhältniss
S 452. 4. Einfluss der Logoslehre S 454. 5. Menschliche
Kehrseite S 456. 6. Doppelgesicht S 457. 7. Das Leben
Jesu S 458. 8. Symbolik des Berichts S 460. 9. Der
Evangelist und die Christusreden S 461. 10. Zeitgeschicht-
liches Moment S 463.
4. Der johanneische Ursprung 465
1. Der Lieblingsjünger S 465. 2. Verhältniss zum Juden-
thum S 468. 3. Speculation und Mystik S 469. 4. Evange-
list und Apokalyptiker S 471. 5. Der Passahstreit S 474.
6. Johannes in Ephesus S 475. 7. Zeit S 476.
5. Bezeugung und Tradition 477
1. Die Zeugnisse fĂĽr Existenz und kanonische Werthung
von Joh S 477. 2. Die Tradition ĂĽber den ephesinischen
Johannes S 482.
Die Johanneischen Briefe 488
Der erste Brief. • 489
1. Echtheit 489
2. Inhalt 490
3. Verhältniss zum 4. Evangelium 491
4. Zweck 493
5. Zeit 494
Die beiden kleinen Briefe 495
1. Verhältniss zum grossen Brief . . * 495
2. Echtheit 496
3. Adresse und Inhalt 497
4. Zeitlage 499
Die ĂĽbrigen katholischen Briefe 500
Der Brief des Jakobus 504
1. Charakter und Inhalt 504
2. Leserkreis 505
3. Zeitlage 506
4. Echtheit 510
5. Schicksale 512
Die Briefe des Petrus 514
Der erste Brief 514
1. Die Adresse 514
2. Zweck 515
3. Inhalt 516
4. Schriftstellerisches Verhältniss 517
5. Echtheit 620
6. Zeit 522
7. Bezeugung 624
Der zweite Brief 626
1. Verfasser und Leser 526
2. Verhältniss zum ersten Brief 625
3. Verhältniss zum Judasbrief 627
XIV Inhalt.
Seite
4. Zweck und Inhalt 528
5. Echtheit 529
6. Ueberlieferung 530
Der Brief des Judas . 531
Viertes Kapitel: Die Apokryphen des NT 534
I. Allgemeines 534
n. Apokryphische Evangelien 536
1. Nicht mehr vorhandene 536
1. Gruppe der Hebräerevglien S 536. 2. Evangelium der
Aegypter S 538. 3. Gnostische Evglien S 539.
2. Die noch vorhandenen StĂĽcke 540
1. Josephssagen S 540. 2. Mariensagen S 540. 3. Kind-
heitssagen S 541. 4. Passionslegenden S 541. 5. Fremd-
artige Nachtriebe S 542.
in. Apokryphische Apostelgeschichten 543
1. Nicht mehr vorhandene 545
1. KfjpĂĽYiAaxa, TCEptoSot und irpa^eK; des Petrus und des
Paulus S 545. 2. 'AvaĂźa^^ol ^laxwĂźoo S 546.
2. Die noch vorhandenen StĂĽcke 546
1. Petropaulinisches S 546. 2. Bamabas, Marcus, Lucas,
Timotheus, Titus S 546. 3. Andreas, Matthäus (Matthias),
Bartholomäus S 547. 4. Thomas S 547. 5. Thaddäus
S 547. 6. Philippus S 548. 7. Jakobus, Simon und Judas
S 548. 8. Johannes S 548. 9. Clemens von Rom S 548.
IV. Apokryphische Briefe 549
1. Paulus 549
1. Dritter Korintherbrief S 549. 2. Brief nach Laodicea
S 549. 3. Briefwechsel mit Seneca S 549.
2. Clemens 550
3. Bamabas 550
V. Apokryphische Apokalypsen 551
1. Eigentliche Apokalypsen 551
1. Moses S 551. 2. Esra S 551. 3. Paulus S 551. 4. Johannes
S 551. 5. Maria S 551. 6. Bartholomäus S 551. 7. Petrus
S 551. 8. Thomas und Stephanus, Adam u. Abraham S 552.
2. "Werke apokalyptischer Art 552
1. Hermas S 552. 2. Testamente der Patriarchen S 552.
3. Eldat und Modat S 553. 4. Elxai S 553. 5. Hermes
trismegistus S 553. 6. Hystaspes S 553. 7. Sibylle S 553.
8. Jesaja S 554. 9. Elia S 554. 10. Jeremia 554.
Sida der biblischen Citate. Citate aus Zeitschriften u. Sammelwerken. xv
Sigla der biblischen Citate.
t
Act =
Acta, Apostelgeschichte.
Jos =
Am =
Amos.
Jud =
Apc —
: Apokalypse.
Lc =
Bar =
Baruch.
Lev =:
Chr =
Chronik.
Mac =
Cnt=:
Canticum, hohes Lied.
Mal =
Coh =
Kohelet, Prediger Salomo.
Mch =
Col =
Kolosser- 1 -r. . .
Korinther- f •*^"®*®-
Mr =
Cor =
Mt =
Dan =
Daniel.
Na =
Dtn =
Deuteronomium, 5. Moses.
Neh =
Eph =
Epheserbrief.
Num =
Esr =
Esra.
Ob =
Est =
Esther.
Pe =
Ex =
Exodus, 2. Moses.
Phl =
Ez =
Ezechiel.
Phm =
Oal =
Galaterbrief.
Prv =
Gen =
Grenesis, 1. Moses.
Ps =
Hab =
Habakuk.
Reg =:
Hag =
Haggai.
Rm =
Hbr =
Hebräerbrief.
Rt =
Hos =
Hosea.
Sam =
Jac =
Jakobusbrief.
Sap =
Jdc =
Judices, Richter.
Sir =
Jdt =
Judith.
The =
Jer =
Jeremias.
Thr =
Jes 1=
Jesaias.
Tim =
Jo =
Joel.
Tit =
Job =
Hiob.
Tob =
Joh =
Johannes (Evangelium und
Zeh ^
Briefe).
Zph =
Jon =
Jonas.
1
3igla der Citate aus Zeitsc
;hriften
BL
= Schenkel's Bibellexicon.
ThT
EWK
= Allgemeine Encyklopädie
der "Wissenschaften und
ThZSch-
KĂĽnste.
ZhTh :
HbA
= Riehm's Handwörterbuch
des biblischen Alterthums.
ZKG :
.TbW
= Ewald's JahrbĂĽcher fĂĽr bib-
lische Wissenschaft.
ZlTh
JdTh
= JahrbĂĽcher fĂĽr deutsche
Theologie.
ZPK
JprTh
= JahrbĂĽcher fĂĽr protestanti-
sche Theologie.
ZTh
PrK
= Protestantische Kirchenzei-
tung.
ZWL :
RE
= Herzog's Real-Encyclopädie
StKr
= Theologische Studien und
Kritiken.
ZwTh :
ThJ
= Theologische JahrbĂĽcher.
ThLz
= Theolog. Literaturzeitung.
Josua.
Judasbrief.
Lucas.
Leviticus, 3. Moses.
Makkabäer.
Maleachi.
Micha.
Marcus.
Matthäus.
Nahum.
Nehemia.
Numeri, 4. Moses.
Obadja.
Petrusbriefe.
Philipperbrief.
Philemonbrief.
Proverbien, SprĂĽche.
Psalmen.
Reges, Könige.
Römerbrief.
Ruth.
Samuel.
Sapientia, Weisheit Salomos.
Sirach.
Thessalonicherbriefe.
Threni, Klagelieder.
Timotheus- f -o • r
Titus- f ^^^^f^-
Tobias.
Zacharias.
Zephanias.
Theologisch Tijdschrift.
Meili's Theologische Zeit-
schrift aus der Schweiz.
Zeitschrift fĂĽr historische
Theologie.
Zeitschrift fĂĽr Kirchen-
geschichte.
Zeitschrift fĂĽr lutherische
Theologie und Kirche.
Zeitschrift fĂĽr Protestantis-
mus und Kirche.
TĂĽbinger Zeitschrift fĂĽr
Theologie.
Luthardt's Zeitschrift fĂĽr
kirchliche Wissenschaft u.
kirchliches Leben.
Hilgenfeld's Zeitschrift fĂĽr
wissenschaftl. Theologie.
XVI
Ergänzungen und Berichtigungen.
Ergänzungen und Berichtigungen.
S 7 Z
6
V. u. lies:
S 8 Z
9
V. u. lies:
S 8 Z
14
V. u. lies:
S 23 Z
11
V. u. streiche
S 25 Z
12 u.
17 V. u. streiche
S 45 Z
3
V. 0. streiche
S 45 Z
5
V. 0. lies:
S 57 Z
17
V. u. lies:
S 58 Z
8
V. 0. lies:
S 59 Z
13
V. 0. lies:
S 82 Z
14
V. u. lies:
S 129 Z
12
V. 0. lies:
S 131 Z
14
V. u. streiche
S 155 Z 10
V. 0. lies:
S 178 Z
8
V. u. lies:
S 192 Z
4
V. u. lies:
S 197 Z
16
V. u. lies:
S 233 Z 17
V. 0. lies:
S 239 Z
5
V. u. lies:
S 240 Z 22
V. u. lies:
S 246 Z
9
V. u. lies:
S 254 Z 23
V. 0. streiche
S 274 Z 19
V. u. lies :
S 296 Z 10
V. 0. streiche
S 326 Z 13
V. o. lies:
S 345 Z
7
V. 0. lies:
S 402 Z 15
V. 0. lies:
S 469 Z 25
V. 0. lies:
3 Bde 1885—86 statt Bd 1, 1885.
Nieuwen statt Nieuwe.
hinter 1885: 2. Afl 1886.
einzig.
ĂĽbrigens.
, nach Codex.
"Wettstein statt Wetstein.
1834 statt 1835.
43 statt 42.
(hinter Sabatier), fĂĽr sich allein von Bels-
HEIM 1885.
43 statt 42.
5 statt 6.
, nach 285.
17, 105. 107 statt 17, 107.
1866. statt 1866,
42 f. 387 f statt 42 f.
1886 statt 1885.
1883), Panek (1886). statt 1883.
14. 11 statt 14, 11.
6 f, statt 6 f.,
1886), Godet (1 Cor deutsch von Wunder-
lich 2 Bde 1886). statt 1886).
Meyer.
8. Asg 1886). statt 7. Asg 1884).
, nach Paulinismus.
(1842, 2. Afl 1862) statt (1842).
KumöL statt Küihnöl.
1885), statt 1885).
12. 20 statt 12, 20.
Die Einleitung in das Neue Testament.
Geschichte und Literatur, Inhalt und Gliederung der Disciplin.
1) Unsere Disciplin ist alt, wenn man auf den Namen, jung,
wenn man auf die Sache sieht. Denn die Schriftsteller, welche
Cassiodorius als introductores scripturae divinae empfiehlt (Instit.
divin. literarum I, 10 ; ihre "Werke heissen in der Praefatio libri intro-
ductorii) — Augustin (wegen De doctrina christiana) und seine beiden
Zeitgenossen, der Donatist Tichonius und Eucherius von Lyon,
sowie der etwas später lebende Hadrianus (Verfasser einer EtoaYtoYYj
BiQ tac "O-stac Ypa^a?) — gehören schlechterdings nur in die Geschichte
der Exegese und Hermeneutik. Andererseits trägt eine Leistung
der alten Kirche, welche sich am meisten demjenigen nähert, was
wir seit hundert Jahren unter dem gleichsam technisch gewordenen
Ausdrucke „Biblische Einleitung" verstehen, nicht diesen Namen.
Es sind die beiden Bücher Instituta regularia legis divinae, gewöhn-
lich unter dem Titel De partibus legis divinae citirt, darin der gleich-
falls von Cassiodorius aufgefĂĽhrte Afrikaner JuniliĂĽs (f 552) in
dürftiger Weise die Lehrvorträge des Paulus von Bassora, späteren
Metropoliten von Nisibis, ĂĽber Schreibweise, Verfasserschaft, Ein-
theilung, Kanonicität und Lehrgehalt der biblischen Schriften repro-
ducirt hat ^). Was man in anderen The^len der Kirche von Nach-
richten ĂĽber die Entstehung einzelner BĂĽcher besass, das findet sich
*) Da es viel gebraucht wurde, hat sich das Buch in zahlreichen Hand-
schriften erhalten und ist mit Einleitung, Apparat und Commentar herausgegeben
worden von Kihn, Theodor von Mopsuestia und JuniliĂĽs Africanus als Exegeten
1880, S 213 f.
Holtzmann, Einleitung. 2. Auflage. ^
2 Die Einleitung in das Neue Testament.
zerstreut in den Werken des Kirchenhistorikers Eusebius, besonders
in der Kirchengeschichte um 324, und des in seinen Fusstapfen
wandelnden Hieronymus, besonders im Catalogus scriptorum eccle-
siasticorum (sive De viris illustribus) und in den Vorreden zu seinen
Commentaren und lieber Setzungen. Anderweitige Fortpflanzungs-
mittel dĂĽrftiger Traditionen boten die Unterschriften (oTuo^saet?) der
einzelnen BĂĽcher in den Handschriften. Anfangs nur Wiederholungen
der Titel, erweiterten sie sich mit der Zeit zu Bemerkungen nicht
blos ĂĽber Zahl der xs^pdXaia, GĂśyoi, pri\iazct., sondern auch ĂĽber die
Abfassungsverhältnisse der betreffenden Bücher. Dabei widersprechen
sich die Handschriften nicht blos untereinander, sondern geben auch
erwiesenermaassen Falsches, wie z. B., dass beide The von Athen,
Gal von Rom, 1 Cor von Philippi aus geschrieben seien. Von der-
selben werthlosen Art sind auch die Mittheilungen der aovö(|;£t(;, d. h.
Uebersichten ĂĽber Anordnung, Inhalt und Entstehung der BĂĽcher
(besonders die pseudoathanasianische Synopsis scripturae sacrae)
Biblische Gelehrte, wie Euthalius von Alexandria und Victor von
Capua in ihren Vor- und Nachbemerkungen, Exegeten wie Theodor
VON MopsĂĽESTiA, Ambrosiaster, ferner Chrysostomus, Theodoret,
auch noch Kosmas Indikopleustes um 535 (De opificio mundi V)
liefern zuweilen beachtenswerthere Beiträge. Für die Wissenschaft
des Mittelalters endlich wurden maassgebend die meist von Hiero-
nymus und Augustinus, zuweilen aber auch schon von JuniKus be-
zogenen Notizen, welche Cassiodorius zwischen 544 und 552 fĂĽr
seine Mönche zu Vivarium in dem Werke De institutione divinarum
et saecularium lectionum (oder Hterarum) zusammengestellt hatte
(I, 7 — 9. 12 — 14). Einiges über den Inhalt der bibHschen Bücher
bringt noch Alcuin (Disputatio puerorum 8) ; der Minorit Guilel-
MĂĽs Brito (um 1300) schreibt Commentare ĂĽber die Prologe des
Hieronymus und Nicolaus von Lyra (-j- 1340) stellt in seinen
Postillae perpetuae in universa biblia (gedruckt 1471) zusammen, was
man zu seiner Zeit ĂĽber Kanon, Autoren, Entstehung, Inhalt und
Auslegung der bibhschen BĂĽcher wusste. So unfruchtbar und frag-
würdig dieses Wenige ist, so stellt es doch einen Höhepunkt dar,
welchen die folgenden Jahrhunderte nicht mehr zu erreichen ver-
mögen.
2) Im Zeitalter der Reformation erst brachte die kathohsche
Kirche Nennenswertheres auf unserem Gebiete hervor. Der Domini-
caner Santes PagninĂĽs aus Lucca (f 1541) lag mit eisernem
Fleiss den biblischen Studien ob, freilich nur um in seinem Isagogae
ad sacras literas liber unus 1536 den Standpunkt des Hieronymus
Geschichte und Literatur, Inhalt und Gliederung der Disciplin. 3
und Augustinus zu reproduciren. Anregender wirkte die zuerst
1566 (zuletzt 1742) erschienene Bibliotheca sancta ex praecipuis
catholicae ecclesiae auctoribus collecta seines Ordensbruders SixtĂĽs
von Siena (f 1569), welcher, nachdem ihn die nahe gerĂĽckte Aus-
sicht auf den Scheiterhaufen von der Irrigkeit kritischer Ansichten
ĂĽberzeugt hatte, von durchaus conservativ-kirchhchem Standpunkt
aus sein ungeordnetes und formloses, fĂĽr jene Zeit aber um seines
literarischen Materials willen bedeutsames Sammelwerk ĂĽber die Ge-
schichte der Bibel verfasste. Ihm folgten Jesuiten, wie Alfons Sal-
MERON (Prolegomena in universam scripturam, zuerst 1597) und
Nicolaus Serarius (Prolegomena biblica 1612), der Karmehter
Antonius a matre Dei (Praeludia isagogica ad sacrorum bibliorum
intelligentiam (zuerst 1669), auch eine Isagoge in totam sacram
scripturam von LuDOVicus de Tena (1670), Lutheraner, wie der
ostfriesische Superintendent Michael Walther (Officina biblica
noviter adaperta 1636, zuletzt 1703), Reformirte, wie der Franzose
Andreas Rivetus (Isagoge sive introductio generalis ad scripturam
sacram 1627) und der ZĂĽricher Johann Heinrich Heidegger
(Enchiridion biblicum 1681, 5. Asg 1723). Die genannten BĂĽcher
bieten neben Erörterungen über Sprache, Uebersetzungen, Auslegung
der biblischen Schriften meist noch eine Masse dogmatischer Aus-
einandersetzungen ĂĽber Inspiration, Tradition, Kanonisches und Apo-
kryphisches, wie sie uns ähnhch auch in den polemischen und dogma-
tischen Werken der Zeit begegnen.
3) Dass aus diesem Chaos etwas wurde, ist zunächst das Ver-
dienst eines französischen und eines deutschen Gelehrten, die sich
diesmal so in die Arbeit theilten, dass jener unserer Disciphn den
Stoff, dieser ihr die Form gab. Richard Simon, Priester und Mit-
glied des Oratoriums, hat zuerst zwischen alt- und neutest. Stoffen
geschieden. Nachdem 1678 die Bearbeitung der ersteren vollendet
war, erschienen unter dem gleichen bezeichnenden Titel „Histoire
critique" die 3 dem anderen Theile der Bibel gewidmeten Werke,
von welchen die beiden ersten (H. c. du texte du Nouveau Testa-
ment 1689 und H. c. des versions du NT 1690) später mit Nach-
trägen versehen (Nouvelles observations sur le texte et les versions
du NT 1695) und von Cramer ins Deutsche ĂĽbersetzt wurden
(R. Simon's Kritische Schriften über das NT, 3 Bde, 1776—80).
Nicht unmittelbar hierher gehört sein drittes Werk, das gelehrteste :
H. c. des principaux commentateurs du NT 1693 *). Dieser erste
*) Vgl. A. Bernus, Notice bibliographique sur Richard Simon 1882, S 17 f.
1*
4 Die Einleitung in das Neue Testament.
umfassende Versuch, die gegenwärtige Gestalt des NT aus seiner
bisherigen, bis zum Ursprung hinauf verfolgten Geschichte zu be-
greifen, liefert, ohne auf Erörterungen über Inspiration u. dgl. zu
verzichten, bereits den wesentlichen Inhalt, wie ihn seither die Ein-
leitungswissenschaft zu bearbeiten pflegt. Letztere ist sonach auf
katholischem Boden begrĂĽndet worden. Auch noch Louis Ellies
DU Pin (Dissertation preliminaire ou Proleg omenes sur la Bible,
2 Bde 1699 — das NT behandelt Bd 2) und Augustin Calmet
(Dissertations qui peuvent servir de prolegomenes de l'ecriture sainte
1715, sehr vermehrt 1720, deutsch von Mosheim, 2. Asg 1744),
welche sich corrigirend und bekämpfend an den Bahnbrecher an-
schlössen, überragen an Gelehrsamkeit und Verdienst die gleich-
zeitigen protestantischen Bibelforscher. Unter den Producten der
Letzteren sei die Introductio in lectionem Novi Testamenti des
Lutheraners J. G. Pritius (1704, vermehrt von K. G. Hofmann
1737, zuletzt 1764) nur darum erwähnt, weil seither die jetzt übliche
Bezeichnung der Disciplin gebräuchlicher wird. Definitiv eingeführt
hat sie Johann David Michaelis in Göttingen, dessen „Einleitung
in die göttlichen Schriften des neuen Bundes" bei ihrem ersten Er-
scheinen (1750 einbändig) ganz auf Simon's Leistungen fusst. Erst
mit den späteren geordneteren und selbständigeren Ausgaben (1765
zweibändig, 1777 zum dritten-, 1788 zum viertenmal) beginnt die
Geschichte unserer Disciphn in Deutschland. Trotz aller dogmati-
schen Auseinandersetzungen mit den „Zweiflern" erhält man hier
im Grunde rein literargeschichtliche Untersuchungen; viel mehr als
die Inspiration interessirt den Verfasser die Frage nach der Echt-
heit, viel mehr als die fides divina beschäftigt ihn die fides humana
der Schriften.
4) Ganz in den von Michaelis vorgezeichneten Bahnen, so dass
die Frage nach der Entstehung der einzelnen Schriften in den Vorder-
grund, die bei Richard Simon ĂĽberwiegenden Interessen am Texte
in den Hintergrund treten, gingen einher die Werke von Heinr.
Karl Alex. Hänlein (Handbuch der Einleitung in die Schriften
des NT 1794—1800, 2. Asg 1801— -09, Auszug als „Lehrbuch der
Einleitung" 1802), G. F. Griesinger (Einleitung in die Schriften des
neuen Bundes 1799), Johann Ernst Christian Schmidt (Histo-
risch-kritische Einleitung ins NT 1804 — 05, neue Titel-Asgn 1809
und 18), Johann Gottfried Eichhorn (Einleitung in das NT
5 Bde 1804 — 27, von welchen die drei ersten Bde mit oft sehr
subjectiven Hypothesen über die Synoptiker — Bd 1, 2. Afl 1820
— und die übrigen Schriften angefüllt sind, während die beiden
Greschichte und Literatur, Inhalt und Gliederung der Disciplin. 5
letzten die allgemeine Einleitung enthalten). Ein RĂĽckfall war es,
wenn der Erlanger Leonhard Bertholdt in dem plan- und form-
losen Compilatorium „Historisch kritische Einleitung in sämmtliche
kanonische und apokryphische Schriften des A und NT" (1812
bis 19) jĂĽdische und christKche Literatur vermischt behandelte ').
Wenigstens formell im Vortheil befindet sich die Isagoge historico-
critica in libros Novi Foederis sacros von dem Jenaer Heinrich
August Schott (1830). Aber aUe diese BĂĽcher traten zurĂĽck
hinter dem compendiös und präcis gearbeiteten „Lehrbuch der histo-
risch-kritischen Einleitung in die BĂĽcher des NT" (2. Theil des seit
1817 erschienenen Lehrbuchs der historisch-kritischen Einleitung in
die Bibel A und NT) von Wilhelm Martin Leberecht de Wette
(1826, 5. Asg 1848). Wenn Messner und LĂĽnemann (6. Asg 1860)
den vielfach negativen Charakter der ursprĂĽnglichen Anlage im con-
servativ-kirchlichen Interesse abzuschwächen suchten, so haben sie,
von der dĂĽrftigen Weise der Fortarbeit abgesehen, damit gerade die
charakteristische Seite an der Kritik de Wette's verwischt, welcher
keine Untersuchung weiter führen wollte, als „bis zu dem Punkt, zu
dem irgend welche Umstände berechtigten". An ihn schloss sich
vielfach an Schleiermacher, dessen „Einleitung in das NT" Wolde
aus handschriftlichem Nachlass und mit einem Vorwort von LĂĽcke
herausgegeben hat (Sämmtliche Werke I, 8, 1845). Die specielle
Einleitung beginnt hier nicht mehr mit den Evglien, sondern mit
den Plsbriefen. Wie Matthias Schneckenburger (Beiträge zur
Einleitung in das NT 1832), so schrieb auch Karl August Credner
in Giessen zunächst „Beiträge zur Einleitung in die biblischen
Schriften" (2 Bde 1832 — 38), welchen er aber eine „Einleitung in
das NT" folgen Hess (1836), die auf einem Schleiermacher ver-
^) Solches erscheint nämlich angesichts der massenhaften und so weit aus-
einanderlaufenden Studien, deren Resultate in der alttest. Einleitung hier, in
der neutest. dort zu verarbeiten sind, nur noch zulässig in populären Werken
Die umfangreiche protestantische Literatur, welche in dieser Richtung die „Bi-
belkunde" behandelt, fällt ausserhalb des Bereiches unserer Aufgabe. Nur um
ihres Titels willen mögen hier Erwähnung finden die übrigens durchaus unkri-
tischen Werke von J. R. Huber, Einleitung in die sämmtlichcn Bücher der
h. Schrift 1803, 3. Afl 1840, J. A. Müller, Einleitung in die sämmtlichcn Bücher
der h. Schrift A und NT 1830, P. W. Weber, Kurzgefasste Einleitung in die
h. Schriften A und NT 1863, 5. Afl 1884, A. Witz, Einleitung in die Schriften
A und NT fĂĽr gebildete Bibelfrcunde 1876. Von hervorragenden protestanti-
schen Forschern haben bekanntlich nur noch De Wette, Bleek und ReĂĽss
beide Gebiete umfasst, aber auch getrennt behandelt. Anders freilich L. NoACK,
Die biblische Theologie. Einleitung ins A und NT 1853.
6 Die Einleitung in das Neue Testament.
wandten Standpunkte steht. Doch bietet diese sorgfältige Arbeit
blos die specielle Einleitung, deren Eesultate später im Sinne einer
consequenteren Kritik modificirt auftreten in dem populären Werke
„Das NT nach Zweck, Ursprung und Inhalt" (1841, 43, 47). Viel
weniger brauchbar war die ĂĽbersichtslose Materialien - Sammlung,
welche Neudeckee als „Lehrbuch der historisch-kritischen Einlei-
tung in das NT" (1840) veröffentHchte. Auch Heinrich Ernst
Ferdinand Guericke begann mit (gegen de Wette gerichteten)
„Beiträgen zur historisch -kritischen Einleitung ins NT" (2 Bde
1828 — 31), um eine „Historisch-kritische Einleitung" (1843, 3. Afl
als „NTHche Isagogik" 1868) folgen zu lassen. In dieselbe Zeit reicht
auch die auf nachgelassenen Vorlesungen beruhende, meist recht
weitläufig angelegte „Einleitung in das NT" von Friedrich Bleek
zurück (1862 von Johannes Bleek veröffentlicht, in 3. und 4. Afl
1875 und 1886 von Wilhelm Mangold besorgt und mit belehren-
den Anmerkungen begleitet, welche dem neueren Stand der Kritik
entsprechen, dem älteren Texte aber oft schnurstracks zuwiderlaufen),
während vom Standpunkte der Tübinger If ritik aus Adolf Hilgen-
FELD ein einheitliches, nur in BerĂĽcksichtigung der Literatur und
fremder Standpunkte etwas ungleichmässig verfahrendes Werk als
„Historisch-kritische Einleitung in das NT" (1875) veröffenthcht
hat. Eecht unbedeutend ausgefallen sind die, im Zusammenhang
mit grösseren Unternehmungen aufgetretenen, isagogischen Leistungen
von J. Ch. K. von Hofmann (Die h. Schrift NT Bd 9, heraus-
gegeben von VoLCK 1881) und von L. Schulze (Zöckler's Hand-
buch der theologischen Wissenschaften in encyklopädischer Dar-
stellung I, 1883, S 337 f, 2. Afl 1885, S 383 f). Tabellarische Dar-
stellung hat Hertwig versucht, jedoch nur, um das Unmögliche des
Unternehmens erkennbar zu machen (Tabellen zur Einleitung ins NT
1849, 4. Afl von Hermann Weingarten 1872).
5) Die katholische Kirche hat ihren ersten und zugleich glän-
zendsten Beitrag zur Ausgestaltung unserer Disciphn geleistet in der
„Einleitung in die Schriften des NT" von dem Freiburger Theologen
Johann Leonhard Hug (2 Bde 1808, 3. Asg 1826; nach dem 1846
erfolgten Tode des Verfassers erschien 1847 die 4. Asg). Auf Grund
einer reichhaltigen und selbständigen Durchforschung der altchristl.
Literatur lieferte dieser Gelehrte eine Arbeit, welche ebenso sehr
durch geschmackvolle Darstellung und eine gewisse vornehme Art,
die Gegner zur Ruhe zu verweisen, blendete wie durch wirkhche
Gelehrsamkeit. Alles wird fast spielend behandelt, grosse Schwierig-
keiten erscheinen als Missverständnisse, die sich aufs einfachste lösen.
Geschichte und Literatur, Inhalt und Gliederung der Disciplin. 7
Unbedeutender, wiewohl zuweilen thatsächlich von freierem Urtheil
eingegeben, steht daneben die „Einleitung in die Bücher des NT"
von A. B. Feilmoser (die Asg von 1810 kommt nicht mehr in
Betracht neben der 2. von 1830). Nur in ihrem 1. Theile gehört
hierher die „Einleitung in die heiHgen Schriften des A und NT" von
JoH. Martin Augüstin Scholz (3 Bde 1845 — 48). Gleichmässiger
gearbeitet sind die BĂĽcher des Freiburger Adalbert Maier (Ein-
leitung in die Schriften des NT 1852) und der beiden MĂĽnchener
Franz Xaver Eeithmayr (Einleitung in die kanonischen BĂĽcher
des neuen Bundes 1852) und Daniel Haneberg (Geschichte der
bibhschen Offenbarung als Einleitung in das A und NT 1850, 4. Asg
1876). Schwächere Seitenstücke lieferten Güntner (Introductio in
sacros NT libros 1863) und Danko (Historia revelationis NT 1867).
Der „Grundriss der Einleitung in das NT" von Joseph Langen in
Bonn (1868) ist formell klar, ĂĽbersichtlich und compendiarisch. Der
traditioneU-conservative Standpunkt des "Werkes, welches schliesshch
in eine Darstellung der Inspirationslehre ausläuft, hat ihm die Appro-
bation des erzbischöflichen Capitel-Vicariats von Freiburg eingetragen,
aber erst nachdem der Erzbisthumsverweser die Sätze, in welchen
der Verfasser seine eigene Ansicht vorträgt, gestrichen hatte (vgl.
Bonner Theologisches Literaturblatt 1869, S 782). Nachdem die-
ser aber mittlerweile sich vom Vaticanum losgesagt hatte, wurde
die Approbation der sachhch unveränderten 2. Auflage (1873) ver-
sagt. DafĂĽr hat aus dem Nachlasse des TĂĽbinger Theologen
M. Aberle sein Schüler und Nachfolger Paul Schanz eine „Ein-
leitung in das NT" herausgegeben und dazu das gelehrte Material
nachgehefert (1877) — eine Sammlung von Curiositäten darin allent-
halben nach dem Zweck neutest. Schriftstellerei ausgespäht, regel-
mässig aber auch ein solcher Zweck nur vermittelst ziemlich aben-
teuerlicher und bizarrer Combinationen ausfindig gemacht wird. Eine
neutest. Einleitung steht endlich auch bevor von Franz Kaulen
(Einleitung in die heiHge Schrift A und NT Bd 1, 1876) und dem
Jesuiten B,. Cornely, dessen Vorlesungen zuerst in Maria Laach,
dann zu Rom in universitate pontificia Gregoriana gehalten worden
sind (Historica et critica introductio in utriusque testamenti libros
sacros Bd 1, 1885).
6) Aber auch das Ausland betheiligte sich immer reger an der
Entwicklung der neutest. Kritik. Ins Französische wurde — und
zwar in Genf — zuerst die Einleitung von Michaelis übersetzt durch
Cheneviere (1822), dann das kritisch ĂĽberarbeitete Werk Hug's
durch Cellerier (Essai d'une introduction critique au NT 1823).
3 Die Einleitung in das Neue Testament.
In Nordamerika hat Fkothingham die 5. Asg der Einleitung von
de Wette importirt (1858). In England, wo Wait die Einleitung
Hug's bekannt machte (1827), war lange Zeit das beliebteste Werk
An introduction to the critical study and knowledge of the holy
scriptures von Hörne (3 Bde 1818, 9. Afl 1846). Seine apolo-
getische Eichtung ist noch geschärft in der 10. Afl (4 Bde 1856 — 61,
von welchen der zuerst erschienene Bd 4 die Einleitung in das
NT enthält), bearbeitet durch Tregelles (14. Afl 1877). In der-
selben Richtung laufen unbedeutendere Arbeiten, wie in Amerika
L. A. Sawyer's Introduction to the NT (1879), in England I. Raw-
SON Lumby's Populär introduction to the NT (1883) und E. H.
Plumptre's Introduction to the NT (1883). Viel sachkundiger und
freier trat von Anfang an Samuel Davidson auf, welcher zunächst
Sacred Hermeneutics (1843), eine Are von Geschichte der Schrift-
erklärung, dann Treatise of biblical Criticism (2 Bde 1852, 2. Afl
1855), eine Anleitung zur sog. äusseren Textkritik, ferner The canon
of the Bible (1877, 3. Afl 1880), eine Geschichte der Bildung des
Kanons in Synagoge und Kirche, herausgab. Während seine Intro-
duction to the NT (2 Bde 1848 — 51), schon zum guten Theile auf
deutscher Gelehrsamkeit beruhend, die Kritik der neutest Schriften
noch mit grosser Behutsamkeit anfasste, erschien, nachdem der Ver-
fasser zuvor seine Stellung an dem Collegium der Independenten in
Manchester aufgegeben hatte, als ein ganz neues Werk, vollständig
auf dem Standpunkt der TĂĽbinger Kritik An introduction to the
study of the NT (2 Bde 1868, 2. Afl 1882).
Das GegenstĂĽck zu Davidson leistete der Dubliner Theologe
George Salmon in A historical introduction to the study of the
books of the NT 1885. Hier wird zwischen ,, orthodoxen" und
„skeptischen" oder „rationalistischen" Kritikern unterschieden und
der Beweis dafĂĽr angetreten, dass jene immer Recht, diese immer
Unrecht haben. Auch dem holländischen Seitengänger Davidson's,
J. H. Schölten (Historisch-kritische Inleiding in de Schriften des
Nieuwe Testaments 1853, 2. Afl 1856, auch deutsch), trat der
Kathohk Lamy im Löwen mit einer Introductio in s. scripturas
(2 Bde 1866 — 67) gegenüber. Zugleich machte sich in Grossbritannien
ein Würdenträger der kath. Kirche, der spätere Erzbischof von
Armagh Joseph Dixon, an das Werk der Rettung in A general
introduction to the sacred scriptures (2 Bde 1852), und in
Frankreich schrieben J. B. Glaire (Introduction historique et cri-
tique aux livres de Tancien et du nouveau Testament, 5 Bde 1843,
3. Afl 1861 — 62 — die beiden letzten Bde enthalten die specielle
Geschichte und Literatur, Inhalt und Gliederung der Disciplin. 9
Einleitung in das NT) und Gilly (Precis d'introduction generale
et particuliere ä Fecriture sainte, 3 Bde 1867 — 68). In Italien
wurde Glaire eingefĂĽhrt (Introduzione istorica e critica a'libri del
V. et NT 1846) und schrieb Ubaldi ein Concurrenzwerk (Intro-
ductio in sacram scripturam, 2 Bde 1879).
Die griechische Kirche endlich ist vertreten durch Nikolaus
Damalas, dessen 'Epfxrjvsia et? ttjv xatvYjV ötaO-YJXTjv (Bd 1 ElaaYWYYj st?
TYjv 8p{X7]VÂŁiav laoTYjv 1876) nach Bleek gearbeitet ist und im Uebrigen
etwa dem Stande der deutschen Literatur um 1830 — 40 entspricht.
7) Die Hterarhistorische ĂĽebersicht hat in ihrem bisher ge-
schilderten Verlaufe gezeigt, wie man zu verschiedenen Zeiten Ver-
schiedenes unter „Einleitung" verstand. Waren auch gewisse inte-
grirende Elemente der Disciplin jederzeit vorhanden, so hat doch
die Einleitungswissenschaft ihren eigenthĂĽmlichen Inhalt und Umfang
erst im Laufe der letzten 100 Jahre erhalten, und noch heute wird
darĂĽber gestritten, ob in der ganzen Entwicklung ein formulirbares
Princip zu erkennen, ob der DiscipHn die Einheit eines wissenschaft-
lichen Ganzen zuzuerkennen und wo diese Einheit eventuell zu suchen
sei. Wie de Wette die Disciplin vorfand, so war sie nichts an-
deres als eine Zusammenstellung von allerhand Vorkenntnissen,
welche dazu dienlich erscheinen konnten, die Leser der Bibel histo-
risch zu Orientiren, ein Aggregat blos äusserHch verbundener Stoffe
ohne innerlichen Zusammenhang. Der alttest. Theil seines Lehr-
buchs beginnt daher mit der Erklärung, dass die Einleitung „eines
wahren wissenschaftlichen Princips und nothwendigen Zusammen-
hangs entbehrt". Indessen war der Name Prolegomena schon bei
den Franzosen genannt worden. An die Vorbemerkungen in den
Ausgaben classischer Schriftsteller erinnerte daher Schleiermacher,
um fĂĽr die Einleitung eine angemessene Begrenzung und Ordnung
zu gewinnen. Sie könnte nichts anderes beabsichtigen, als die gegen-
wärtigen Leser in die Stellung der ursprünglichen zurückzuversetzen,
theils vermittelst einer Geschichte der Sammlung und des Textes,
theils vermittelst Untersuchungen ĂĽber die Entstehung der einzelnen
BĂĽcher (S 8). Damit war aber nur die Aufgabe der Kritik be-
schrieben. LĂĽcke bezeichnete daher in der Vorrede (S XII f) die
Kritik des Kanons als die Hauptaufgabe der Einleitung. War
somit die zweite Hälfte des Taufnamens, den ihr ßichard Simon
gegeben, wiederhergestellt, so wurde die andere, die geschichtliche
Seite betont durch Credner, welcher schon 1836 die Einleitung als
Gescliichte des NT bezeichnete (S 2), aber freilich um zunächst nur
eine Untersuchung der einzelnen BĂĽcher in der Ordnung, wie sie
10 Die Einleitung in das Neue Testament.
im Kanon stehen, zu geben und erst in dem Werke von 1841 — 47
eine wirkliche AusfĂĽhrung des Gedankens zu versuchen. Einstweilen
war ihm Eduard Reüss zuvorgekommen, der in seiner „Geschichte
der heihgen Schriften NT" 1842 (5. Afl, 2 Bde 1874) zuerst eine
zusanmienhängende Entwicklungsgeschichte der ganzen Literatur-
gruppe, zu welcher das NT gehört, darbot und darunter auch das-
jenige befasste, was diese Schriften erst als vereinigter Complex, als
einheithches NT erlebt haben. Ein unerschöpfliches Nachschlage-
buch vermöge der reichhaltigen Literaturangaben in den Anmerkungen,
ein fesselndes Lesebuch, was den Text der Paragraphen anlangt,
konnte das Werk, welches neben demjenigen Hug's auf unserem
Gebiete zugleich eine schriftstellerische Kunstleistung darstellt, darauf
Anspruch erheben, eine auch von anderen anerkannte Theorie in die
Wirklichkeit ĂĽbergefĂĽhrt und ein StĂĽck trockener Philologie in ein
lebendiges StĂĽck Kirchengeschichte umgewandelt zu haben (I, S 13).
Nächste Folge dieser VeröffentHchung war eine Abhandlung von
Hermann Hüpfeld „über Begriff und Methode der sog. biblischen
Einleitung" (1844; später auch StKr 1861, S 3 f und Eduard
Riehm ebend. 1862, S 392 f) : die Einleitung sei fortan als Ge-
schichte der biblischen Literatur zu behandeln und unter diesem
Gesichtspunkt bis auf die Gegenwart herabzufĂĽhren.
Fernerhin fand der neue Gedanke nicht blos in der theologischen Encyklopädie,
zumal bei I. F. Räbiger (Theologik 1880, S 269. Zur theologischen Encyklopädie
1882, S 75), W. Grimm (ZwTh 1882, S 21 f) und Otto Zöckler (Handbuch
der theologischen Wissenschaft in encyklopädischer Darstellung I, 1883, S 111,
2. Afl 1885, S 114), sondern auch bei solchen Isagogikern Anerkennung, die
dadurch in Zwiespalt mit ihrer eigenen, die alte Mode befolgenden AusfĂĽhrung
geriethen; so bei Bleek (S 4 f.). Langen (S. 1) und Guericke, der seine .Hi-
storisch-kritische Einleitung in das NT" 1843 zu einer „Gesammtgeschichte des
NT" oder „Isagogik" umarbeitete (1854, 3. Afl 1868); er fand Aufnahme in
Holland durch J. J. Doedes', Abhandlung „über Begriff und Methode der Ein-
leitung in die Schriften des NT." (Jaarboeken voor wetenschappelijke Theologie
1845, S 143 f) und durch M. A. N. Rovers, Schets van de geschiedenis der
nieuw-testamentische letterkunde, 3 Bde 1874 — 76. Besonders erfolgreich ver-
trat Franz Delitzsch in einer Abhandlung „über Begrifi" und Methode der sog.
biblischen und insbesondere der alttestam. Einleitung" (ZPK 28, 1854, S 133 f)
das geschichtliche Princip, forderte aber doch zugleich gegen Hupfeld und Reuss
eine specifisch theologische Behandlung der Sache. Präludirt hatte dieser For-
derung durch Hereinziehen eines apologetischen Momentes schon Andreas
Gottlob Rudelbach: „über den Begriff der Theologie und den der neutestam.
Isagogik" (ZlTh 1848, S 1 f). Als AusfĂĽhrung aber entspricht dem Gedanken
von Delitzsch etwa die „Entwicklungsgeschichte des neutestam. Schriftthums"
von Rudolf Friedrich Grau (2 Bde 1871). Verwirft Theodor Zahn die von
diesem Theologen beliebte Eintheilung mit Recht, so hält sich doch auch seine
eigene Theorie auf derselben Linie (RE, 2. Afl IV, 1879, S 142 f, vgl S 148, 151 f)
Geschichte und Literatur, Inhalt und Gliederung der Disciplin. H
8) In der That erschien auf dem neu beschrittenen Wege jenes
von de Wette constatirte Chaos nicht unerheblich gehchtet, aus
welchem auch Schleiermacher' s Gedanke an Prolegomena noch
keineswegs herausgeführt hatte. Dieser könnte nämlich auf einen
Inbegriff sämmthcher in das Verständniss der Bibel einführenden
Sprach- und Realkenntnisse weisen, so wie z. B. Heinrich Ewald
auch die Hermeneutik herein gezogen wissen wollte (JbW III 1851,
S 199, IV 1852, S 14 f) und Isagogiker wie Hörne, Glaire und
DixON auch biblische Pliilologie, Archäologie, Geographie, kurz den
ganzen Stoff, welcher sonst in den Bible-dictionaries zusammen-
gedrängt erscheint, wirklich in ihren betreffenden Werken behandelt
haben. Nur wenige tragen, wie Hilgenfeld, der Thatsache Rech-
nung, dass über die sprachhchen Verhältnisse des NT die Aus-
legungswissenschaft Auskunft zu ertheilen hat. Kurz, die herge-
brachte „Einleitung" hat, wie Schleiermacher in der „Hermeneutik
und Kritik" selbst bekennt, eigenthch keine Grenzen (SämmtHche
Werke I, 7, 1838, S 36). Sie erscheint als ein weiter, elastischer
Sack, darin Alles zusammengepackt wird, was das NT betrifft, ohne
in der Dogmatik Raum zu finden (I. Sepp, Proeve eener pragma-
tische geschiedenis der Theologie in Nederland, 3. Asg 1869, S 459).
Dem ist jedoch nicht so. Um vielmehr den Umfang des Stoffes
mit bestimmten Linien zu umschreiben, darf man sich nur die Mo-
tive klar machen, aus welchen ausschliesslich die biblische, in un-
serem Falle die Literatur des NT, sei es kritisch, sei es geschicht-
hch, zur Verarbeitung gebracht wird, nicht aber auch die mancherlei
ganz oder fragmentarisch erhaltenen Reste der christl. Urliteratur,
die sich zwischen die zeitHch so weit auseinandertretenden Bestand-
theile des NT hinein schieben oder ĂĽberhaupt als gleichzeitige Er-
scheinungen neben denselben herlaufen. Warum bricht, selbst wo
man solche Literaturreste mit berĂĽcksichtigt, die Darstellung doch
jedenfalls dann ab, wann das am spätesten angesetzte neutest. Buch
absolvirt ist? Darauf kann die Antwort nur lauten: weil diese
Schriften, und eben nur sie, kanonische Schriften geworden sind.
Diesen entscheidenden Punkt erkannte Ferdinand Christian Baur,
als er in seiner Abhandlung über „die Einleitung in das NT als
theologische Wissenschaft" (ThJ 1850, S 463 f, 1851, S 70 f, 222 f,
291 f) unsere Disciplin in der Richtung auf einen einheithchen Be-
griff zu bringen suchte, dass er aus dem Prädicate des Kanonischen,
welches den neutest. Schriften eignet, die Hauptfrage machte. Gegen-
stand der Einleitung sind dieselben nicht wie sie an sich sind, son-
dern mit allen jenen Vorstellungen behaftet, welche sie fĂĽr uns zu
22 Die Einleitung in das Neue Testament.
kanonischen BĂĽchern machen; und Aufgabe der Disciphn ist es,
an diese mit solcherlei AnsprĂĽchen auftretende Literatur den Maass-
stab der historischen Kritik anzulegen. Demnach erscheint die Ein-
leitung als „diejenige Wissenschaft, welche die Entstehung und ur-
sprüngUche Anlage und Beschaffenheit der zum Kanon gehörigen
Schriften zu untersuchen und eine so viel möghch bestimmte und
objectiv begrĂĽndete Vorstellung von denselben zu geben hat" (S 483).
Kanonik heissen ĂĽbrigens StĂĽcke der Einleitung schon bei Zyeo (St Kr
1837, S 706 f), Pelt (Theologische Encyklopädie 1843, S 121 f) und Rudelbach
(S 51 f, 55), die ganze Einleitung erscheint als Lehre vom Ka,non bei Hagen-
bach (Encyklopädie und Methodologie der biblischen Wissenschaften, 11 Afl
1884, S 161), bei Rosenkranz (Encyklopädie der theologischen Wissenschaften,
2. Afl 1845, S 116) und im Grunde auch bei dem an diesen sich anschliessenden
J. Ch. K. von Hofmann, welcher zwar formell an der Stelle der Einleitung eine
Entstehungsgeschichte der biblischen Bücher bietet (Encyklopädie der Theologie
1879, S 118 f, 164 f), dieselbe aber so eng fasst, dass z. B. die Textgeschichte
ihr coordinirt erscheint und eine besondere Wissenschaft vom Kanon abschlies-
send hinzutritt (S 242 f, 252). Da auch Baur nicht leugnet, dass die durchge-
fĂĽhrte Kritik der einzelnen BĂĽcher die Form einer literarhistorischen Darstel-
lung annehmen könne, so haben wir im Grunde hier seine Auffassung, nur unter
der bestimmten Erwartung und Voraussetzung, die z. B. Keil im „Lehrbuch der
historisch-kritischen Einleitung in die Schriften des AT" (3. Afl 1873, S 2) offen
ausspricht, dass nicht in der Abstreifung, wie Baur und in besonders klarer
und umsichtiger AusfĂĽhrung P. W. Schmiedel (EWK, Sect 11, 32, S 309 f, 333 f)
meinen, sondern nur in der Bestätigung des kanonischen Charakters das schliess-
liche Resultat des ganzen Unternehmens liegen mĂĽsse. Aehnlich ist das apolo-
getische Moment verstanden, durch welches nach Ansicht kathol. Isagogiker
imsere Disciplin sich von einer urchristlichen Literaturgeschichte unterscheidet
(Aberle S 2 f ) und mit der Dogmatik verbindet (Kaulen I, S 4 f ). Aber weil
hier die Dogmatik ihre Competenzen geltend macht, geht uns die mit der Ein-
leitungswissenschaft in Zusammenhang gebrachte Frage, „was es um die heilige
Schrift sei", grundsätzlich nichts mehr an (W. Grimm S. 22. Räbiger, Zur theol.
Encyklopädie, S 36).
9) Andererseits gehört die Controverse, ob dem Begriff des
Kanons oder dem Gresichtspunkte der Literaturgeschichte die ent-
scheidende Rolle zufalle, im Grunde in die theologische Encyklopädie,
woselbst sich folgende Alternative aufthut. Da die Theologie eine
Reihe von DiscipHnen, welche der Sache nach in das Gebiet der
Geschichte, der Philosophie, der Philologie gehören, von dem Gesichts-
punkte kirchlicher Zwecke aus mit einander verbindet und um einen
gemeinsamen Mittelpunkt gruppirt, so wird die eigenthĂĽmlich praktisch
motivirte Association verschieden gearteter Fächer, auf welchen der
ganze Lehr- und Lernbetrieb der theologischen Fakultät beruht,
auch wieder in jedem einzelnen Falle sich geltend machen, d. h. es
wird bei jeder einzelnen Disciplin die gleiche MögUcbkeit bestehen,
Geschichte und Literatur, Inhalt und Grliederung der Disciplin. I3
sie entweder unter dem specifisch theologischen Gesichtspunkt oder
aber so zu betrachten, wie sie sich auf einem aUgemeineren Stand-
punkte darstellt. Dort befolgen die einzelnen Disciplinen convergirende
Richtungen, hier Hegen sie disparat nebeneinander. Als Grlied des
Organismus der theologischen Wissenschaften ist die bibhsche Ein-
leitung allerdings nur vom Begriffe des Kanons aus zu begreifen,
nur in ihm findet sie ihre innere Einheit. Als Glied in dem
Gesammt Organismus der Wissenschaften betrachtet, erscheint sie als
ein besonderer Abschnitt der allgemeinen Literaturgeschichte, d. h.
als Geschichte der hebräischen Nationalhteratur auf der einen, als
Geschichte der urchristlichen Literatur auf der anderen Seite. So
gut auch der Welthistoriker von Jesus und Paulus reden wird, so
gewiss wird eine Darstellung der griechich-römischen Weltliteratur
auch die Literatur des christlichen Alterthums mit umfassen. Wo
dieser Standpunkt als der allein berechtigte gilt, die dogmatischen
Begriffe des Kanons und des NT daher keinerlei Wirkung aus-
ĂĽben dĂĽrfen, da wird man daher auch mit W. C. van Manen darauf
dringen, dass Name und Begriff der „Einleitung" aus der wissen-
schaftlichen Sprache und Praxis verbannt werden (De leerstoel der
oud-christelijke letterkunde 1885). Andere Consequenzen aber er-
geben sich aus der Anerkennung der Thatsache theologischer Fach-
studien. So gut wie specifisch theologische Interessen auf eine Dar-
stellung des religiösen Bewusstseins des Meisters und der Apostel
im gemeinsamen Rahmen der sog. biblischen Theologie gefĂĽhrt haben,
so fĂĽhren sie auch auf eine nicht blos gelegentlich, sondern ex
professo gefĂĽhrte Untersuchung ĂĽber Entstehung, Zweck und Sinn
theils der ganzen Sammlung, theils ihrer einzelnen Bestandtheile
d. h. der Schriften, welche schon die alte Kirche kanonisirt hat,
um darin einen legitimen Geburtsschein fĂĽr die eigene Existenz auf-
zuweisen, aus welchen aber auch noch jedwede Theologie der Gegen-
wart allein zu erheben vermag, was von Christus gedacht und gewollt,
von den Aposteln gepredigt, von den Generationen des Christenthums
geglaubt worden ist. Dass wir aus dem grösseren Umfange altchristl.
Literatur (vgl. unten S 94) gerade nur diese 27 Schriften zum Gegen-
stande von Forschungen machen, welche eine eigene Disciplin fĂĽllen,
hat seine Ursache lediglich in dem dogmatischen Begriffe, welcher
sowohl den leitenden Gedanken bei ihrer ersten Sammlung, als auch
das Motiv für jenes gesteigerte Interesse enthält, welches Theologie und
Gemeinde ihnen von jeher, zumal innerhalb des Protestantismus,
gewidmet haben (vgl. Ritschl JdTh 1876, S 316 f. Ebenso L. Schulze
bei ZöCKLER I, 2. Afl S 384). „Einleitung" heisst „die historisch-
14 I^e Einleitung in das Neue Testament.
kritische Wissenschaft von der Entstehung der biblischen BĂĽcher und
ihrer Sammlung zum Kanon" (Hagenbach S.163). „Sie verhält sich
zur Geschichte der folgenden christl. Literatur ähnlich wie die NThche
Theologie zu der ĂĽbrigen Dogmengeschichte oder wie die Geschichte
Christi und der Apostel zu der ĂĽbrigen Kirchengeschichte" (Bleek S 5).
Im gegenwärtigen Falle handelt es sich um ein Lehrbuch für Zwecke des
theologischen Studiums, und zwar um ein solches, welches nur ein Glied in einem
Cyklus bildet. Damit ist jede Wahl ausgeschlossen. Nur der schulmässig theo-
logische Maassstab lässt uns solche Grenzbestimmungen gewinnen, innerhalb
welcher die sog. Einleitung herkömmlicher Weise das gegen andere abgegrenzte
Gebiet ihrer Arbeit sieht. Wer dagegen die Anfangsperiode der christl. Lite-
raturgeschichte zur Darstellung bringen wollte, der könnte hiefür nur a potiore
den Titel „Geschichte der neutest. Literatur" wählen, ja er könnte auch eine
solche Literaturgeschichte nicht schreiben, ohne zugleich eine Geschichte des
apostolischen und nachapostolischen Zeitalters zu geben. Wir aber dĂĽrfen weder
dem kirchen- noch dem dogmen- geschichtlichen Seitengänger vorgreifen. Nur
sofern der Begriff des Kanonischen selbst eine gewisse NebenrĂĽcksicht auf das
Apokryphische bedingt, werden gleichzeitige Literaturprodukte gelegentlich oder
anhangsweise zur Sprache kommen. Es bleibt somit bei dem seit Schmidt,
Bertholdt, Neudecker und de Wette ĂĽblichen, auch noch von Hilgenfeld
beibehaltenen Titel „Historisch - kritische Einleitung". Unter demselben Aus-
hängeschild erscheint das betreffende CoUegium in der Regel auf den Vorlesungs-
katalogen; mit Recht, sofern auch hier das Interesse der Abgrenzung gegen
benachbarte Gebiete maassgebend ist. Damit soll natĂĽrlich nicht in Abrede
gestellt sein, dass das den Einleitungsdisciplinen eignende Material je länger je
mehr unter einen Gesichtspunkt rĂĽcken wird, kraft dessen es zuletzt als natur-
wĂĽchsiger Zweig am Baume der Literaturgeschichte erscheinen wird. Die Skizze,
welche das erste Kapitel der unten zu gebenden Geschichte des Kanons aus-
fĂĽllen wird, liegt selbst in dieser Richtung. Aber sie kann die betreffende Ent-
wickelung selbstverständlich nur so darstellen, wie es die Ergebnisse der gepflo-
genen Detailuntersuchungen fordern. Auf diese also kommt es schliesslich an.
Die erheblichen Abweichungen derselben von anderen Versuchen, die dem gleichen
Gegenstande gelten, dĂĽrften geeignet sein, das oft erhobene Bedenken zu be-
grĂĽnden, welches gegen das Unternehmen, die brĂĽchige Schale der bisherigen
Disciplin definitiv zu sprengen, aus der Unfertigkeit der vorbereitenden Unter-
suchungen erhoben wurde (J. G. MĂĽller RE, 1. Afl III, 1855, S 738. Kamphausen
in Bleek's Einleitung in das AT, 3. Afl 1870, S 3 f). „Fast nur Probleme und
fast nirgends feststehende, wenigstens nirgends allseitig zugestandene Resultate"
(Wagknmann JdTh 1872, S 552) — so lange solche Urtheile mit Fug gefällt
werden können, so lange wird es von dringlichstem Interesse sein, sich den
Stand der Acten des Prozesses in jedem einzelnen Fall gegenwärtig zu erhalten.
Eine fortlaufende Geschichte kann nur Resultate mit gelegentlichem Hinblick
auf ihre Entstehungsweise und Herkunft vortragen. Ein Lehrbuch der neutest.
Einleitung muss vor Allem den kritischen Prozess, wie und soweit er sich an
jedem einzelnen Buche bisher vollzogen hat, zur objectiven Anschauung bringen;
es muss zeigen, wie weit die kritische Methode sich zur Stunde an den einzelnen
Elementen der Sammlung bewährt hat.
Geschichte und Literatur, Inhalt und Gliederung der Disciplin. 15
10) Der Begriff des neutest. Kanons beruht auf einer eigen-
thĂĽmlichen Combination der historischen Frage nach dem aposto-
Hschen UrsprĂĽnge gewisser Schriften und der dogmatischen nach
der Inspiration und dem damit begründeten götthchen Charakter
derselben Schriften. Die letztere Frage ist gestellt auf Grund von
reHgiösen Postulaten, die uns hier nichts angehen; die erstere ist
zu beantworten auf Grund von Wahrnehmungen, die an einem
historischen Material von bestimmt begrenztem Umfange zu machen
sind. Eben dies nun, und nur dies, ist Sache unserer Disciplin;
sie soll auf denjenigen Theil der altchristl. Literatur, welchem durch
den Begriff des Kanonischen die besondere Werthschätzung einer
klassischen Literatur des Christ enthums zu Theil geworden ist, jene
Gesetze der Hterarhistorischen Kritik anwenden, welchen die be-
treffenden BĂĽcher als schriftstellerische Producte jedenfalls unter-
liegen — unbekümmert um die weitere Frage, ob Bestätigung, ob
Antiquirung, ob Modification des Dogmas vom Kanon das Resultat
einer solchen Subsumtion unter die allgemeine Kategorie Hterarischen
Werdens bilden müsse. Darin allein besteht nämlich die theologische
Etikette, welche an der biblischen Einleitungswissenschaft bei unserer
Fassung hängen bleibt, dass derselbe dogmatisch construirte Begriff,
welcher Veranlassung zu ihrer Entstehung gegeben hat, auch durch
den Befund ihrer Ergebnisse betroffen erscheint: der Begriff des
Kanonischen. Ein über dieses selbstverständHche und unabweisbare
Maass hinausgehendes „Bedürfniss, ein engere Verbindung zwischen
unserer Wissenschaft und der Dogmatik herzustellen" (ReĂĽss I, S 14),
kennen auch wir nicht (vgl. Kamphausen S 5).
Unsere Aufgabe heisst Geschichte des Kanons, nicht der Lehre
vom Kanon. In letzterer Beziehung genĂĽgen zur Orientirung wenige
Bemerkungen. Die Orthodoxie Hebt es, die Lehre von der Schrift
in Parallele mit der Christologie zu setzen (vgl. z. B. AugĂĽsti,
Versuch einer historisch-dogmatischen Einleitung in die h. Schrift
1832, S 98 f), uijd es kann ja auch darĂĽber kein Zweifel bestehen,
dass die Lehre vom Kanon ein Schriftideal im Auge hat, so gut
wie die Lehre von Christus ein persönliches oder die Lehre von
der Kirche ein gesellschaftliches Ideal. Ein Ideal kann folgerichtig
nur in absoluter Vollkommenheit gefasst werden, zumal wo der Begriff
der Idealität durch Bückgang auf göttlichen Ursprung festgestellt
wird. So bedeutet insonderheit der Begriff des Kanons, wie er ge-
schichthch sich darbietet, nichts anderes als das Ideal einer schrift-
Hchen Grundlage der Religion, vermöge welcher die Uebermittelung
göttlicher Wahrheit an menschliches Verständniss unfehlbar be-
\Q Die Einleitung in das Neue Testament,
werkstelligt und gegen alterirende EinflĂĽsse des unsicheren und
schwanken Bodens, darauf letzteres seiner Natur nach sich bewegt,
verwahrt werden soll (vgl. Schmiedel S 333). Der Kirche wenigstens
ist der Kanon nie etwas anderes gewesen als die abgegrenzte Sammlung
von Schriften, darin sie den authentischen, d. h. vom göttlichen
Urheber selbst dargebotenen und beglaubigten Ausdruck der Offen-
barung gefunden hatte. Sie hat mit anderen Worten den Begriff
des Kanons nie gedacht ausser zusammen mit dem Begriffe der
Inspiration (vgl. Pelt S 123 f), auf welchen das mit der ganzen
Weltanschauung der Kirche gegebene Postulat von ĂĽberleitenden
Kanälen führen musste, wodurch die Zufuhr aus der übersinnlichen
in die sinnhche Welt mit absoluter Sicherheit zu erfolgen schien.
Indem wir die Entwickelung des Inspirationsbegriffes, wie es sich gebĂĽhrt,
der Dogmengeschichte ĂĽberlassen, sehen wir dafĂĽr in der Geschichte des Kanons
den Kern der Einleitungsdisciplin. "Wie dieselbe vom Namen und Begriff des
Kanons ausgehen muss, so kann, was dieser Name und Begriff ist, nur resultiren
aus dem richtig erfassten Verlaufe derjenigen kirchengeschichtlichen Vorgänge
und Entwickelungen , Gegensätze und Ausgleichungen, welche zu der ersten
Bildung einer solchen Sammlung und zuletzt zu einem allseitig anerkannten Ab-
schluss derselben gefĂĽhrt haben.
11) Warum -stellen wir der Geschichte des Kanons eine Ge-
schichte des Textes zur Seite? Nicht ohne Grund verweist man
(z. B. Zahn S 155) dieses ganze Kapitel theils in die Prolegomena
zu den kritischen Ausgaben, theils in besondere BĂĽcher, wie u. A.
Scrivener und Schaff solche geschrieben haben (vgl. unten S 82 f).
Indessen wurde bereits bemerkt, dass der geschichtliche Begriff des
Kanonischen zusammenfällt mit der theologischen Vorstellung eines
inspirirten, d. h. also jedenfalls eines solchen Textes, welchem denk-
barste Vorkommenheit von Haus aus zukommt. Nur in seinem
ursprĂĽngHchsten Wortlaut ist er ganz was er sein will. Sobald die
neutest. Schriften kanonisirt sind, begegnen wir daher auch der Be-
hauptung einer truglosen Aufbewahrung derselben seit der Apostel
Tagen (Irenaeus IV, 33, 8 quae pervenit usque ad nos custoditione
sine fictione scripturarum tractatio plenissima, neque additamentum
neque ablationem recipiens, et lectio sine falsatione). Daher seit
derselben Epoche auch Vorkehrungen getroffen werden, um den ur-
sprĂĽngUchen Wortlaut gegen etwaige Alterationen sicher zu stellen.
Aber dieselbe Geschichte des Textes, welche uns, als nächste Parallele
zur Geschichte des Kanons, ein Wissen um die erwähnten That-
sachen einträgt, weist uns auch eine so gut wie auf jeden Vers sich
erstreckende Mannigfaltigkeit auf, welche durch alle Jahrhunderte
Geschichte und Literatur, Inhalt und Gliederung der Disciplin. 17
des handschriftlich überheferten Textes läuft und in der Periode
des gedruckten Textes erst recht bemerkbar wird. Eine ähnhche
Ueberraschung bietet schon die Geschichte des Kanons, indem sie
uns mit den Ungleichmässigkeiten und Schwankungen bekannt macht,
welche der Bestand der Sammlung bis etwa zum Jahre 400 auf-
weist. Aber an die Stelle des Herganges, wie ursprĂĽnglich Aus-
einanderliegendes sich zusammenfindet, tritt in der Geschichte des
Textes die umgekehrte Erscheinung, dass ursprĂĽnglich Einheitliches
auseinandergeht, und zwar so, dass es sich unserer Beobachtung
nur bereits in einer Mannigfaltigkeit darbietet, die sich keineswegs
etwa blos auf die zufälHge Form erstreckt^). Um so dringhcher
wird die Frage nach der Identität des jetzigen mit dem ursprüng-
hchen Texte für die Lösung des Problems vom Kanon überhaupt.
Als Hülfsmittel, um jene Frage entweder zu lösen oder ihre verhält-
nissmässige Unlösbarkeit festzustellen, stehen uns nun aber zu Ge-
bote: erstens die erhaltenen Handschriften selbst, wozu die patristi-
schen Citate kommen, sofern sie als Fragmente von Handschriften
zu betrachten sind; sodann die alten und unmittelbaren Ueber-
setzungen, sofern aus ihnen ein RĂĽckschluss auf die Gestalt des im
griechischen Original vorliegenden Textdetails gemacht werden darf.
Aber auch im unmittelbaren Interesse der Geschichte des Kanons
selbst kann auf diese Bestandtheile der Einleitung nicht Verzicht
geleistet werden, sofern nicht einzelne BĂĽcher abgeschrieben oder
ĂĽbersetzt wurden, sondern die Sammlung der neutest. Schriften oder
doch wenigstens grössere Theile dieser Sammlung; einzelne Hand-
schriften stellen daher wichtige Dokumente fĂĽr Umfang und An-
ordnung des Kanons zur Zeit ihrer Entstehung dar, wie andererseits
auch einige Uebersetzungen in eine Zeit hinauf reichen, da der
Kanon noch im Werden begriffen war ; sie liefern fĂĽr diese dunkelste
Periode um so bedeutungsvollere Zeugnisse, als sie nicht Individuen,
sondern Kirchen repräsentiren.
Gegen die Stellung, welche nach dieser Construction die Geschichte der
Uebersetzungen einnimmt, wendet man ein, es werde dadurch die Meinung be-
gĂĽnstigt, die Kenntniss der armenischen Bibel sei wichtiger, als diejenige der
lutherischen (Reuss, Vorrede zur 4. Afl S X f). Doch handelt es sich hier um
^) Tischendorf, Wann wurden unsere Evangelien verfasst? 4. Afl S 122:
„Beschränkt sich auch diese Mannigfaltigkeit an vielen Tausenden von Stellen
auf den blosen fĂĽr den Sinn gleichgiltigen Ausdruck und auf grammatische Formen,
so ist doch auch die Zahl derjenigen Stellen sehr erheblich, wo es sich um ge-
wichtigere Verschiedenheiten in der Darstellung handelt, ja selbst solche fehlen
keineswegs, die von historischem und dogmatischem Belange sind."
Iloltzniann, Kinleitung. 2. Auflage. O
\Q Die Einleitung in das Neue Testament.
den bestimmten Gesichtspunkt, welcher ĂĽber die Frage nach der Wichtigkeit
entscheidet. Eine Geschichte der Uebersetzungen in der Richtung, welche man
im Auge hat (vgl. 6. Afl II, S 168), streben schon Isagogiker wie Michaelis
und Eichhorn an und vor ihnen Richard Simon, sofern er ältere und neuere
Uebersetzungen „als Zeugnisse für die Ausbreitung des Gebrauches des NT
unter den verschiedenen Völkern behandelt" (Bleek, Einleitung in das NT S 16).
Daher fallen jetzt nicht etwa blos die lutherische BibelĂĽbersetzung, sondern auch
die verschiedenen Resultate der BemĂĽhungen der Missionen und Bibelgesell-
schaften innerhalb des Bereiches einer so orientirten Darstellung. So interessant
und belangreich dieselbe aber an sich ist, so zielt sie doch anderswohin als
unsere Wissenschaft, wofern nämlich letztere die historische Kritik der kano-
nischen Schriften und sonst nichts als ihre Aufgabe betrachtet^). Will man aber
der Disciplin wirklich eine Ausdehnung geben, vermöge welcher sie die historische
Kritik sowohl der alt- als der neutest. Literatur und ausserdem noch die Ge-
schichte der Bibel in ihrem vollen Umfange, also Geschichte der Auslegung,
des Gebrauches, der Uebersetzungen etc. in sich schliesst, so ĂĽberschreitet man
damit wenigstens das Maass einer in bestimmtem Zeitrahmen zu bewältigenden
theologischen Disciplin^). Neben einem so weitschichtigen Stoff — man denke
an Diestel's „Geschichte des AT in der christlichen Kirche" 1869 — könnte
eine methodische Kritik der einzelnen Schriften kaum mehr zu ihrem vollen
Rechte kommen. Und doch ist sie es gerade, die man hier vor Allem geĂĽbt
zu sehen erwartet und nur zu grossem Schaden der Sache zuweilen nebenbei
und obenhin geĂĽbt sieht (vgl. hierĂĽber Kamphausen S 4).
Es sind daher in gleicher Weise praktische wie theoretische GrĂĽnde,
welche darauf fĂĽhren, bezĂĽglich des Umfanges wie der Eintheilung unserer
Disciplin denjenigen theologischen Gesichtspunkt obwalten zu lassen, unter dessen
Zugrundelegung sich Alles einfacher zurechtstellt und nur solcher Stoff herein-
fällt, dem man eben in diesem Fache zu begegnen gewohnt ist, während er
nicht zugleich auch in anderen Disciplinen, wie z. B. die lutherische BibelĂĽber-
setzung in der Kirchen- und in der Literaturgeschichte eine Rolle (vielleicht
ersten Ranges) spielt.
Handschriften, Citate, Uebersetzungen bilden zusammen den
sog. Apparatus criticus, worunter man das gesammte Material ver-
•) Auch Räbiger (PrK 1870, S 533 f), wiewohl er die traditionelle biblische
Einleitung als eine unwissenschaftliche Missbildung, als ein chaotisches Durch-
einander von blos bibliographischer Färbung verurtheilt, erklärt sich doch in
der Nachfolge von Doedes, Hagenbach, E. Meier u. A. gegen den Versuch, in
eine Geschichte der heiHgen Schriften auch die Geschichte der Uebersetzung,
Auslegung und was sonst auf die Schicksale der Bibel sich bezieht, hinein-
arbeiten zu wollen. „Unserer Ansicht nach wird sich die biblische Literatur-
geschichte eben auf die literaturgeschichtliche Entwicklungszeit der biblischen
Bücher beschränken müssen und aus den übrigen exegetischen Disciplinen nur
das in sich aufnehmen dĂĽrfen, was in den Bereich jener Entwicklungszeit hinein-
fällt und über die Literatur derselben Licht zu verbreiten im Stande ist" (S 534,
vgl. Theologik S 266 f 270).
») Zahn S 155: „Mit dem gleichen Recht würde der Darsteller der
griechischen und der römischen Literatur auch die ganze Geschichte der klassischen
Philologie zu seiner Aufgabe zu rechnen haben."
Geschichte und Literatur, Inhalt und Gliederung der Disciplin. 19
steht, womit die Wortkritik (die sog. niedere Kritik) arbeitet. Die
ideale Aufgabe derselben wäre, durch Zurückführung des gangbar
gewordenen Textes auf seine authentische Beschaffenheit den that-
sächlichen Verlust der Urschriften unschädlich zu machen. Aber
bei keinem alten Schriftsteller ist diese Aufgabe in absoluter Weise
zu lösen. Es können also Verderbnisse erkannt, Fehler, Verschlimm-
besserungen und unnütze Schnörkel der Abschreiber entfernt, die
Folgen ihrer Nachlässigkeit und ihres Unverstandes beseitigt, immer
aber nur ein relativ ältester Text gewonnen werden. Auch in dieser
Beziehung theilt das NT genau die Schicksale aller Schriftwerke,
welche Jahrhunderte lang nur durch Abschriften, später durch den
Druck vervielfältigt worden sind. Die Darstellung des kritischen
Apparates muss sich aber zur eigentlichen Textgeschichte ausweiten,
schon weil auf isolirte Betrachtung der einzelnen Stellen kein Urtheil
zu begrĂĽnden ist. Erst vermittelst Kenntnissnahme von den Ge-
schicken, welche der Text in 18 Jahrhunderten durchlaufen hat,
lässt sich grösstmögHche Annäherung an seine ursprünghche Gestalt
erzielen. Der Zeugenwerth der einzelnen Handschriften wird nur
richtig beurtheilt, wo ihr genealogisches Verhältniss , überhaupt die
zeitlichen und örtlichen Entstehungsverhältnisse derselben in Betracht
gezogen sind. An die Geschichte der handschrifthchen Ueberlieferung
schliesst sich ungezwungen diejenige des gedruckten Textes an, die
sich ĂĽbrigens hier, wo das blos bibHographische Interesse zurĂĽcktritt,
nur mit denjenigen Ausgaben befassen kann, welche dazu beigetragen
haben, dem Texte seine heutige Gestalt zu geben, wozu ausser den
Originalausgaben (editiones principes, die nur Handschriften zur Vor-
aussetzung haben) die Recensionen (Umgestaltungen des Textes nach
bestimmten kritischen Grundsätzen), und die Recognitionen (nach
neuen Gesichtspunkten, aber nicht unter Beiziehung neuen Materials
veranstaltete Ausgaben) gehören. Es wird sonach die Geschichte
des gedruckten zugleich als eine Geschichte des recensirten Textes
erscheinen.
12) Die Zweitheilung der Einleitung beruht auf älteren Tradi-
tionen (schon AValtiieu handelt de scriptura 1) in genere 2) in
specie), hat sich aber besonders durch Hug's symmetrische Ver-
theilung des Stoffes auf die 2 Bde seines Werkes empfohlen und
beruht auf der Thatsache, dass ein grosser Theil des Stoffes gleich-
massigen Bezug auf alle einzelnen Schriften hat, sofern dieselben
einen in sich mehr oder weniger abgeschlossenen Theil altchristlicher
Literatur darstellen. Die Behandlung dieser Detailfragen ist mit
gleichem Unrechte bald zum ausschliesslichen Inhalt der Einleitung
2*
2Q Die Einleitung in das Neue Testament.
gemacht (Credner, Neudecker, Davidson, Salmon), bald aus der-
selben als angebliche Domäne der Exegese ausgeschieden worden
(Rudelbach S 54. Räbiger, Theologik S 272). Wenn die specielle
Einleitung die Frage zu beantworten hat, inwiefern jedes einzelne
Buch sein könne, was sie alle zusammen sein wollen (Baur S 309 f
317), so wird dagegen der allgemeine Theil von der ganzen Samm-
lung, ihrer Entstehung und ihren Schicksalen handeln mĂĽssen
(Hagenbach S 161). HerkömmKche Uebung (Michaelis, Hänlein,
Bertholdt, de Wette, Schleiermacher, Reithmayr, GĂĽntner)
ist es, den allgemeinen Theil voranzuschicken, was sich jedenfalls
durch die Erwägung empfiehlt, dass die Zeugnisse über die Ent-
stehung und Geschichte einer einzelnen Schrift erst aus dem Zu-
sammenhang der ganzen Geschichte des Kanons ricHtig beurtheilt
werden können. Zweckmässig ist es auch, Kenntniss von dem all-
gemeinen Verlauf der Kritik, in dessen Darstellung die Kanon-
geschichte ausläuft, bei Besprechung der einzelnen Probleme voraus-
setzen zu dĂĽrfen. Andererseits setzt sich nur aus den Theilresul-
taten, welche bei Untersuchung der einzelnen StĂĽcke gewonnen wur-
den, eine methodisch correct gebildete Anschauung von dem ganzen
Verlauf zusammen, welcher in unserer jetzigen Sammlung sein defi-
nitives Erträgniss abgeworfen hat. Erst aus der Zusammenschau
aller gepflogenen Detailuntersuchungen über die Entstehungsverhält-
nisse der einzelnen Bücher lässt sich überdies ein Bild des Ent-
\Vickelungsganges der altchristl. Literatur gewinnen, wie die geschicht-
liche Behandlung der DiscipHn es erstrebt und wir selbst es wenig-
stens mit dem Anspruch auf vorläufige und bedingungsweise Rich-
tigkeit entwerfen mĂĽssen, wenn die Geschichte des Kanons, die sich
unmittelbar daran anschliesst, nicht in der Luft stehen soll. Inso-
fern hätte die Geschichte des Kanons ihren richtigen Platz hinter
der sog. speciellen Einleitung (so Eichhorn, Schott, Bleek, Langen,
vgl. SchĂĽrer, StKr 1876, S 756).
Wie allenthalben, so hat demgemäss auch auf diesem Gebiete
Wechselwirkung statt. Beide Theile der DiscipUn bedingen sich
gegenseitig. Die hier befolgte Praxis kann sich auf das innere Ver-
hältniss beider Theile berufen, sofern der 2. für die im allgemeinen
Theile gebotene Construction die speciellen Nachweise liefert. Hinter
dem im Grossen und Ganzen fertig dastehenden Bau eröffnen sich
hier noch Einblicke in mannigfach geartetes, auseinanderliegendes
Detail, wo die Arbeit allenthalben noch im Gange ist und der Be-
trachtung sich vielfach nur unfertiges StĂĽckwerk darbietet.
Allgemeiner Theil.
Geschichte des Textes.
Erstes Kapitel: Von der Ueberlieferung des Textes.
1. Aeltere formale Geschichte des Textes. Neutestamentliches
Schreib- und BĂĽcherwesen.
Die Existenz der paläographischen Wissenschaft ist auf die Studien der
Benedictiner-Congregation Saint-Maur zurĂĽckzufĂĽhren. Das grundlegende Werk
des Bernard de Montfaucon (Palaeographia graeca 1708) befasst sich aber erst
mit gegen 30 Uncialhandschriften, während Tischendorf schon in dieser Be-
ziehung über einen um das Zehnfache vergrösserten Stoff verfügte. Er ist
ĂĽbrigens nicht mehr zur Ausarbeitung des geplanten Werkes gekommen. Um so
dankenswerther sind die Arbeiten von W. Wattenbach, Anleitung zur lateinischen
Paläographie 1865, 3. Afl 1878-, Anleitung zur griechischen Paläographie 1867,
2. Afl 1877; Das Schriftwesen im Mittelalter 1871, 2. Afl 1875-, Schrifttafeln zur
Geschichte der griechischen Schrift 1876, 2. Afl unter dem Titel: Scrii)turae
graecae specimina 1883 •, (und A. v. Velsen) Exempla codicum graecorum litteris
minusculis scriptorum 1878. Ferner Marquardt, Römische Privatalterthümer II,
1867, S 389 f. V. Gardthausen, Griechische Paläographie 1879. Th. Birt, Das
antike Buchwesen in seinem Verhältniss zur Litteratur 1882. E. A. Bond und
E. M. Thompson, The paleographical society, facsimiles of manuscripts and
inscriptious, 12 Bde 1873—82. Vgl HbA S 1400 f.
Gewöhnliches Schreibmaterial war zur Zeit der Entstehung des
NT in Griechenland und Italien schon längst der in Europa einzig
nur bei Syrakus, wo die Araber ihn eingefĂĽhrt haben, vorkommende,
jetzt selbst in Aegypten fast verschwundene Papyrus — 7ra;rüpo<;
oder ĂźoĂźXoc (daher ĂźtĂźXo?). Es gibt griechische Papyrushandschriften,
welche theils in ägyptischen Grabmälern (so besonders drei Reden
des Hyperides), theils auch in einer 79 verschĂĽtteten Villa von Her-
culaneum sich erhalten haben (fast lauter philosophische Betrach-
tungen des Philodemus und anderer Epikureer, 1752 ausgegraben
und theilweise herausgegeben als Herculanensium voluminum quae
supersunt 1793 — 1855, 2. Samml. 1861 f). Der Papyrus ist zwar
dem Verbrennen und Verkolilen leicht ausgesetzt, andererseits aber
24 Geschichte des Textes.
hat die Sitte, nur eine Seite zu beschreiben, und die damit zu-
sammenhängende Gewohnheit, die beschriebene Seite nach innen zu
wickehi, die Zerstörung durch die Lavagluth nicht so vollständig
werden lassen, wie bei modernen BĂĽchern unausbleiblich gewesen
wäre. Nur der Gunst ausserordentlicher Umstände ist es demnach
zu verdanken, wo sich ausnahmsweise einmal Papyrusschriften erhalten
haben. Dieses ungemein vergängHche Material wurde nach Plinius
(Hist. nat. 13, 68 — 89) so bereitet, dass man die schmalen Bast-
streifen, welche sich unter der Einde der Staude befinden, quer ĂĽber-
einander legte und durcheinander zog, das so enstandene Gewebe
mit Nilwasser anfeuchtete, presste und an der Sonne trocknete. Die
5 — 6 Finger breiten und meist 6 — 11 Finger hohen Blätter (nur
Kaiser Claudius Hess sich Papier von 1 — IVa Fuss Höhe machen)
wurden zum Zwecke der Verwendung zu BĂĽchern einen Finger breit
übereinandergelegt und festgeklebt (v-öXX'o Yivsrai zb ßtßXiov). Dabei
wurde stets die rechte Seite des einen Blattes unter die linke des
folgenden gelegt und so ein Streifen von beliebiger Länge gewonnen.
Der rechtsseitige Rand des letzten Blattes wurde dann wiederum
auf einem Stabe festgeklebt und das Ganze um diesen von rechts
nach hnks zusammengerollt. Daher der Name volumen, Band. Der
Knopf oben am Stabe hiess umbihcus, o[jL<paXoc, daher Hbr 10, 7
%Btpakl(; ßtßXtoo, Buchköpfchen, für Eolle.
Während also jedes einzelne Blatt die Gestalt eines stehenden Parallelo-
gramms besass, wie unser Schreibpapier und gleich diesem der Breite nach be-
schrieben wurde, nahm das ganze, aus einer beliebigen Anzahl von Blättern
(oeX'l^s?) bestehende SchriftstĂĽck die Form eines liegenden Parallelogramms an,
welches unter Umständen zu einer kolossalen Grösse wachsen konnte. Daher
die Möglichkeit einer RiesenbuchroUe Apc 18, 5 lv.oXk-i]d"q<zav ahz^ic, a\ djJLaptia'.
aypt Toü o5pavoö (vgl. dazu BmT S 439). Der ein Buch aufrollende (Lc 4, 20)
Leser fasste den Buchstab mit der rechten Hand, zog mit der Linken das Ende,
d. h. die erste Seite der Schrift, dann die zweite u. s. f. hervor, während die
bereits gelesenen Seiten sich zur Linken etwa um ein zweites Stäbchen wieder
zusammenzurollen anfingen, so dass man, in der Mitte stehend, zu beiden Seiten
eine gleiche Rolle hatte. Auf jedem Blatte stand eine Columne, welche von der
nächsten Blattcolumne durch einen Zwischenraum von eines Fingers Breite ge-
trennt war. Auch auf diesen Rand wurden zuweilen noch kurze Notizen gesetzt.
Dies die „querhingeschriebene Randbemerkung" des Atticus (Cic. ad Att. 5, 1
venio ad transversum illum extremae epistolae tuae versiculum). Solche Rand-
bemerkungen konnten von Abschreibern in den Text hineingezogen werden —
ein Umstand, daran Witting (Erläuterungen der Lehrart Pauli 1701) und Wilke
(Neutest. Rhetorik 1843) ihre Textconjecturen anknüpften, während Laurent
(Neutest. Studien 1866, S 17 f) zu gleichem Behufe daran erinnerte, dass auch
Versetzungen von Blättern vorkommen konnten, indem der Leimer die richtige
Ordnung verfehlte.
T. Kap.: Von der Ueberlieferung des Textes. I. Aeltere formale Geschichte. 25
Die NTlichen Schriftsteller haben sich jedenfalls mit dem ge-
meinen Papier begnĂĽgt und nicht zu dem feineren gegriffen, worauf
die vornehme Welt ihre Briefe schrieb (Augusta, Liviana u. s. f.).
In der That wird, neben gelegenthcher Erwähnung der ;riva>tic Lc
1, 63 (aus Wachs, als Notiztafel wie unsere Schieferplatten gebraucht)
und des zu gleichem Gebrauch geeigneten Pergaments 2 Tim 4, 13
(wo auch der Bücherkasten, ^sXövyjc, eigentHch (paLvöXvj?, vorkommt),
der x^-t^'^'H^ = TraTüopo? 2 Joh 12 genannt ; dazu gehört 3 Job 13 der
gleichfalls aus Aegypten kommende Rohrstift (xaXa{ioc, ital. cala-
maio), welcher wie die ihn seit dem 6. Jahrb. allmälig ablösende
Gänsefeder geschnitten und mit einer aus Buss gefertigten Tinte
([x^Xav 2 Cor 3, 3) gefĂĽllt wurde , um die Schrift auf das Papier zu
bringen. Dieselben johanneischen Stellen scheinen ĂĽbrigens mit
ihrer Hindeutung auf Vieles, was noch zu schreiben gewesen wäre,
(wenn nämlich das zu Ende gehende Papier es erlaubt hätte), einen,
Schluss auf die Grosse des gewöhnlichen Briefpapiers zu verstatten ^).
Sicher ist, dass, da die Rollen mit RĂĽcksicht auf verschiedenartige
Grössenverhältnisse der in sie aufzunehmenden Schriftstücke fabrik-
mässig angefertigt wurden, die Schriftsteller bei Disposition ihrer
Stoffe sich den vorhandenen Maassen (modus voluminis) accomodiren
mussten. Dies wohl der Grund, wesshalb Lc und Act zwei fast
gleich lange Bücher bilden, Act 1, 1 richtig Xöyol genannt; denn
mit der Buchtheilung zerfällt der Xö^og (schriftstellerisches Werk)
in einzelne Xöyoi.
Urschriften des NT existiren natĂĽrlich nur in der Legende ; vgl. darĂĽber
HiLGENFELD S 778 f und TiscHENDORF-GrREGORY, Prolcgomena S 185 f. Eine Spur
davon wollte man früher bald bei Ignatius, Philad. 8, 2 (wo übrigens öcp)(_ela,
wenn ĂĽberhaupt so zu lesen, nicht Archive mit Autographen, sondern Urkunden,
schriftliche Zeugnisse bedeuten), bald (so noch Reithmayr S 185) bei Tertullian,
Praescr. haer. 36 entdecken, wo ĂĽbrigens authenticae literae apostolorum ent-
weder den griechischen Text gegenĂĽber dem lateinischen oder eher die echten
Briefe gegenüber den gefälschten bedeuten. Mit den Autographen gingen übrigens
auch verloren die auf den Briefrollen angebrachten Adressen. Denn dass die
jetzigen nicht ursprünglich sein können, geht theils aus ihrer an sich unmöglichen
Form (so Tcpo<; 'EĂźpaioĂĽ?), theils daraus, dass sie eine Sammlung voraussetzen
(z. B. Tzpb<; Kop'.vO-toĂĽ? -i] uptoxYj), theils endlich aus der Differenz dieser Inscrip-
tionen hervor (z. B. 'louSa in K B, wozu A C K fĂĽgen euioToX-fj, L bietet schon
eTttoToX-r) Toö dcYtou aTTooToXoo 'JouSa und P fügt xaO-oXtxY] bei). Uebrigens wäre
das Autograph des Paulus nur am SchlĂĽsse der Briefe zu suchen (1 Cor 16,
21. Col 4, 18. 2 The 3, 17). Seine Freunde scheinen ihm die Dienste geleistet
zu haben, fĂĽr welche es damals tayuYpacpot, notarii, als Sklaven amanuenses
') Nach Rendel Harris (NT autographs 1883) hätten 2 und 3 Joh je 5,
Jud 11, 1 The 32, Jac 38, 1 Joh 41, Gal 47 Papyrusseiten gefĂĽllt.
26 Geschichte des Textes.
genannt gab, denen man dictirte. Daneben existirten xaXXifpa^oi, librarii, Rein-
schreiber. Letztere und die SiopO-wxal, correctores, welche zum Behuf allge-
meiner Lesbarkeit gefertigte Handschriften zu revidiren hatten, sind bei Her-
stellung zwar nicht der Urschriften, aber späterer Abschriften des NT betheiligt
gewesen.
II. Aeltere materiale Geschichte des Textes.
1. Unabsichtliche Aenderungen.
Je grösser die Zahl der Abschriften, in welchen ein alter
Schriftsteller sich erhalten hat, desto grösser natürhch auch die Zahl
der sog. Lesarten. Das NT bietet derselben daher ein Maximum.
Wie es ĂĽberhaupt, was Menge, Alterthum und Mannigfaltigkeit der
Ueberheferungsmittel betrifft, einzig dasteht, so lässt sich auch an
seinem Beispiele die Aufgabe der Textkritik am vollständigsten dar-
legen. Man kann die sog. Varianten oder Lesarten unterscheiden:
1) nach ihrem Umfange (Buchstaben, Wörter, Sätze betreffend);
2) nach ihrer Form (Zusätze , Auslassungen , Versetzungen , Ver-
tauschungen) ; 3) nach ihrer Quelle (Zufall, Nachlässigkeit, Willkür).
Je weiter wir hinaufrĂĽcken in der Geschichte des Textes, um so
mehr darf Einfluss von Nachlässigkeit und Willkür vorausgesetzt
werden. Später dagegen, als der Buchstabe von kanonischem An-
sehen umgeben war, musste auch die TextĂĽberlieferung eine sorg-
fältigere und genauere werden. Doch floss wenigstens Eine Quelle
von Abweichungen auch jetzt noch reichhch genug, sofern es
an Aenderungen von unabsichtlicher Natur, welche aus Irrungen
theils des Auges, theils des Ohres stammen, beim Abschreiben oder
beim Nachschreiben eines Textes nie gefehlt hat.
Verirrungen des Auges sind beispielsweise im Spiele, wenn 1 The 2, 7
nach lY^^*']^"nM'^'^ schon in K B C D vyjtcioi statt ^tccoc (so A E u. s. w.) gelesen,
d. h. beim Mangel der AVortabtheilung der letzte Buchtabe des einen auch als
erster des andern Wortes gefasst wurde. Dahin gehören namentlich alle sog.
Homoioteleuta, wie wenn 2 Cor 6, 5 &xaTaoTaaiai(; oder 1 Joh 2, 23 b bn-oXo-^ihv
xhv ülöv xat xöv izaxipa zyzi ausgelassen wurde. Nachlässigkeit im Auffassen des
Hörens beim Dictiren gab Anlass zu allerhand Verwechslungen (wie xevoi; für
xatvo?, katpot fĂĽr ixepoc, '^ivsot.q fĂĽr '^hvfiQi<;) besonders von itacistischer Art
(von Vocalen und Diphthongen mit annähernd gleichem Laute, die allmalig wie i
gesprochen wurden), wie sie massenhaft vorkommen-, z. B. 4]p,eT(; und 6|xÂŁt?, aoi
und oö, el 8^ und tos etc. So steht Act 11, 26 statt ypiaxtavoo«; in J< )(^pYjaTtavoüc
in B yps'.axiavooc;. Nicht minder häufig sind Gedächtnissfehler, als da sind Ver-
wechslung von Synonymen (z. B. 2 Pe 2, 21 t< A et? xa öutacu avaxa|i.t];at, B C
6itooxpe<pai, Kec. sTTtaxpe^J^ai) und Partikeln (S-fj, ouv, Yap, ^p« u. s. w.), Auslassung
der letzteren, Verwandlung von xat I^m in xotfo), von cdv in av, e^O-eux; in e6d'ĂĽ(;
I. Kap.: Von der Ueberlieferung des Textes, ĂĽ. Aeltere mat. Geschichte. 27
und umgekehrt, orthographische Confusionen (wie wenn Mt 14, 34 Genesaret auf
neunerlei Art geschrieben vorkommt) und Umstellungen, wie wenn Mt 15, 30
^(üXoi, xo<f\oi, xuxpot, v.oWoi in fünferlei Permutationsfällen auftreten, oder wenn
2 Pe 1, 4 i< K L lesen xtjiia -tiiüv v.aX li-i-^ioxa ß ttjxia xal iXE^toxa •rjfxiv, C P
l^i-^ioza xal TtjjLia -J^jj-lv (A ufJtlv), endlich die nur auf Minuskeln beruhende Kecepta
li.i'^ioza YjfAtv xal xifAia. Daneben liegen aber auch IrrthĂĽmer des Verstandes vor,
wo paläographische Abkürzungen falsch aufgelöst wurden. Anerkanntermaassen
stammt 1 Tim 3, 16 die Lesart d-söq aus einer Verwechslung von OS mit 0S,
welches dann als Abbreviatur (0S) gefasst wurde. Ebenso wurde Em 12
11 KĂ– statt mit xĂĽptcp mit xatpĂĽ) wiedergegeben, als stĂĽnde KPĂź.
2. Absichtliche Aenderungen.
Solche können durchaus bona fide angebracht worden sein.
Denkende Abschreiber sind unter Umständen gefährhcher als ge-
dankenlose. Ihnen verdanken wir zahlreiche Emendationen von
gelehrter Natur. Diese sind zunächst oft rein sprachUcher, gramma-
tikalischer Art, und wollen den Ausdruck berichtigen, wie wenn
Mr 8, 2=Mtl5, 32 für •^[xdpat zpsiQ gesetzt wurde i^[ispa? zpBiqj
Mt 8, 28 iX^övTO«; aotoö in IX^övui auTcp umgesetzt oder aber um-
gekehrt verfahren wurde (auf die eine oder andere Weise suchte
man dem folgenden oTĂĽTJvcYjaav aoicj) gerecht zu werden) oder Mr 9, 26
xpdt^a? xal ojrapd^ac um des vorhergehenden 7rv£ö[xa axd^apiov willen
schon von A in xpd^av %al ajuapa^av umgewandelt wurde. Mehr
sachUche Verdeutlichung ist es, wenn Lc 1, 64 nach dvetj))(^7] xb
oz6\LOL auToö Ttal ii Y^waaa aoroö zur Vermeidung eines Zeugmas eXö^Y]
eingesetzt wurde. Bereits eine dogmatische VerdeutHchung ist es,
wenn dem Job 7, 39 absolut stehenden 7rv£ö[j.a (X) bald ocyiov (L),
bald §£8o(j.evov (Itala), bald beides (B) beigefügt wurde. Eben dahin
gehört es auch, wenn Citate wie Mt 15, 8 der Form von LXX
angepasst oder Elemente des einen Evglms in das andere ĂĽbertragen
erscheinen. So ist die Versuchungsgeschichte und das Herrngebet
bei Lc aus Mt ergänzt, umgekelurt Mt 18, 11 aus Lc 19, 10 (welche
Stelle auch 9, 56 antecipirt wurde), Mt 21, 44 aus Lc 20, 18 herĂĽber-
geschrieben worden, während umgekehrt Lc 4, 8 onoL'^e (oTüiao) \lqo)
oaravä aus Mt 4, 10 geflossen ist. Ebenso wurde Mt 27, 35 das
Psalmcitat aus Joh 19, 24 eingeschoben. Besonders bemerkenswerth
ist, weil schon in K B C L (nicht aber A D) vorfindHch, die Ueber-
tragung des Lanzenstiches Joh 19, 34 in den Vers Mt 27, 49. Weil
aber in Folge dieses harmonistischen Versuches sich der AVider-
spruch einstellte, dass Jesus nach Mt vor, nach Joh nach dem Tode
durchstochen wird, ĂĽbte Clemens V. auf dem Vienner Concil 1311
Kritik und verbot den Zusatz bei Mt, so dass auf diesem Punkt
28 Greschichte des Textes.
die späteren Codices correcter wurden. Aber auch Act 26, 14 ist
ĂĽbertragen worden in 9, 5. 6 und 22, 7. 8.
Nie fehlte es auch an Lesern, welche ihre erklärenden Reflexionen dem
Bande ihres Exemplars anvertrauten; von da drangen sie dann auch in den Text
ein als vermeintliche Supplemente oder Verbesserungen. Solcherlei motivirte
Glossen sind leicht erkennbar, wie Mt 5, 11 <]^eu86|XÂŁVot, 5, 22 slx^, Rm 8, 1 [xv]
xaxa capv.a uspiTCatoöaiv d.X\a. naxa TCVpöjJLa, 1 Cor 4, 6 <ppoveTv, 11, 24 xXtujxevov
und 29 avaliu)?. Bei Lc sind der Stellen, die an sich auf Glossen schliessen
Hessen, so viele, dass man entweder Zusätze aus der mündlichen Tradition in
grösserem Maassstabe oder geradezu eine zwiefache Redaction des Werkes an-
nehmen muss. In diesem Zusammenhange sind auch Aenderungen zu erwähnen,
welche homiletischen und liturgischen BedĂĽrfnissen ihren Ursprung verdanken
oder den kirchlichen Sprachgebrauch berĂĽcksichtigen, wie die Doxologie Mt 6,
13, das häufige Amen am Schlüsse von Briefen oder Lesestücken, wie denn die
regelmässigen Vorlesungen im Gottesdienst den Abschreibern reichlichen Anlass
boten zu Verdeutlichungen und AusfĂĽllungen, besonders auch am Anfang der
Perikopen, wo das Subject zu nennen war (häufig Jesus, aber auch Saulus
Act 9, 19). Eine andere Sache ist es um die Frage nach willkĂĽrHchen
Aenderungen von tendenziöser Natur. Solche kamen ohne allen Zweifel vor in
rein apologetischem Interesse. Porphyrius notirt den "Wegfall des lojakim Mt 1,
11, also wird derselbe hereingesetzt ; er bemerkt die falschen Citate aus Jesaja
Mt 13, 35 und Mr 1, 2, also lässt man den Prophetennamen an dem einen
Orte weg (B C D) und am anderen schreibt man statt h x(^ 'Iloata tw 7i:po?p*f]x-Ăź
vielmehr ev tolc; Trpocprjxa'.t; (A E F); er notirt das anstössige ohv. &vaßaw{ü
Joh 7, 8, also ersetzt man es durch outtcd (B L). So kommen noch viele
historische Verbesserungen vor, wie wenn Mt 27, 9 Za)(apiou fĂĽr '^hp^idoo
gesetzt wird. Schon in das Dogmatische greift es hinĂĽber, wenn aus dem
Worte Joh 10, 8 iravts? oooi yjX^-ov irpö I/jloö xXeTCtat stalv xal X-ßoxai viele
Zeugen entweder TzävxBc, oder Tcpö Ijaoö weglassen, um einer naheliegenden dog
matischen Einrede wegen der alttest. Propheten vorzubeugen. Das fĂĽhrt uns
auf die Aenderungen, welche geradezu im Interesse der Orthodoxie oder
Heterodoxie getroffen wurden.
3. Fälschungen.
Katholiken und Häretiker beschuldigen sich im kirchl. Alter-
thum gegenseitig der Fälschung des neutest. Textes. So werden
bei Euseb (KG V, 28, 13 — 17) vom Verfasser des „kleinen Labyrinthes"
die Artemoniden verklagt, sie hätten unter dem Verwände text-
kritischer BemĂĽhungen (Stop^wx^vai) eine grosse Anzahl willkĂĽrlicher
und unter sich selbst diiferirender Lesarten in die Welt gesetzt.
Tatian aber soll die Briefe des Paulus grammatisch verbessert
haben (Euseb. KG- IV, 29, 6), Die Marcioniten und Valentinianer
beschuldigt Origenes (Gels. 2, 27) willkürlicher Veränderungen der
Evglien ((xsta/apaSavtsc;). Aber selbst das ohne Frage eigenmächtige
Verfahren des Marcion, im Literesse seines antiebjonitischen Gnosti-
I. Kap. : Von der Ueberlieferung des Textes, ĂĽ. Aeltere mat. Geschichte. 29
cismus geĂĽbt, unterliegt angesichts der damals allgemein begegnen-
den Praxis einer milderen Beurtheilung (vgl. Reuss I, S 254 f II,
S96f. Westcott, History of the Canon, 5. Afl S 314 f). An
leidenschaftlich ĂĽbertriebenen Beschuldigungen hat es zwar bis in
die neuere Zeit nicht gefehlt. So soll er nach Rinck Eph. 3, 9 Sta
*lT]aoü Xptaioö hinter TtTiaavTt weggelassen haben (vgl. Tertull. Marc.
5, 18), während Schenkel (Die Briefe an die Epheser etc. 1862,
S 45) mit jedenfalls grösserer Wahrscheinlichkeit die Athanasianer
dafür verantwortlich macht. Ebenso erging es den Archihäretikern
aber auch schon im Alterthum. Den jetzt allgemein (mit Ausnahme
von Klostermann, Probleme im Aposteltext 1883, S 47 f, 58) an-
erkannten textus receptus Gal 2, 5 erklärt TertuUian (Marc 5, 3) für
eine von Marcion ausgegangene vitiatio scripturae; er lässt also mit
einigen abendländischen Textzeugen das oi<; ooSs aus, so dass Paulus
sagt, er habe auf einen Augenblick nachgegeben, d. h. dem Ver-
langen der Eiferer in der ürgemeinde sich unterworfen — eine
offenbar im antimarcionitischen Interesse vorgenommene Verkehrung
des Sinnes der Stelle in sein Gegentheil. Allerdings erlaubte sich
Marcion vielfach ganz Aehnhches, indem er z. B. Lc 16, 17 so
modificirte, dass wie der Himmel, so auch das Gesetz und die
Propheten eher vergehen werden, als das Wort des Herrn. Aus
Eph 2, 20 wurden die Propheten, aus Gal 4, 4 das Ysvd{X£vov otuö
yö{iov weggelassen, Rm 8, 12—9, 33. 10, 5—11, 32. 15, 1—16, 27
ganz gestrichen.
In zahlreichen Fällen wurden die Häretiker offenbar mit Unrecht und aus
Unwissenheit angeklagt. So wenn nach Irenäus IV, 6, 1 (nicht aber I, 20, 3)
die Valentinianer Mt 11, 27 gefälscht haben sollen. Aber die angegriffene Lesart
o^oeI? eYvtu Tov iiaxspa tl \i.-r] b olb<; xal tov utöv st }j,yj 6 itax'fjf; findet sich zwei-
mal (II, 6, 1. IV, 6, 3) bei Irenäus selbst, ja noch bei Epiphanius unter 11 Citaten
siebenmal; ebenso bei Justinus (Apol I, 63) und den Homilien (17, 4. 18, 4. 13).
Dieser Text passt jedenfalls in den Zusammenhang, wo vorher steht rcavia jxot
Tcaf.s?öö-q UTcö Toü uatpo? fxoo, folglich um den ttaT-fjp es sich zunächst handelt.
Weil aber die Gnostiker hierauf ihre Lehre vom unbekannten Gott bauten, stellte
man vielleicht die Sätze um und verwandelte im Interesse der Cliristologie den
Aorist in das zeitlose Präsens. So könnte erst um 170 diejenige Lesart ent-
standen sein, welche in alle Handschriften und Uebersetzungen eingedrungen ist.
Andernfalls mĂĽsste man annehmen, der Aorist verdanke der Conformation mit
Tcr/p£Söt)-ri seine Entstehung. Weiterhin beschuldigt TertuUian (De carne Chr. 19)
die Gnostiker, sie hätten zu Gunsten ihres semen arcanum electorum et spiri-
tualium aus o<; l'^svvr^d^ Joh 1, 13, den (auch von Irenäus vertretenen) Plural
0*1 EYEvvfj^aav gemacht. Aber letztere Lesart ist heute allgemein recipirt; die
andere ist ohne jede handschriftliche Gewähr. Nach Ambro sius haben die Arianer
das ohZk b ĂĽlo? hereingebracht (De fide 5, 8 et hoc falsarunt, qui scripturas inter-
polavere divinas). Aber die Worte sind Mr 13, 32 jedenfalls echt und Mt 24, 36
3(3 Geschichte des Textes.
wahrscheinlich den Arianern zum Trotz gestrichen (wiederhergestellt von Tischen-
dorf W. und Hort). Dagegen ist Lc 19, 41 das Weinen Jesu, wie Epiphanius
selbst berichtet (Ancor. 31), ev zolc, öcSiop^toxo'.? äki'^pä^oK; gelesen, von den
Orthodoxen aber aus GrĂĽnden dogmatischer Aengstlichkeit (nach Iren. I, 20, 2
hatten die Marcianer die Stelle missbraucht), gleich der Agonie Lc 22, 43. 44
(vo-l. Hilarius, De trinitate 10, 41), gestrichen worden. Möglich auch, dass der
Mt 1, 25 schon in ^< B Z, ägyptischen und altlateinischen Ueber Setzungen fehlende
Tzpuizoxo-Aoc, , welcher freilich Lc 2, 7 allenthalben stehen blieb, dogmatischen
Tendenzen weichen musste. Haben doch viele Italahandschriften und Cureton's
Syrer nach Mt 1, 16 xöv avSpa Mapla; beseitigt, wie ähnlich auch A und Itala
Lc 2, 33. 43 durch Nennung des Namens Joseph thun. Nach Sokrates (KG 7, 32)
hat Nestorius 1 Joh 4, 3 Xust in [xv] byLoXo^Bl verwandelt; aber auch Cyrill liest
mit seinem Gegner das Richtige.
Somit erscheint höchstens Mt 11, 27= Lc 10, 22 die dogmatische
Reflexion einen dauernden Erfolg errangen zu haben, und zwar zu
einer Zeit, da der Begriff der kanonischen Autorität und die strammere
kirchliche Ordnung noch keinen Schutz boten. Nur damals war
auch Marcions Ausmerzungssystem unbefangen und mit Erfolg zu
üben. Späterhin konnten etwaige Aenderungsversuche der Gnostiker
nicht mehr schaden, abgesehen davon, dass letztere immer weniger in
der Lage waren, die Kirche selbst zu beeinflussen. Die Unternehmungen
ihrer Kritik wurden von der Kirche sorgsamst ĂĽberwacht und gerĂĽgt.
Mehr und mehr tritt daher die Klage über versuchte Verfälschung
hinter derjenigen über falsche Exegese zurück. Aus ähnUchen
GrĂĽnden fielen aber auch, seitdem ein neutest. Kanon sich einmal
constituirt hatte, selbst Aenderungen, die im Interesse der Orthodoxie
vorgenommen wurden, sofort auf und konnten nicht in allen Theilen
der Kirche gleichmässig durchdringen. Zur Orthodoxie selbst
gehörte eben der Respect vor dem überheferten Buchstaben auch
ganz abgesehen von seinem Inhalt. Später wird wohl nur das noch
vorgekommen sein, dass man unter vorhandenen Lesarten die dog-
matisch leichtere und durch patristische Autoritäten empfohlene
vorzog. So erfreuten sich die Orthodoxen Rm 8, 11 der angeblich
£v oXotc TOI? ap*/aioi(; avxiYpd'f oic vorfindlichen Lesart dioL toö 7rv£Ö{xaT0?
(Clem. AI. ^< A C) gegenüber der von den Arianern angerufenen öia
TÖ irv£ö[j,a (Iren. Tert. Orig. Itala, Peschito, BDL). Wahrscheinlich
liegt hier eine sehr alte Differenz in der Auffassung des Sinnes zu
Grunde (HĂĽlsten Jpr Th 1879, S 355 f). Erfolgreiche Aenderungen
sind jedenfalls nur in der dunklen Zeit bis zur Constituirung der
kathol. Kirche denkbar. Seither wurde der Buchstabe des Textes
ängstlich bewacht, wie sclion Irenäus und TertuUian den Beweis
liefern.
L Kap.: Von der Ueberlieferung des Textes. II. Aeltere mat. Geschichte. 31
Nur Eine Fälschung ist nachweisbar über ein Jahrtausend von Einfluss
geblieben. Dieselbe betrifft das sog. Komma Johanneum, d. h. die zwischen
1 Joh 5, 7 oxi xpsl? elotv ol fxotpTüpoövte? und 8 zb 7cv£Ö|xa xal xö 58(op v.al t6 alfi-a
eingeschobenen Worte iv xw oupavö), 6 TraxYjp, 6 Xö-^oi; xal x6 S^tov Ttvsöfxa, xal
ouxoi Ol xpsl? iv slat, xal xpsi? eia'.v ol [Aapxopoüvxs«; £v x"^ -fß- I^^n ersten Anlass
dazu bot Cyprian, in dessen Worten (De ecclesiae unitate 5 dicit dominus : ego
et pater unum sunt, et iterum de patre et filio et spiritu sancto scriptum est:
et tres unum sunt) Augustinus (C. Maximinum 2, 22) und Facundus von Hermiane
(Pro defens. trium cap. 1, 3) richtig eine Deutung der betr. Stelle auf die Trinität
gefunden haben. Aber schon Fulgentius von Ruspe sieht in Cyprian's
Worten ein Zeugniss der hl. Schrift selbst. Der Glaube, dass Cyprian so gelesen
habe, erzeugte die Fälschung, wie sie zuerst im Speculum Augustini und in den
Freisinger Fragmenten der Itala zum Vorschein kommt, nachdem Vigilius von
Tapsus (d. h. der Autor contra Varimadum) vorangegangen war. Der Zusatz
stammt somit jedenfalls aus der nordafrikanischen Kirche, ist aber von Hiero-
nymus ferne gehalten worden , findet sich darum auch hicht in ĂĽber 50 Hand-
schriften der Vulgata, darunter Cod. Amiatinus, Harlejanus und selbst Fuldensis,
wiewohl in letzterer Handschrift, welche Victor von Capua 541 — 46 schreiben
Hess, bereits eine hieronyraianische Vorrede zu den kathol. Briefen Aufnahme
gefunden hat, welche nur dazu geschrieben wurde, um die neue Lesart zu em-
pfehlen, als durch welche „vor Allem der kathol. Glaube gestärkt und die Eine
göttliche Substanz des Vaters und des Sohnes und des hl. Geistes bewiesen
wird." Der Verfasser dieses Prologus galeatus beging mithin eine Fälschung,
um einer Fälschung Eingang zu verschaffen, und wusste dabei, da er die latei-
nischen Handschriften, welche den Zusatz nicht bieten, gefälschter Uebersetzung
zeiht, nicht einmal, dass die Stelle weder bei irgend einem griechischen Kirchen-
vater noch in irgend einem griechischen Codex vorkommt. Oder wenn er es
wusste, so log er um so dreister. Erst durch die nach La Cava, Toledo und
Demidoff genannten Codices drang der Zusatz allmälig in die Vulgata und von
da aus in die Literatur der griechischen Kirche ein, zuerst in die Uebersetzung
der Acten des Lateranconcils von 1215, zuletzt auch in 2 Minuskeln, den Cod.
Montfortianus, nunc Dublinensis (den Erasmus Britanniens nennt, 1650 Hiomas
Montfort besass und 1854 Dobbin genau verglichen hat) und einen vaticanischen
Graeco - Latinus. Dieser ist aus dem 15. jener erst aus dem Anfang des 16.
Jahrh. ' In der Compluter Ausgabe stammt 1 Joh 5, 7. 8 aus direkter Ueber-
setzung der Vulgata. Erasmus nahm den Zusatz, den er ĂĽbrigens schon in der
2. Asg gelegentlich wie ein kanonisches Schriftwort citirt (S 47 der Vorrede),
erst in seine 3. Asg (1522) auf, ne cui foret ansa calumniandi, und Simon de
Colines (1534) war fĂĽr 200 Jahre der letzte, welcher ihn auszulassen wagte; in
den Luther-Bibeln erscheint er erst seit 1593. Richard Simon und Wetstein
emi)fehlen seine Eliminirung, und neuerdings sind selbst kathol. Ausgaben, wie die
von Scholz (1836), diesem Rathe nachgekommen, nachdem der Berliner Prediger
Pappelbaum schon 1785 (Untersuchung der Ravischen Handschrift des NT) und
1796 (Codicis ms. NT graeci Raviani examen) gezeigt hatte, dass der Codex
des Christian Raue in Upsala, seit 1672 in Berlin, scheinbar eine Uncial-Auto-
rität für 1 Joh 5, 7. 8, aus Complut. und Regia zusammengeschrieben ist.
32
Geschichte des Textes.
Zweites Kapitel: Vom textkritisclieii Apparat.
I. Von den Handschriften.
1. Allgemeines.
Den wichtigsten Bestandtheil des kritischen Apparates, zugleich
die unmittelbarsten und ausgiebigsten Zeugnisse fĂĽr die Geschichte
des Textes, die vollständigsten Quellen für seine v^rhältnissraässig
frĂĽheste Gestalt bieten die erhaltenen Handschriften. Kein griechisches
Sprachproduct kann sich so massenhafter Vervielfältigung schon vor
der Periode der Buchdruckerkunst rĂĽhmen; ĂĽberdies reichen die
neutest. Manuscripte bis in eine Zeit hinauf, aus welcher von ander-
weitiger Literatur zumeist nur vereinzelte BruchstĂĽcke auf uns ge-
kommen sind. "Wir besitzen dermalen gegen 90 Uncialhandschriften,
von welchen zwei Drittel den Evglien gelten; Cursivhandschriften
etwa 1000, wozu noch etwa 400 Lectionarien kommen, so dass der
Stoff, daran sich der Scharfsinn der Textkritik zu ĂĽben hat, ein
sehr umfangreicher und noch lange nicht ausgebeuteter ist. Doch
gilt hier, wenn irgendwo, das non multa, sed multum. Ein nach
quantitativem Maassstab unzweideutiger Thatbestand kann sich so-
fort in sein Gegentheil verkehren, wo der Werth der Manuscripte
nach der GĂĽte des Originals, nach der Treue des Abschreibers,
nach dem Umfang des Textes u. s. w., hauptsächhch aber nach dem
Alter bestimmt wird, sofern fĂĽglich anzunehmen ist, dass Docu-
mente, die nur wenige Jahrhunderte von der ersten Niederschrift
abHegen, den Text der Originale treuer bewahrt haben mĂĽssen, als
spätere Abschriften.
Am häufigsten nach den Evglien schrieb man die Plsbriefe ab, bald allein,
bald mit jenen, bald mit Act verbunden. Seltener noch als von den kathol.
Briefen finden sich Manuscripte von Apc. Uncialhandschriften, welche das ganze
NT enthalten (ausserdem ist dies noch in etwa 30 Cursiven der Fall), bringen
es zugleich im AnschlĂĽsse an LXX. Aber nur K bietet jetzt noch den voll-
ständigen Text des NT. A und B dagegen, ganz besonders C weisen grosse
Lücken auf, so dass ganze Bücher fehlen. Spätere Trennung ursprünglich zu-
sammengehöriger Hefte hat auch sonst mancherlei derartige Ausfälle verschuldet.
Viele ĂĽncialmanuscripte enthalten ĂĽberhaupt nur Fragmente. Vgl die Synopse
des NT, wie es sich auf die bekannten alten Handschriften vertheilt, in Biblio-
thcca Sacra XXXII, 1876, S 209 f.
Auch die Reihenfolge der BĂĽcher ist nicht immer die gleiche geblieben,
wie die Geschichte des Kanons ausweist. Allenthalben aber stehen die Evglien
voran und maclit (nämlich in den Handschriften, anders in Verzeichnissen wie
IL Kap.: Vom textkritischen Apparat. I. Von den Handschriften. 33
Can. Ciarom. oder Indic. Afric.) Apc den Schluss, es sei denn, dass noch andere
BĂĽcher folgen, wie Barn, und Herrn, in J< oder die Clemensbriefe in A.
Freilich reichen in das 4. oder 5. Jahrh. nur wenige Handschriften hinauf;
aber gerade dies sind die auch ihrem Umfange nach werthvoUsten (J<ABC),
wenngleich der Text auch hier alle Arten der aufzuzählenden Verderbnisse
aufweist. Die gute Hälfte der Uncialen fällt erst in das 8. — 10. Jahrhundert.
Sehr viele Handschriften gehören mehreren Zeitaltern an, indem sie durch die
Hände verschiedener Correctoren gegangen sind, welche Vergleichungen mit
andern Exemplaren anstellten. Daher in den Ausgaben die Zeichen — ^ q^^j.
— b (von 2. Hand) u. s. w. Die Handschriften bieten auch Abbreviaturen, häufige
Bezeichnungen falscher Wörter, Ueberschreibungen und Rasuren. Am Rande
sind Lectiones, Capitula, Ammonianische Abschnitte und Eusebianische Canones
angegeben; die einzelnen BĂĽcher haben lieber- und Unterschriften, Inhaltsan-
zeigeu, historische Bemerkungen ĂĽber Pls und andere Verfasser, ĂĽber Alter,
Schreiber, Besitzer der Handschriften: viele enthalten auch Scholien; je mehr
derartige Zuthaten sie aufweist, desto weniger macht die betreĂ–ende Handschrift
Anspruch auf hohes Alterthum.
2. Stoffe.
Wie in Aegypten auf Papyrus, so schrieb man in Asien auf
Thierhäute (ötfp^spai). Die zwischen der alexandrinischen und per-
gamenischen Bibliothek bestehende Concurrenz gab Anlass zur Her-
stellung eines besonders brauchbaren Stoffes in Pergamon (charta
Pergamena, membrana). Scheint das alexandrinische Material auch
wohlfeiler gewesen zu sein, so war das Pergament dafiir auf beiden
Seiten zu beschreiben und namentlich dauerhafter. Schon längst zu
Privatzwecken im Grebrauch, fing es seit dem 4. Jahrh. auch an,
an Stelle des Papyrus zu Bibelhandschriften verwendet zu werden,
und schon am Ende dieses Jahrhunderts wissen kirchliche Rhetoren
wie Chrysostomus (Hom. 31 in Joh) und Hieronymus (Praef. in
Job) von einem frommen Luxus zu erzählen, der damit getrieben
werde. Von dieser Art Hess Konstantin 50 Bibelhandschriften fĂĽr
die Kirchen in Konstantinopel fertigen (Euseb. Vita Const. 4, 36).
Schon der Papyrus wurde zuweilen, das Pergament in der Regel
gefaltet. Die unbequemen Rollen verwandelten sich so in Hefte,
die zu Bänden vereinigt wurden. So war bequeme Ausnutzung beider
Blattseiten ermöglicht. Zuweilen wurde die Papyrusschrift aus Gründen
der Sparsamkeit wieder abgewaschen; die Kostbarkeit des Perga-
ments aber begĂĽnstigte das massenhafte Vorkommen des Palimpsestes.
Nur genĂĽgte jetzt das Waschen nicht mehr, man musste abschaben
(rädere). So fand man neuerdings oft unter patristischen, legendari-
schen etc. Texten einen ausgewischten biblischen (Codices rescripti,
wie besonders C). In der Regel ist der letztere nur mit HĂĽlfe von
chemischen Reagentien wieder ans Licht zu fördern gewesen. Seit
Hol tzm ann , Einleitung. 2. Auflage o
34 Geschichte des Textes.
dem 9. Jahrh. schrieb man nur noch besonders werthgeschätzte
BĂĽcher auf Pergament. Dagegen war aus China, wo seit uralter
Zeit Papier im Gebrauch war, dieser Stoff allmähHg nach Westen
vorgedrungen. Seit der Eroberung von Samarkand 704 bedienten
sich die Araber desselben, und im Verlaufe der KreuzzĂĽge lernte
ihn auch das Abendland schätzen und brauchen. Daher existiren
neutest. Handschriften der Reihe nach auf Papyrus (so blos Frag-
mente von 1 Cor 6 und 7, seit 1867, und ein StĂĽck mit Lc 6,
36 — 44. 10, 18 — 42, seit 1883 bekannt, jenes mit Uncial-, dieses mit
Minuskelschrift; ausserdem ein kleines StĂĽck, im Wesenthchen mit
Mt 26, 30—34 = Mc 14, 26—30 stimmend, unter den Handschriften
von Faijum im österreichischen Museum), auf Pergament (vornämlich
die Uncialhandschriften) und auf Baumwollen- und bald darauf auch
auf Leinenpapier (die meisten Minuskeln).
3. Schriftarten.
Ein 2. Kriterium des Alters der Handschriften bilden die
Schriftarten. Aus der älteren steifen Capitalschrift hatte sich die
Uncialschrift herausgebildet (literae unciales, eigentlich von der Grösse
eines Zolles), Buchstaben malend neben Buchstaben, jeden aufrecht
innerhalb der Grenzen eines Quadrats oder Kreises. Eine schlankere,
mehr spitzbogenartige Form macht sich daneben schon frĂĽhe wenig-
stens für allerhand Beigaben zum Texte bemerkhch und verdrängt
im 8. und 9. Jahrh. die ältere Schrift, aber nur um den Sieg der
Cursivschrift vorzubereiten. Letztere diente schon längst den Be-
dürfnissen des täghchen Lebens; jetzt näherte sich ihr die mit der
Zeit kleiner und feiner werdende uncialschrift. Seit dem 7. und 8.
Jahrh. schon erhalten die Buchstaben immer mehr Neigung nach
rechts, liegende und verbindungsfähigere Gestalt, die Abbreviaturen
häufen sich. Die stiHsirte, strengen Regeln unterworfene Cursiv-
schrift meinen wir mit dem Ausdruck „Minuskelschrift". Seit dem
9. Jahrh. weisen nur noch splendid geschriebene Codices Uncialen
auf. Datirte Uncialschriften, wie die EvgHen-Codices von 949 (S)
und 844 oder 979 (P) und ein Evangehar von 995, schhessen diese
Reihe ab, während die erste datirte Minuskelschrift schon 835 ge-
schrieben ist (EvgUen-Codex in der Bibhothek des Bischofs Porphy-
rius zu Kiew). Mit der Minuskelschrift steht DurchfĂĽhrung der
Worttrennung und der Interpunktion, auch das Iota subscriptum
(vorher in der Regel ausgelassen oder adscriptum) in Verbindung.
Aber nicht blos das Alter, auch die Entstehungsart der Manuscripte ist
an der Form der Buchstaben zu erkennen. Einfache, schöne Züge weisen auf
griechische Abschreiber, während die abendländischen sich durch besondere
IL Kap.: Vom textkritischen Apparat. I. Von den Handschriften. 35
Liebhabereien und ĂĽberflĂĽssige Zuthaten verrathen. Auch Aehnlichkeit der
Buchstaben mit lateinischer oder koptischer Schrift, Rohheit oder GĂĽte der
Bilder dienen als Fingerzeige. Die Anfangsbuchstaben von Abschnitten sind
zuerst nur etwas vorgerückt (K), später werden sie grösser (A), wachsen zu
eigentlichen Initialen heran (alle Uncialen ausser X B), die zuletzt auch Farbe
annehmen, während die übrige Schrift mit schwarzer Tinte aufgetragen ist.
4. Form.
Ein 3. Kriterium der Altersverhältnisse besteht in der Form
der Codices. Sowohl die auf Pergament wie die auf Papier ge-
schriebenen wurden zu Heften zusammengelegt, gewöhnlich von je
16 Blattseiten oder 4 Doppelblättern (Quaterniones, unsern Druck-
bogen entsprechend); aber auch 5 (Quiniones, so B und S) und
später besonders 6 Doppelblätter kommen vor. An die Stelle von
FoHo (^< A C) und Quart (B und beide D) treten im Laufe der
Zeiten kleinere Formate.
Während ursprünglich jede Papyrusseite eine Columne für sich
darstellte, hat man bei der Umsetzung der Schrift auf Pergament
die Abtheilung nur anfangs noch beibehalten. Man brachte 3 (B)
oder 4 {t<), bald aber nur noch 2 Columnen (asXtSs?) auf ein Per-
gamentblatt (A F G L u. s. w.), oder man Hess die Schrift lieber
ganz durchlaufen (C E H K u. s. w.). Auf jene Columnen, nicht
aber auf die Blätterlagen, in welchem Falle auch von Terniones zu
sprechen wäre, scheinen sich die Ausdrücke xptaaa und Tsipaaaa in
der Herstellungsgeschichte der 50 Bibelexemplare bei Euseb. Vita
Const. 4, 37 zu beziehen. Dies wĂĽrde zu den Codices K B passen.
Nicht vor 500 begegnen eigenthche Prachthandschriften wie die Co-
dices N S 4> b e f und der gothische Codex argenteus ; nachher noch
manche EvangelienbĂĽcher, welche zugleich die Uncialschrift bei-
behalten haben; so der mit goldenen Buchstaben auf weissem Per-
gament ausgefĂĽhrte Folioband im Katharinenkloster auf Sinai und
das viel kleinere Purpurevangelistarium der kaiserlichen Bibliothek
zu Wien, beide aus dem 9. Jahrh. Auf keinen Fall älter ist die
angeblich von der (bilderfreundlichen?) Kaiserin Theodora geschrie-
bene Purpurminuskel der Evglien in der kaiserUchen Bibliothek zu
St. Petersburg, daraus I. Belsheim den Text des Mc herausgegeben
hat (1885); dem 10. Jahrh. gehört das Seitenstück dazu in Berat
an (Codex aureus Anthymi). Die erwähnte Evglienhandschrift zu
Petersburg weist noch die Bilder der Evangelisten auf; kleinere
Bilder aus der evangelischen Geschichte sind meist zerstört. Da-
gegen hat sich ein reicher Bilderschmuck erhalten in Cod. S.
3*
36 Geschichte des Textes.
5. Wort- und Satz ab theilung.
Von grösstem Belange für die Altersbestimmung der Hand-
schriften ist endlich ihr Verhalten zu dem allmählig sich einstellen-
den Bedürfniss nach Abtheilung der Wörter und Sätze, nach weiter-
gehender Zerlegung des ganzen Textes meist in kleinere und grössere
Abschnitte.
In den älteren Manuscripten herrscht Scriptio continua. Es
waren mithin nicht sowohl Wörter als vielmehr Buchstaben ab-
zuschreiben ^ wer letztere copirte, konnte von dem Sinne der ersteren
unberĂĽhrt bleiben (Herm. Vis. II, 1, 4). Da auch weder Spiritus
noch Accente gesetzt wurden, kann Mt 9, 18 ebenso gut sie sX^wv
wie slasXO-wv, Act 17, 26 ebensogut Trpö? TsiaYixsvoD«; wie TupoorsTaY-
jisvoĂĽc, Gral 1, 9 ebensogut TrposipYjxa {xsv wie TuposLpv^otaiJLsv, Phl 1, 1
ebensogut aov Itzig^otlok; wie gwstzig'ĂĽotzoiq gelesen werden. Bei gleich-
falls mangelnder Interpunktion erklären sich auch Streitigkeiten über
die Verbindung einzelner Sätze, wie wenn die Pneumatomachen
Joh 1, 3 vor 6 ysyovsv, die Arianer Rm 9, 5 vor 6 m sttI :rdvT(ĂĽv
^£Öc einen Punkt setzten. Erst in späteren Uncialen treten kleine
Zwischenräume zwischen den einzelnen Wörtern auf.
Aelter aber als die Wortabtheilung ist die Trennung von Sätzen
oder Satztheilen. Schon als noch zumeist auf Papyrus geschrieben
wurde, pflegte man Umfang und Preis von SchriftstĂĽcken nach der
Zahl ihrer Baumzeilen {<^'ciyoi) zu schätzen, wobei der Normalstichus
die Durchschnittslänge eines Hexameters besass (etwa 16 — 18 Silben,
durchschnittlich 36, nicht ĂĽber 40 Buchstaben). Nach diesem Maass
scheinen die Zeilen im Codex B zu Apc, ferner in den Vorlagen
von ^^ und B (sofern dort durchschnittlich 3, hier durchschnitthch
2 Zeilen die Länge des Normalstichus bilden), ähnhch in altlateini-
schen Handschriften wie g* und r berechnet gewesen zu sein. Von
der Raumzelle unterschied man die rhetorischen und Hturgischen
Zwecken dienende Sinnzeile (xwXov). Mehr in diese als in jene
Richtung schlug das Unternehmen des Euthalius ein, welcher als
Diakon in Alexandrien seinem eigenen Zeugniss gemäss (zuerst und
am besten herausgegeben von Zaccagni, BibHothekar der Vaticana,
Collectanea monumentorum veterum ecclesiae graec. 1698, I S 403 f)
dem Lector in der Kirche zum ava^vcävat xata TupootpSiav behülflich
sein, TTpöc £ooyj(jlov avdtYvwoiv verhelfen wollte. Derartige Kolometrie
war für einzelne poetische Stücke des AT längst in Anwendung.
Wie diese aber ĂźtĂźXot OTr/Tjpsfc hiessen, so bezeichnete auch Euthalius
seine Methode als aTi/o{j.£Tpta (atotxYjSöv, ait)^Y]Söv, aTt)(T]pw<; oder Tcara
II. Kap.: Vom textkritischen Apparat. I. Von den Handschriften. 37
Gziym^ YP^9^^v? P^r cola et commata scribere)*). Die Plsbriefe voll-
endete er 458, etwas später Act und kathol. Briefe, bei welchen
SchriftstĂĽcken er auch die Accentuation durchfĂĽhrte. Um systema-
tische Durchbildung der letzteren hatte sich schon im 2. Jahrh.
vor Chr. der alexandrinische Gelehrte Aristophanes von Byzanz ver-
dient gemacht. Aber in den Handschriften des NT finden sich erst
seit dem 6. Jahrh. Andeutungen und Ansätze zur Accentuation
(hier und da in Cantabr. und den unter sich verwandten Codices
A F G); seit dem 8. Jahrh. ist sie allgemein ĂĽbhch geworden, wenn
auch keineswegs immer regelmässig und correct angewandt; in
älteren Handschriften häufig von späterer Hand eingetragen. Aehn-
hches gilt von den gleichfalls schon durch alexandrinische Gram-
matiker zu allgemeiner Uebung empfohlenen und vereinzelt (z. B.
hier und da in A) sogar schon vor der Accentuation auftretenden
Spirituszeichen. Die neutest. Schriftsteller selbst haben aller Wahr-
scheinHchkeit nach ohne Accente, Spiritus und Iota subscriptum
geschrieben, so dass nur der Zusammenhang darĂĽber entscheiden
kann, ob z. B. aoTY] oder a^tifj oder aor-g zu lesen.
Von Wichtigkeit ist die Erfindung des Euthalius fĂĽr die Frage nach der
Integrität des Textes. Seine Zahlenangaben entsprechen dem kürzeren Text
der neuem kritischen Ausgaben mehr als dem längeren. Uebrigens ist man
keineswegs bei seiner Stichometrie verblieben, wie weitgehende Differenzen auf
diesem Gebiete beweisen. Nach einer Unterschrift in J< zählt Gal 312 Stichen,
im Can. Ciarom. 350, im Cod. Ciarom. selbst 728, bei Euthalius nur 293; Eph
befasst sowohl bei Euthalius als in J< 312, im Can. Ciarom. 375, im Cod. Ciarom.
selbst 796 Stichen.
Noch unberĂĽhrt von den Maassnahmen des Euthalius sind in ihrer ursprĂĽng-
lichen Gestalt die grossen Uncialbibeln K ABC. Von Handschriften der Plsbriefe
bieten DE und H Beispiele von Stichometrie ; auf die Evglien angewandt findet
sie sich zuerst im Cod. Cantabrigiensis , dessen Stichen grösser sind als die im
Claromontanus (hier durchschnittlich 9, dort bis zu 16 Silben), die kleinsten hat
Laudianus (durchschnittlich 2 — 3 Wörter), so dass hier Act 12,000, bei Euthalius
nur 2556 Stichen zählt.
Zählungen der Stichen am Schiasse der betr. Schriften finden sich ver-
einzelt bei den Plsbriefen, seit dem 9. Jahrh. häufiger bei allen Schriften, daneben
speciell in Handschriften von Evglien auch Zählungen der Sätze (^Tjiiaxa, pr^osiq,),
zuweilen, wo aus verschiedenen Vorlagen geschöpft wiu'de, sogar neben den
Stichen. Die geringe Differenz beweist, dass unter beiden AusdrĂĽcken dasselbe,
d. h. Raumzeilcn zu verstehen sind. So hat Mt 2560 Stichen (im Claromont.
2600) und 2522 Sätze.
*) Nach Rendel Harris (Stichometry, aus American Journal of philology IV,
No. 2 — 3 separat zu Baltimore 1883) würde er sich in der That an die Durch-
ßchnittslänge des Normalstichus gehalten haben.
3g öeschichte des Textes.
Die Stichometrie des Euthalius hat man „eine ideale Inter-
punktion" genannt. In der That beförderte sie den Sieg der schon
vor ilir und neben ihr sich einbĂĽrgernden Interpunktion: J< und B
bieten selten, A und C schon häufiger einen Punkt am Satzende.
Die Zeilen aber brechen diese Uncialbibeln nur dem Eaum nach,
sei es auch mitten in einem "Worte, ab, während sie den Schluss des
Gedankens nicht selten durch Belassung eines kleinen Vacuums an-
deuten. Mitten im Stichus bezeichnet Cantabr. zuweilen das Satz-
ende mit einem Punkt. Doch fand man nach EinfĂĽhrung der
Stichometrie bald, dass sie zuviel Raum wegnehme, imd trennte die
Zeilen blos durch Anwendung eines grossen Anf^mgsbuchstabens
(Cod. Boernerianus) oder durch einen Punkt (zuweilen Cod. Cyprius).
Nichts war durch die allzuhäufige Anwendung des Punktes in den
drei verwandten Codices AEG gewonnen (oft nach jedem Wort).
In der Minuskelhandschrift von 835 bezeichnet ein Kreuz unter
einem Punkt das Ende der Kola, in anderen Codices, z. B. zu den
Evglien E und zu Plsbriefen M, begegnet oftmals eine dreifache
Interpunktion (Punkt unten an der Zeile entspricht dem Komma,
in der Mitte dem Strichpunkt, oben dem Schlusspunkt). Daraus
entwickelte sich eine regelmässige Interpunktion, wie sie z. B. in Cod.
L der EvgUen, Cod. B der Apokalypse beginnt und in den gedruckten
Ausgaben allmäUg Durchführung findet. Auch die Stellung zur
Stichometrie und Interpunktion gehört mithin zu den Kriterien des
Alters der Handschriften.
6. Kapitel- Abtheilung.
Grössere Abschnitte neutest. Bücher scheinen gemeint zu sein,
wenn der alexandrinische Clemens von Perikopen (Str. VII 14, 84),
TertuUian von capitula (Ad ux. 2, 2. De pudic. 16, vielleicht auch
De carne Christi 19), der alexandrinische Dionysius von xsipdXaia in
Apc (bei Euseb KG VII, 25, 1) sprechen. MögHcher Weise ist
dies aber nur so gemeint, wie Origenes, wenn er das Buch des
Celsus bespricht, „Kapitel" desselben unterscheidet, als in sich ge-
schlossene Hauptabschnitte, in welche eine Schrift fĂĽr jeden auf-
merksamen Leser von selbst sich zerlegt (vgl. Keim, Celsus wahres
Wort S 199). Doch waren zu seiner Zeit eben die EvgHen ein-
getheilt worden von dem Alexandriner Ammonius, welcher eine
harmonistische Bearbeitung (unter dem von Tatian enthehenen Titel
xb dia tsoadpwv soavY^Xiov) Ueferte, indem er einem Text von Mt die
Parallelen der andern Evglien zur Seite stellte. Davon nalim
Eusebius Anlass zu einem umfassenderen Eintheilungsunternehmen,
n. Kap.: Vom textkritischen Apparat. I. Von den Handschriften. 39
darĂĽber er in dem Briefe an Karpianus berichtet. Er stellte zehn
Kanones auf, deren 1. diejenigen Abschnitte bietet, welche allen
Evangelisten, der 2. bis 4. diejenigen, welche dreien, der 5. bis 9.
solche, welche zweien gemeinsam sind, der 10. die nur je von einem
vertreten werden. Auf diese Weise zerfielen Mt in 355, Mr in 233,
Lc in 342, Job in 232, alle 4 in 1162 xs^pdXata; so nach den ĂĽber-
einstimmenden Angaben bei Cäsarius von Nazianz (Dial. 1 resp. 39)
und Epiphanius (Ancor. 50). Seit dem 5. Jahrb. wurden vielfach
die Ziffern fĂĽr die Kapitel (obere Ziffer) und Kanones (untere Ziffer)
an dem Rande der EvgUen-Handschriften angemerkt, so dass man
ĂĽber das Ob und Wo der Parallelen rasche Auskunft erlangen
konnte. Aber schon die alten Uncialbibeln fĂĽhren theilweise da-
neben auch noch eigene Abtheilungen mit sich. So theilt B am
Rande Mt in 170, Mr in 62, Lc in 152 (ebenso im Cod. S), Job
in 80, Act in 36 und 69, Jac in 9, 1 Pe in 8, 1 Job in 11, Jud
in 2, die 10 Gemeindebriefe des Paulus zusammen in 93 Sectionen.
K hat eine Kapitelabtheilung für Act 1 — 15 (42 Abschnitte), welche
mit den kleineren Abschnitten in B stimmt.
Noch grössere Sectionen, von dem byzantinischen Lexikographen
Suidas um 1000 als zizXoi bezeichnet (lateinisch breves), bieten A als
7CÂŁpto/at, C und L als xe^paXaia: ihrer kommen auf Mt 68 (L 69),
Mr 48, Lc 83 (L 79), Job 18. Die kurzen Inhaltsangaben dieser
Abschnitte stehen in A C an der Spitze der einzelnen Evglien.
Chrysostomus kennt diese Abtheilung noch nicht, während die
späteren byzantinischen Exegeten darnach citiren. In Bezug auf die
Plsbriefe adoptirte Euthalius eine vorgefundene Abtheilung in xs^foc-
Xaia, welchen bereits 396 auch kurze Inhaltsangaben beigefĂĽgt waren.
Hiemach zerfielen Hbr in 22, Rm in 19, 1 Tim in 18, Gal in 12,
2 Cor, Eph und Col in je 10, 1 Cor und 2 Tim in je 9, die ĂĽbrigen
in noch weniger xs^paXaia. Gleichfalls schon vorgefunden scheint er
zu haben die Abtheilung von Act in 40 Abschnitte, daneben kennt
er aber auch eine andere in deren 36, fast durchgängig mit der
grösseren in B stimmend. Wie auf diese Weise kleinere und grössere
Abschnitte in denselben BĂĽchern neben einander getreten waren, so
theilte endlich Andreas, Bischof von Cäsarea in Kappadocien, Apc
in 24 XöYoi und 72 xe^pdXaia, welche Eintheilung sich in manchen
Manuscripten erhalten hat.
Ueber neuere Kapitel und Verse vgl. S 68 f. Von diesen den Zweck des
Citirens berücksichtigenden Eintheilungen ist die rein kirchliche, näher litur-
gische Zwecke befolgende Eintheilung in LesestĂĽcke, avrxYv<uget(; , irepixoicai, lec-
tiones zu unterscheiden. Wie in den Synagogen Paraschen und Haphtharen, so
40 Geschichte des Textes.
las man in den Kirchen evangelische und apostolische Abschnitte vor. Schon
bei Euthalius zerfallen Act und Briefe (nicht Apc) mit RĂĽcksicht auf die Sonn-
und Festtage in 57 LesestĂĽcke. Optatus und Augustinus bezeugen das Vorhan-
densein ähnlicher Leseabschnitte für die Evglien. Anfang und Schluss derselben
werden in den fĂĽr den liturgischen Grebrauch bestimmten Handschriften seit
dem 9. Jahrh. mit abgekĂĽrztem &px*n und xkXoc, bezeichnet (so zuerst die Evglien-
Codices K und M). Die den Handschriften angefĂĽgten Verzeichnisse von kirchl.
LesestĂĽcken heissen, wenn Sonn- und Festtagen geltend aova^dpia, wenn Heiligen-
tagen ixYjvoXoYia. Solche bieten die Asgn des NT von Matthaei und Scholz. Bald
genug hat das Ueberwiegen des Ceremoniells im Cultus AbkĂĽrzung dieser StĂĽcke
veranlasst. Man las nicht mehr die vollständigen Bücher, sondern bildete eine
Auswahl; da gleichzeitig die Zahl der Pest- und Heiligentage sich mehrte, musste
auch die Zahl der LesestĂĽcke eine entsprechende Vermehrung erfahren.
7. Terminologie.
Das fĂĽr den Kirchengebrauch redigirte NT hiess Evangeharium
und Epistolare, die Vereinigung beider VorlesebĂĽcher Lectionarium.
In der griechischen Kirche heisst, so lange die Evghen vollständig
verlesen wurden, der nach der Folge der Sonntage geordnete Index
dazu, später die Auswahl der evangelischen Lesestücke sDaY^eXiardpiov,
die Auswahl aus dem apostohschen Theil Tzpa^aizoGzoXoq (Act) und
aTTĂ–aioXoc (Pls), das Ganze sTcXoYdSiov. Solche LesebĂĽcher ersetzten
nach und nach das NT; im Occident seit dem 5. und 6., im Orient
seit dem 7. und 8. Jahrh. Das kirchliche Perikopensystem aber ent-
wickelte sich dort auf Grund des römischen Lectionars, hier auf
Grund des byzantinischen Eklogads. Die vollständigen Handschriften
theilt man ein in Codices puri sive mere graeci und Codices mixti
mit Commentar, Scholien oder Uebersetzung ; in letzterem Falle
spricht man von Codices bilingues (besonders graeco-latini, aber auch
koptisch-griechische). Die Uebersetzung steht bald zwischen den
Zeilen (interHnearis), bald neben dem Text. Im kritischen Apparat
bezeichnet man die Handschriften entweder nach ihrem Vaterland
(z. B. Alexandrinus) oder nach ihrem Fundorte (z. B. Sinaiticus)
oder nach ihrem jetzigen Aufenthaltsort (z. B. Vaticanus) oder nach
ihrem einstigen Besitzer (z. B. Cardinal Passionei f 1761); die
Bibhotheksnummern werden gewöhnhch hinzugefügt. Um die Bezeich-
nung der einzelnen Handschriften abzukĂĽrzen, pflegt man seit Wet-
stein Lettern und Zahlen anzuwenden, deren Folge zufällig ist; grosse
lateinische, griechische, hebräische Buchstaben bedeuten Uncialen;
kleine lateinische Buchstaben (gewöhnlich einzelne, doch auch gue
und ff) die Itala; Minuskeln und alle Lectionarien (auch die mit
Uncialen geschriebenen) werden nur mit arabischen Ziffern bezeich-
net. Aus beifolgendem Verzeichnisse erhellt, dass derselbe Buch-
II. Kap.: Vom textkritischen Apparat. I. Von den Handschriften. 41
Stabe fĂĽr verschiedene Theile des NT verschiedene Codices bezeich-
nen kann — eine Unbequemlichkeit, die sich in der kleineren Reihe
sogar steigert, sofern z. B. eine und dieselbe Pariser Minuskelschrift
bei den Evglien 18, bei Act 113, bei den Plsbriefen 132, bei Apc 51
heisst. Derselbe von Tregelles 1850 verglichene Codex Colbertinus
aus dem 11. Jahrh. ist gemeint mit 33 bei den Evglien, mit 13 bei
Act und mit 17 bei den Plsbriefen.
8. Die berĂĽhmtesten Uncialhandschriften.
i< Sinaiticus, nunc Petropolitanas, 346 Folioseiten, davon 147 auf das NT
kommen, auf dem Katharinenkloster des Mosesberges schon 1844 von Tischen-
dorf (in einem Korbe mit unnĂĽtz scheinendem Pergament), 1845 und 1850 von
seinem nachmaligen Gegner, dem russischen Archimandriten PoRPHYRros Us-
PENSKi, aufgespĂĽrt, 1859 von Ersterem nach Europa gebracht und auf Kosten
der russischen Regierung 1862 herausgegeben (kunstreiche Drucknachahmung
des Originals in 300 Exemplaren, 4 Bde), wozu noch Appendix codicum Sinaitici,
Vaticani, Alexandrini 1867 (150 Exemplare) kommt. Der neutest. Theil 1863
in Folio, 1865 in Quart mit den Lesarten von B und Rec. Der die ganze Bibel
einschliesslich Barn, und Herm. umfassende Codex w^eist in seinem an sich vor-
züglichen Text viele Gehörfehler, Auslassungen und dergl. auf; Ueber- und
Unterschriften äusserst einfach, am Ganzen 4 Schreiber betheiligt, am NT mit
Ausnahme von 6 — 7 Seiten und Hermas (welche Stücke vom Schreiber des NT
in Cod. B herrühren) nur einer; später aber, besonders im 6, und 7. Jahrh.
haben mannichfache Correcturen stattgefunden, von welchen ĂĽbrigens nur drei
von Bedeutung erscheinen : i<a der nach einem guten Exemplar arbeitende Cor-
rector; Xb bemcksichtigt z. Th. lateinische, wie J<c syrische Lesarten. Nach
Tischendorf gehörte der Codex zu den 50, welche Eusebius schreiben Hess,
dessen Canones er bereits, wenngleich von zweiter Hand, enthält; während ihn
Gardthausen (S 149) um 400, Hilgenfeld (ZwTh 1864, S 74 f, 211 f. Einl. S
790 f) und DoNALDSON (Theological Review 69, 1877, S 504 f) um 530 setzen.
Die Meisten datiren ihn wenigstens aus dem 4. Jahrh.
AAlexandrinus, nunc Londinensis, seit 1098 im Besitze der Patriarchen
von Alexandria; die nämliche Inschrift, die solches besagt, verflucht denjenigen,
welcher den Codex entfĂĽhren wird. Cyrillus Lukaris brachte ihn nach Kon-
stantinopel und schickte ihn von da 1628 als Geschenk fĂĽr Karl I. nach Eng-
land; Georg IL vermachte ihn 1753 dem britischen Museum. Er umfasst LXX
und NT mit LĂĽcken in Mt, Joh, 2 Cor, dazu beide Clemensbriefe. Letztere
gab schon P. Jüniüs 1633 heraus. Das NT veröffentlichten Woide 1786 mit
facsimilirten Lettern (vgl. auch Spohn, Woidii notitia codicis Alexandrini cum
variis ejus lectionibus omnibus 1788), Cowper 1860 auf Grund einer neuen
CoUation, aber mit Spiritus, Accentcu und ausgefĂĽllten LĂĽcken, Hansell 1864
im Verein mit B C D (NT gr. autiquissimorum codicum textus in ordine parallele
(lispositi). Aber erst die von den Curatoren des britischen Museums veran-
staltete Prachtausgabc von 1879 (Facsimile of thc Codex Alcxandrinus, Bd 4)
• rsetzte dem biblischen Kritiker den Codex vollständig. Er ist frühestens 450
und zwar in Acgyptcn geschrieben worden. Nach_ Griesbach und Westcott-
HoRT gehören die Evglien der byzantinischen, die Briefe der alexandrinischeu
Toxtgestaltung an.
42 Geschichte des Textes. ^
BVaticanus (No. 1209 der päpstlichen Bibliothek), eine ganze Bibel auf
759 Fohoblättem, aber abbrechend mit Hbr 9, 14, so dass 1 und 2 Tim, Tit,
Phm und Apc fehlen. Die vorzĂĽgliche, im 4. Jahrh. entstandene Handschrift
ist schwer zu lesen, weil der alte Text etwa um'^1000 mit frischer Tinte ĂĽber-
zogen, mit Accenten und Spiritus ausgestattet, zugleich aber an etwa 2000 Stellen
verändert worden ist, so dass es gilt, die blasse Schrift hinter dem Ueberzug
zu erkennen. Diese Aufgabe wird um so verwickelter, als nicht nur gewisse
Aenderungen von erster Hand herzurĂĽhren scheinen (B*), sondern auch ein ziem-
lich gleichzeitiger Corrector thätig war. Aber auch noch an anderen Schwierig-
keiten scheiterten die längste Zeit über alle Bemühungen um die vatikanische
Texturkunde. Denn die römische Curie hütete sie um der Abweichungen von
Vulgata willen ebenso misstrauisch, wie sie anderseits doch auch das kostbarste
StĂĽck ihrer Handschriftensammlung in gebĂĽhrenden Ehren gehalten wissen
wollte. Erstmalig hat Sepulveda in einem Briefe an Erasmus 1533 die Auf-
merksamkeit darauf gelenkt. Verschiedene CoUationen durch römische Prälaten
(Bartolocci 1669, Mico und EĂĽlotta um 1720) blieben fruchtlos; Birch um
1780 und HuG 1809 drangen mit ihren Ergebnissen wenigstens in die Oeffent-
lichkeit. Der Cardinal Angelo Mai Hess den Codex 1828—38 abdrucken, aber
erst nach seinem Tode wagte der Testamentsvollstrecker Vercellone 1858 die
leichtfertige, ja unbrauchbare Arbeit zu veröffentlichen. Nicht viel besser war
die von ihm selbst 1859 besorgte Asg des vaticanischen NT. Auch Tischen-
dorf 1843, E. VON Muralt 1844 und 1852, Tregelles 1845 und 1846, Dressel
1855, BuRGON 1860, Alford 1861 und Cure 1862 konnten den Codex nur in
ganz ungenĂĽgender Weise benutzen, so dass das Resultat so vieler Vergleichungen
oft genug in constatirter Ungewissheit darĂĽber bestand, was der Codex eigent-
lich biete. Endlich gelang es Tischendorf, des Codex fĂĽr 42 Stunden habhaft
zu werden (zwischen 28. Februar und 20. April 1866). Schon 1867 erschien
sein NT Vaticanum (1000 Exemplare) mit einer Appendix vom Jahre 1869, die
veranlasst war durch die mittlerweile in der Propaganda auf Befehl des Papstes
gedruckte Prachtausgabe, davon der das NT enthaltende Bd 5 zuerst 1868
erschien, besorgt von Vercellone und Cozza. Auf Grund beider Ausgaben,
die ĂĽbrigens unter sich noch differiren, ist endlich eine kritische Vergleichung
des Codex B möglich geworden. Zuletzt (1881) kam Bd 6, darin Fabiani
und CozzA den kritischen Apparat zusammenstellten, um dann in einem Schluss-
worte De editione romana codicis graeci Vaticani 1881 noch an Tischendorf
Rache dafĂĽr zu nehmen, dass er ihnen mit seiner Leipziger Ausgabe zuvorge-
kommen war.
FĂĽr Apc bezeichnet B den patristischen Sammelcodex Vat. 2066 aus dem
8. Jahrh., dessen bezügliche Blätter 1843 von Tischendorf und Teegelles
geprĂĽft und von Ersterem schon 1846, besser in der Appendix NT Vaticani
1869 veröffentlicht wurden.
C Codex Ephraemi rescriptus, bestehend aus 209 geretteten Folio-
blättern, davon 145 auf das freilich auch nur fragmentarisch vorhandene (das
Fehlende beträgt etwa V«) NT kommen. Aus Griechenland kam der Codex nach
Florenz, durch Katharina von Medici nach Paris (Cod. Regius oder Regio-Parisi.
ensis No. 1905, jetzt National-Bibliothek No. 9). Gefertigt in Aegypten nicht vor
dem 5. Jahrh., seit dem 6. Jahrh. zweimal durchcorrigirt, musste der biblische
Text im 12. Jahrh. darĂĽber geschriebenen Tractaten des syrischen Ephraem
weichen. Nachdem schon Wetstein 1716 versucht hatte, die alte Schrift zu
II. Kap. : Vom textkritischen Apparat. I. Von den Handschriften. 43
entziffern, gelangte Tischendorf 1840 — 42 auf chemischem Wege zum Ziel und
gab mit facsimilirten Lettern 1843 das NT (1845 das AT) heraus.
D bezeichnet zwei Codices, den ersten fĂĽr Evglien und Act, den zweiten
fĂĽr Plsbriefe; beide stammen aus dem 6. Jahrb., vertreten in vorzĂĽglicher Weise
den abendländischen Text, sind graeco-latini, zugleich die ältesten stichometrischen
Handschriften. Beide waren im Besitze des Theodor Beza, nach dessen Angaben
der erste aus dem Irenäus -Kloster in Lyon, der andre aus einem Kloster in
Clermont bei Beauvais stammen wĂĽrde.
Bezae Cantabrigiensis bietet neben dem griechischen einen altlateini-
schen Text mit theils eigenthĂĽmlichen, theils in Itala wiederkehrenden Lesarten, ist
oft durchcorrigirt und merkwĂĽrdig durch zahlreiche Erweiterungen, resp. Inter-
polationen. Beza erhielt den Codex 1562, schenkte ihn 1581 der Universität
in Cambridge. Besser als Kipling 1793 hat ihn Scrivener 1864 herausgegeben.
Claromontanus enthält zwischen Phm und dem bald nach der ersten
Niederschrift hinzugefĂĽgten Hbr die aus der Geschichte des Kanons bekannte
Stichometrie (Can. Ciarom.). Auch dieser Cod. bietet einen oft ĂĽberarbeiteten,
erst später accentuirten Text mit einer zuweilen von ihm unabhängigen alt-
lateinischen Uebersetzung. Aus Beza's Besitz ging er in denjenigen der Familie
Dupuy (Puteanus) ĂĽber, welcher ihn Louis XIV. 1656 abkaufte (Cod. Regius
No. 2245, jetzt National-BibHothek No. 107). Nachdem Wetstein, Sabatier,
Griesbach, Tregelles sich um ihn bemĂĽht, gab ihn Tischendorf 1852 mit
Facsimile heraus.
A Cod. Sangallensis. Von einem irischen Mönch zu St. Gallen,
wahrscheinlich unter dem Abt Hartmot (f 884) geschrieben, enthält die Evglien
in einem bezĂĽglich Mr merkwĂĽrdigen, bezĂĽglich der ĂĽbrigen jĂĽngeren Texte,
dazu eine Versio interlinearis, welche eine dem Griechischen accomodirte Vulg.
darzustellen scheint. In allem Uebrigen, zumal auch in der zwischen Uncial-
und Cursivschrift schwebenden Schreibart, ist er dem Cod. Boernerianus sprechend
ähnlich. Mit musterhafter Treue und Sorgfalt hat ihn Rettig 1836 heraus-
gegeben.
E bezeichnet fĂĽr die Evglien eine lĂĽckenhafte Uncialhandschrift aus dem
8. Jahrh., welche von Haus aus bereits mit Spiritus, Accenten und Interpunktion,
später noch mit liturgischen Noten versehen, während des Concils nach Basel
gekommen und 1843 von Tischendorf und I. G. MĂĽller, 1846 von Tregelles
verglichen worden ist (Cod Basileensis, nicht zu verwechseln mit dem das NT
ohne Apc enthaltenden Cod. Basileensis Reuchlinianus, einer werthvollen Minuskel
aus dem 10. Jahrh., welche Reuchlin aus einer Klosterbibliothek erhalten hatte
und an Erasmus zum Zwecke seiner Ausgabe ĂĽbermittelte); fĂĽr Act den Cod.
Laudianus, einen im 6. oder 7. Jahrh. geschriebenen Graeco-latinus, der aus
Sardinien nach England kam, dem Beda bekannt war, vom Erzbischof Land
1636 der Bodleianischen Bibliothek zu Oxford geschenkt und 1715 von Hearne,
1864 von Hansell, am besten 1870 von Tischendorf herausgegeben wurde; fĂĽr
die Plsbriefe den Sangermanensis, nunc Petropolitanus, eine um 900 ge-
fertigte, schlechte Abschrift des bereits durchcorrigirten Claromontanus, die aus
der Abtei St. Germain-des-Pres in Paris nach Russland gekommen ist.
F bedeutet fĂĽr die Evglien den verwahrlosten und durchaus lĂĽckenhaften
Cod. Boreelii Rhcuo-Trajectinus aus dem 9. oder 10 Jahrh., welchen
Heringa in Utrecht 1830 wieder gefunden nud beschi-icben hat (Disputatio de
codico Boreeliano 1843); fĂĽr Plsbriefe den Cod. Augiensis, der im 9. Jahrh.
44 Geschichte des Textes.
von alemannischer Mönchshand geschrieben dem Kloster Augia major oder dives
(Reichenau) gehört hat; später besassen ihn der Reihe |[nach G. M. Wepfer,
L. Ch. Mieg, Richard und Thomas Bentley, seit 1787 das Trinity College zu
Cambridge. Der lateinische Text (er allein bietet auch Hbr) ist bereits ab-
hängig von Vulgata, aber vielfach dem Urtext anbequemt. Herausgegeben hat
ihn 1859 Scrivener. Den lat. Text haben Tischendorf 1842 und Tregjjlles
1845 untersucht.
G Cod. Boernerianus, nunc Dresdensis, 13 Plsbriefe; entweder das
Original des Augiensis (Wetstein, Hort) oder mit demselben die gleiche Vor-
lage theilend (Scrivener), geschrieben von derselben Hand, welche auch Cod. A
gefertigt hat ; auf der Seite 1 Cor 2, 10 — 3, 2 hat ein Ire, wie es scheint der
Mönch Moengal (Marcellus), seine auf einer Romfahrt gewonnenen Eindrücke
in einigen Versen niedergelegt, deren Inhalt das im Tasso (1, 4) dem Antonio
Montecatino in den Mund Gelegte antecipirt („Nach Rom zu kommen, bringt
wenig Gewinn. Wornach dich zu Hause verlangt, bringst du es nicht mit, so
findest du es nicht"). Später wurde wie A so auch G mit Randbemerkungen
gegen Gottschalk und Hagano geschmĂĽckt. Die lateinische Versio interlinearis
hat im Gegensatze zu A und F nichts mit Vulg. gemein, sondern accomodirt
die ältere Uebersetzung dem griechischen Text. Nach dem Tode seines Be-
sitzers, des Leipziger Theologen Ch. F. Römer, von dem ihn auch Bentley be-
zogen hatte, kam der Cod. 1753 in die Bibliothek zu Dresden, wo Matthäi
eine genaue VerĂ–ffcntHchung besorgte 1791, 2. Afl. 1818. FĂĽr die Evglien
bezeichnet G den Cod. Seidelii aus dem 9. oder 10. Jahrb., welcher, von
A. E. Seidel aus dem Orient nach Deutschland gebracht, jetzt im britischen
Museum sich befindet; frĂĽher fĂĽr Act und alle Briefe auch den Codex Ange-
licus (L). Das griechische F endlich bezeichnet einen späten (S 34) und de-
fecten Evglien-Codex, welchen Tischendorf im Orient fand.
H bedeutet fĂĽr die Evglien gleichfalls einen Cod. Seidelii, jetzt auf der
Stadtbibliothek im Hamburg; fĂĽr Act einen Cod. Mutinensis aus dem 9. Jahrh.;
fĂĽr die Plsbriefe eine Anzahl von mit grossen Uncialen geschriebenen Fragmenten,
von welchen sich 12 in der Pariser National-Bibliothek befinden (Cod. Coisli-
nianus, genannt von ihrem Besitzer Bischof Coislin von Metz, herausgegeben
von Montfaucon) ; 2 andere sind gelegentlich einer Feuersbrunst von Paris nach
Petersburg gewandert, wozu ĂĽberdies noch 3 weitere in dem Besitze des Archi-
mandriten Antonius kommen ; eines gerieth in die Hände des Bischofs Porphyrius
Uspenski; 2 sind in Moskau, 2 in Turin, 9 endlich noch auf dem Berg Athos
(Cod. Athonus, herausgegeben von Duchesne 1876), der eigentlichen Heimath
der im 6. oder 7. Jahrh. geschriebenen Handschrift, welche aber die KlosterbrĂĽder
1218 zu Einbänden von allerhand patristischer Literatur verwenden zu sollen
glaubten; daher die Zerstreuung.
K bedeutet fĂĽr die Evglien den Cod. Colbertinus sive Cyprius,
welcher im 9. Jahrh. geschrieben die Stichometrie mit der Interpunktion ver-
tauscht, 1673 von Cypern in Besitz Colbert's kam (jetzt National-BibHothck No. 63),
von Scholz 1820 beschrieben, genauer erst von Tischendorf 1842 und 1849
und von Treqelles 1850 verglichen wurde; fĂĽr die kath. und Plsbriefe eine
vom Berg Athos nach Moskau gekommene Handschrift gleichen Alters, die
Matthäi 1782 verglichen hat.
L bedeutet fĂĽr die Evglien den Codex Stephani octavus (Robert
Stephanus hat ihn gebraucht), nunc P^risiensis (National-Bibliothek No. 62),
n. Kap.: Vom textkrit. Apparat. I. Von den Handschriften. 45
die mangelhafte aus dem 8. (Tischendorf, Scrivener, Gregory) oder 9. (Gries-
BACH, HuG, Tregelles) Jahrh. stammende Abschrift eines alten, vorzĂĽglichen,
mit dem alexandrinischen Text verwandten Codex, (mit facsimilirter Schrift
herausgegeben von Tischendorf 1846); fĂĽr Act und alle Briefe den Codex
Angelicus Romanus, frĂĽher Cod. Passionei genannt, von Wetstein, Scholz,
anfangs auch von Tischendorf mit G bezeichnet, aus dem 9. Jahrh. ; verglichen
von Scholz 1820, Fleck 1833, Tischendorf 1843, Tregelles 1845. Das griechische
A bezeichnet einen von Tischendorf aus dem Orient gebrachten Text von Lc
und Joh aus dem 9. Jahrh.
M bedeutet für die Evglien den vollständigen Cod. Campianus (Nat.-
Bibliothek No. 48) aus dem 9. oder 10. Jahrh.; für Plsbriefe wenige Blätter
in London und Hamburg, Reste eines guten Textes aus dem 9. Jahrh., heraus-
gegeben von Tischendorf 1855 und 1861.
N heissen die Fragmente eines im 6. oder 7. Jahrh. mit silbernen Lettern
auf Purpurpergament geschriebenen Evglien-Codex (Cod. purpureus), davon
33 Blätter im Johanneskloster auf Patmos, 6 auf dem Vatican, 4 im britischen
Museum und 2 auf der kaiserlichen Bibliothek in Wien sich befinden. Das auf
Patmos befindliche Material gab Duchesne 1876, das ĂĽbrige Tischendorf
1846 heraus.
PundQsindCodicesGuelferbytani,WolfenbĂĽttlerPalimpseste,Evglien
enthaltend aus dem 6. Jahrh,, welche mit Bruchstücken des gothischen Römer-
briefes den Codex Carolinus bilden. Was er unter dem Texte des Isidorus
Hispalensis zu lesen vermochte, hat schon Knittel 1762 veröffentlicht; wirklich
lesbar gemacht hat beide Codices erst Tischendorf 1860 und 1869.
R Cod. Nitriensis, Palimpsest mit Fragmenten des Lc aus dem 6. Jahrh.,
herausgegeben von Tischendorf 1857.
S Cod.Vaticanus No. 354, vollständige Evglien-Handschriftvom Jahre 949.
S Cod. Rossanensis, Prachtcodex der beiden ersten Evglien aus dem
6. Jahrh. zu Rossano in Calabrien von 0. von Gebhardt und A. Harnack 1879
entdeckt, 1880 beschrieben und 1883 herausgegeben.
T Cod. Borgianus, Fragmente aus Lc und Joh mit nebenstehender sahi-
discher Uebersetzung, aus dem 5. Jahrh., jetzt in der Bibliothek der Propaganda,
herausgegeben theils von A. A. Georgi 1789, theils von Woide 1799.
VCod. Moscuensis No. 399, Evglien-Handschrift aus dem 9. Jahrh., wahr-
scheinlich die älteste von den vielen, die Matthäi benützt hat (1779 und 1783).
S Cod. Zacynthius, Palimpsest mit Lucas-Fragmenten, von einer Catene
umgeben, höchstens aus dem 7. Jahrh., aber mit altem und zwar alexan-
drinischem Text; 1820 von Zante nach London gebracht, 1861 von Tregelles
entziffert und herausgegeben.
4> Cod. Beratinus, Prachtcodex der beiden ersten Evglien aus dem 7.
Jahrh. zu Berat in Albanien von P. Batiffol verglichen und 1885 bekannt gemacht.
Z Cod. Dublinensis rescriptus von J. Barrett 1787 im Trinity coUege
zu Dublin entdeckt und 1801 ungenĂĽgend herausgegeben; auch die 1853 von
Tregelles angewandten chemischen Mittel halfen nicht viel. Die letzte Ausgabe
veranstaltete T. K. Abbott, Par palimpscstorum Dublinensium 1880. Die blasse
Schrift stammt aus dem 6. Jahrh. und weist einen alexandrinischen, besonders
mit ^< stimmenden Text auf.
46 Geschichte des Textes.
n. Von den Schriftstellern des kirchlichen Alterthums.
Die „Kirchenväter" (das Wort im weitesten Sinne genommen)
kommen in Betracht
1) fĂĽr die Textgeschichte ĂĽberhaupt, indem sie durch eine Reihe
wichtiger Zeugnisse Material fĂĽr dieselbe Hefern;
2) fĂĽr den textkritischen Apparat insonderheit durch eine Un-
zahl von Citaten, welche unter Umständen als Bruchstücke alter
Handschriften gelten können.
1. Allgemeines zur Text-Geschichte.
1) Schon frĂĽhe begegnen wir Klagen ĂĽber Verdorbenheit und
Verderber des Textes. Dionysius von Korinth weiss, dass seine
eigenen Schriften so gut wie die heiligen willkürliche Veränderungen
erlitten haben (Euseb. KG- IV, 23, 12 sl %ai twv xoptaxwv paSioop-
Y^aai Tivs? iTĂĽiĂźsĂźXTjvtai Ypa^pwv). Derselbe Irenaeus, welcher die
Theorie von der lectio sine falsatione aufstellt (vgl. oben S. 16),
bemerkt gelegentHch der Zahl Apc 13, 18, welche sv Tiaat toi? gtuod-
Saiot? ocal ap/aioK; avTiYpa(pot(; 666 betrage, die Häufigkeit auch un-
absichtlicher Irrungen (V, 30, 1). Nur wenig später beklagt sich
Clemens von Alexandrien (Str. IV, 6, 41) zu Mt 5, 10 ĂĽber das
im Schwange gehende [xstaTL^svat lö suaYYs^Lov, was Hilgenfeld
auf die Betriebsamkeit der Gnostiker, Eeuss auf Bereicherung des
Textes durch Zusätze, dagegen Tregelles und Scrivener auf
willkĂĽrliche Textalterationen beziehen, welche behufs harmonistischer
Conformation vorgenommen wurden. Jedenfalls beweisen schon die
Gitate der früheren Kirchenväter, auch diejenigen des Clemens selbst,
wie man fortwährend in den Text des einen Evglms harmlos über-
trug, was man in einem anderen gelesen hatte.
2) Indessen reden solche Stellen blos von Vermischung der
Parallelen oder unabsichtlichen Nachlässigkeiten, keineswegs von
Fälschungen. Dasselbe gilt von Origenes, dem bedeutendsten Zeugen
für die Gestalt des Textes in der 1. Hälfte des 3. Jahrh. Derselbe
constatirt gelegentHch der Auslegung von Mt 19, 19 (T. XV, 14)
eine ttoXXtj twv avitYp^'fwv dia^opd und bezeichnet als Quellen der-
selben die Nachlässigkeit der Copisten (pG^^o[ita Ttvwv Ypa<p^wv), die
Leichtfertigkeit (töXjj.tj t.vwv [Lo-zß-fipäq t^c Siopv^cbasci)? twv Ypa<po{JL^vü)v)
und Willkür der Correctoren (ol ta saoTOic Sozoövta Iv t-J SwpO-cbosi
Tcpoott^-^tec ^ a'fatpoövTs?). In der That ist die Unzuverlässigkeit
selbst alexandrinischer Abschreiber auch sonst bezeugt (Strabo XHI,
1, 64) und lässt sich auf die namhaft gemachten Ursachen die Mehr-
zahl der älteren Varianten zurückführen, namentlich auch die topo-
n. Kap. : Vom textkrit. Apparat, ĂĽ. Die Schriftsteller des kirchl. Alterthums. 47
graphischen Correcturen, welche seine eigene töX(xtj in die "Welt
setzte, wenn er Mt 8, 28 die Gerasener, wde damals die meisten,
oder die Gadarener, wie andere Zeugen lasen, durch die Gergesener
ersetzte, oder wenn er Joh 1, 28 gegen „fast alle Handschriften"
Bethabara anstatt Bethanien in Umlauf brachte. Aber auch die
Handschriften, welche er gebrauchte, waren von dem Uebel der
durch philologische und historische Yerbesserungssucht herbeigefĂĽhr-
ten Yerderbniss nicht frei; sie waren auch keineswegs sehr alt. Er
selbst beruft sich (in JohT. XHI, 11) als auf eine sehr alte Hand-
schrift auf diejenige des Herakleon, welcher kein Jahrb. vor ihm
selbst voraus hat. Aus dem Umstände, dass Hieronymus Exemplaria
Origenis, die ihm zu Gebote standen, denjenigen des Lucian vor-
zieht, welcher eine selbstständige Eecension des NTlichen Textes
vorgenommen hat, wollte man den Schluss ziehen, dass auch Origenes
(um 240) oder Pierius (um 280) Aehnliches versucht hätten. Aber
nur auf LXX erstreckten sich die textkritischen BemĂĽhungen des
Ersteren, welcher dagegen von sich selbst schreibt: in exemplaribus
autem Novi Testamenti hoc ipsum posse facere sine periculo non putavi
(in Mt T XV, 14). Er fĂĽrchtete somit bereits den Anstoss, welchen
der Kirche ein solches Unternehmen geboten hätte, und die Exem-
plaria Origenis et Pierii, welche Hieronymus rĂĽhmt (zu Mt 24, 36
und zu Gal 3, 1), sind die von den Genannten gefertigten oder
wenigstens corrigirten Handschriften.
3) Dagegen erhellt allerdings aus Hieronymus, dass der ägyp-
tische Bischof Hesychius und der antiochenische Presbyter Lucian
(beide starben nach Euseb. KG VHI, 13, 2. 7 als Märtyrer etwa
311) Versuche zur Herstellung des Textes veranstaltet haben. Noch
zu seiner Zeit gab es Exemplaria Lucianea (Cat. 77). Zugleich be-
zeichnete er dieselben aber auch in der Praefatio ad Damasum als
hyperkritisch und falsch; er konnte sie nicht annehmen, weil sie
sich zu weit von Itala entfernten, oder mochte sie nicht brauchen,
weil ihm die antiochenische Theologie verdächtig und verhasst war.
Aus ähnlichen Gründen hatten diese Recensionen überhaupt wenig
Eingang in der Kirche gefunden (codices quos a Luciano et Hesychio
nuncupatos paucorum hominum adserit perversa contentio), ja sie
wurden im Abendland geradezu unterdrĂĽckt. Im Beeret des Ge-
lasius und des Hormisdas nämlich sind die Evghen des Lucian und
des Hesychius (Isicius) als Machwerke von Falsarii gebrandmarkt,
80 dass wir von ihrer Beschaffenheit nichts mehr mit irgendwelcher
Sicherheit wissen. Andererseits berichtet derselbe Hieronymus
(Praef. in Ghr), dass die beiden Genannten auch recensirte Texte
48 Geschichte des Textes. j
von LXX veranstaltet haben und dass Hesychius damit in Alexandria,
Lucian in Konstantinopel und Antiochia durchgedrungen sind. Es
ist somit wahrscheinlich, dass sie im Morgenlande auch mit ihrer
Recension des NT Glück gehabt, und es käme immer noch auf den
Versuch an, den Text vor und nach Lucian und Hesychius zu unter-
scheiden.
4) Wie Pierius, so waren auch noch spätere Origenisten thätig
auf dem Gebiete der Textkritik. Pamphilus beschäftigt sich mit
avTtĂźaXXsLv und Stop^cbastg (Euseb. KG VI, 32, 3. Hieron. Cat. 75).
Am SchlĂĽsse von Tit wird im Cod. H der Plsbriefe bemerkt, dass
diese Handschrift mit einem von Pamphilus geschriebenen Original
vergKchen wurde. Auf eine gleiche Quelle fĂĽhrt sich die philoxe-
nianische Uebersetzung der Plsbriefe zurĂĽck. Auch von BasiHus
wird bezeugt, dass er die heiligen Texte avTcĂźaXwv Sitop^waaTO (Georg
Syncell. Chronogr. S 203). Unter der Leitung des Eusebius wurden
um 332, wie er selbst erzählt (Vita Const. 4, 36. 37), für die Neu-
hauptstadt Konstantinopel 50 Pergamenthandschriften des NT ver-
anstaltet. Dieselben waren ohne Zweifel Abschriften der Exemplaria
Origenis, Pierii, Pamphih (vgl. Gardthausen S 374). Gleichfalls
nach alexandrinischen Handschriften Hess Athanasius fĂĽr Constans
eine ganze Bibel abschreiben. |
5) Ein wichtiges Zeugniss fĂĽr die Zeit um 383 steht zu Ge-
bote in der Vulgata des Hieronymus, welcher wenigstens bis zu
einem gewissen Grade kritisch verfahren ist. Aenderte er auch blos
die sinnentstellenden Fehler (Praef. ad Dam.), so sah er doch um
so mehr auf das Alterthum einer Lesart, als ihm die mannigfache
Verwandtschaft des alexandrinischen Textes mit der Vorlage der
altlateinischen Uebersetzung nicht entgangen war. Er kennt auch
bereits die Gefahren des harmonistischen Verfahrens der Abschreiber
(unde accidit, ut apud nos mixta sint omnia, et in Marco plura
Lucae atque Matthaei), verwirft aber gleichwohl als willkĂĽrlich die
Hersteliungsversuche des Lucian und Hesychius. DafĂĽr schliesst er
sich an die vorhandene lateinische Uebersetzung an, wesshalb Vul-
gata in ihren Abweichungen von Itala dem alexandrinischen Texte
(in einigen Büchern besonders dem Cod. A.) näher rückt. In dem
was er stehen Hess dürfen wir occidentalische, in dem was er ändert
orientalische Lesarten voraussetzen, so dass Vulg. bereits ein Beispiel
fĂĽr gemischten Text darstellt. Aehnlich ist es zu beurtheilen, wenn
EuthaHus den Text von Act und kath. Briefen nach einer Hand-
schrift des Pamphilus, d. h. den späteren alexandrinischen nach dem
frĂĽheren verbessert.
n. Kap. : Vom textkrit. Apparat, ĂĽ. Die Schriftsteller des kirchl. Alterth. 49
2. Die patristischen Citate.
Das Verfahren mit den Citaten der Kirchenväter macht ein
doppelter Umstand mĂĽhsam und unsicher. Ersthch sind die patristi-
schen Texte selbst der Veränderung ausgesetzt, so dass an der-
selben Stelle auch Citate variiren. Es ist daher darauf zu achten,
ob die mönchischen Abschreiber nicht den zu ihrer Zeit geläufigen
Text eingetragen oder die Herausgeber ihn dem gedruckten Text
des NT conformirt haben. So entstellt z. B. den ganzen Text des
Augustinus die BerĂĽcksichtigung der Vulgata. Aber noch vorher
fragt es sich, ob der betrejffende Schriftsteller selbst genau citirt,
resp. auch nur genau citiren will, oder aber die citirten Stellen nur
inhalthch verwerthet und aus dem Gedächtniss reproducirt. Kriterien
eines genau citirenden Autors werden es sein: 1) wenn derselbe
ersichthch eine vor ihm hegende Handschrift benutzt, wesshalb die
patristischen Commentare die sichersten Dienste leisten; 2) wenn
er eine lange Stelle citirt, die er nicht wohl aus dem Gedächtniss
niederschreiben konnte; 3) wenn er eine Lesart ausdrĂĽcklich als
vorhanden angibt und bespricht (z. B. Tertulhan zuweilen gegen
Marcion); 4) wenn auf den Wortlaut ein besonderer Nachdruck
gelegt wird; 5) wenn die bezeugte Lesart in keinem guten Einver-
nehmen mit der Dogmatik oder Parteistellung des betreffenden Schrift-
stellers steht; 6) wenn derselbe sich in seinen Citaten gleich bleibt.
Mit der nöthigen Vorsicht gebraucht, fallen die als Fragmente von Manu-
scripten gewürdigten Citate der Väter besonders darum sehr in's Gewicht, weil
sie den sichersten Aufschluss ĂĽber Vaterland und Alter von Varianten darbieten.
Sie zeigen z. B. auch, wie zuweilen zwei oder mehrere Lesarten an demselben
Orte neben einander existiren konnten. Da die ältesten dieser Väter selbst
den Uncialbibeln um Jahrhunderte überlegen sind, könnte möglicherweise ihr
Zeugniss gelegentlich einmal gegenüber sämmtlichen Manuscripten von Bedeutung
sein. Ein solcher Fall liegt vor bezĂĽglich Mt 11, 27 = Lc 10, 22 (vgl. oben
S 29 f), ein anderer betrifft die "Worte xö udox« Joh 6, 4 (vgl. Westcott und
Hort, Appendix S 77 f).
Bezüglich der textkritischen Verwerthung der Väter fehlt es noch an
wesentlichen Vorbedingungen einer zusammenfassenden Darstellung. Es liegt
dermalen nur Stückwerk vor uns. Die angeführten Stellen dürfen nämlich
keinesfalls blos nach den oft unzuverlässigen Indices beurtheilt, vielmehr muss
zuerst der Text eines Schriftstellers genau darauf angesehen werden, wie es mit
seinen Beziehungen zum NT ĂĽberhaupt steht. So haben Chr. B. Michaelis den
Irenäus, Griesbach den Clemens und Origenes, Vater den Origenes behandelt ;
Matthäi hat auf Chrysostomus , Tregelles auf Eusebius geachtet. Zuletzt hat
RöNSCH die lateinischen Väter in Betracht gezogen, so die Bibelcitate des Au-
gustinus (ZhTh 1867, S 606 f), Ambrosius (1869, S 433 f. 1870, S 91 f), Lactanz
(1871, S 531 f), Cyprian (1876, S 86 f) und Tertullian (Das Neue Testament
Tertullian's 1871). Uebrigens liefern die des Griechischen z. Th. unkundigen
Holtzmann, Einleitung. 2. Auflage. 4
50 Geschichte des Textes.
Schriftsteller des Abendlandes natĂĽrlich keine unmittelbaren Zeugnisse fĂĽr den
Text, sondern kommen zunächst nur für die lateinische Uebersetzung in
Betracht.
Ausser den Vätern selbst sind übrigens auch die uns meist nur aus
ihren Schriften bekannten älteren Häretiker sammt den betreifenden Apokryphen
zu beachten, wie besonders Marcion, Ptolemäus und Theodot, aber auch
Hebräerevglm, Protevglm Jacobi, Evglm Thomae eine Menge von theilweise
beachtenswerthen Varianten darbieten (z. B. im Brief des Ptolemäus an Flora
bei Epiphanius Haer. 33, 4 das Citat Mt 15, 4—9). — Polykarp citirt nicht
genau (vgl. z. B. 1, 2 ov T^-p'P'^ ^ ^^°? statt Act 2, 24 ov 6 ^sbc, ^.vsaxYiasv). —
JĂĽSTmus Martyr (Samarien, Rom) vermischt in seinen Citaten aus den Evglien
die Parallelen. Auch die pseudojustinischen Schriften sind von Belang. —
Irenäus (Kleinasien, Rom, Gallien) bezeugt z. B. die Existenz zweier Lesarten
der Zahl Apc 13, 18. Aber sein griechisches Original ist zum weitaus grössten
Theil verloren gegangen. Der lateinische Uebersetzer gehört schwerlich, wie
seit MassĂĽet die Meisten annehmen, dem 2. oder 3., sondern vielleicht erst dem
4. Jahrh. an (Westcott und Hort S 160) und lässt sich in seiner Wiedergabe
der Citate durch die ihm geläufige altlateinische Uebersetzung bestimmen. —
Tertullian (Nordafrika) citirt dieselben Schriftstellen an verschiedenen Orten
sehr verschieden, was aus Verschiedenheit der jeweils gebrauchten Uebersetzungen
erklärt werden wollte, wogegen nach Rönsch (S 43) wenigstens in der Regel
eine bestimmte Uebersetzung gebraucht ist. HaĂĽschild und v. Gebhardt be-
trachten seine Citate vorwiegend als seine eigenen Schöpfungen, Neubildungen
aus dem Gedächtnisse, wobei Kenntniss des griechischen Textes zuweilen von
Einfluss ist. In zahlreichen Fällen dürfte indessen diejenige Lesart der altlatei-
nischen Uebersetzung ausfindig zu machen sein, welche seinen freiem Abwei-
chungen zu Grunde liegt. Directe Ausbeute fĂĽr die Textkritik liefert fast nur
das "Werk gegen Marcion. — Cyprian, sein Schüler, citirt genauer als Tertullian,
bleibt dabei auch consequenter. — Hippolyt (Rom) hefert, wenn er Verfasser der
Philosophumena ist, zugleich das meiste Material fĂĽr den Bibelgebrauch der
gleichzeitigen Häretiker. — Clemens von Alexandria (Athen und Alexandria)
citirt ungenau. — Sein Schüler Origenes (Alexandria und Palästina) verglich
die Handschriften des Herakleon, besass Forschersinn und ein verhältnissmässig
unbefangenes Urtheil. Fälschlich beschuldigt ihn Matthäi der Corruptionssucht
und meint, sein Verehrer Hieronymus habe die von ihm erfundenen Lesarten
weiter verbreitet. Aber nur der griechisch erhaltene Theil seiner Werke ist mit
Sicherheit zu benutzen; derselbe umfasst Mt 13, 36—22, 33, einige Verse von
Lc, den 6. Theil des Joh und Einiges aus den Briefen. Von lateinischen Ueber-
setzungen haben wir eine anonyme von Mt 22, 34—27, 66, eine hieronymianische
der Homihen zu Lc und eine rufinische zum Römerbrief, welche zu besonders
vorsichtigem Gebrauche auffordert. Um so grössere Bedeutung haben die Ueber-
setzer als indirecte Zeugen für die Textgestaitung des Abendlandes. — Sein
Gegner Methodius (Lycien und Tyrus) hat einige Fragmente auf uns vererbt. —
EusKBros von Cäsarea (Palästina) citirt zwar ungleich, gebraucht aber die ori-
genistischen Handschriften seines Freundes Pamphilus, bietet also alexandrini-
schen Text. Besonders ausgiebig sind die Citate der Demonstratio evangelica.
Seine Kirchengeschichto Hefert Bibelcitate frĂĽherer Schriftsteller; die BĂĽcher
gegen Marcellus zeigen, wie Marcellus selbst citirte. In der syrisch erhaltenen
Theophania sind seine eignen und die Lesarten des Uebersetzers zu unterscheiden.
n. Kap.: Vom textkrit. Apparat. II. Die Schriftsteller des kirchl. Alterth. 51
— HiLARiüs (Gallien) bietet altlateinische Texte, ebenso die vier folgenden
Schriftsteller. — Lucifer von Calaris füllt die gute Hälfte seiner Schriften mit
biblischen Citaten. — Ambrosiüs (Italien) kennt zwar mehrere lateinische Bibel-
texte, citirt aber stets aus einem und demselben Handexemplar, das einen aus
alexandrinischen und asiatischen Lesarten gemischten Text voraussetzt. — Am-
brosiaster stimmt dagegen mehr mit DFG. — Augustinus citirt die Briefe
genauer als die Evglien. — Aphraates (Ostsyrien) hat altsyrische Lesarten. —
Ephraem (Nisibis und Edessa) vertritt den Text der Peschito mit altsyrischen
Varianten. Doch kommen seine Werke auch in Betracht, sofern sie frĂĽh ins
Griechische übersetzt wurden. — Constitutiones apostolorum (Syrien) bereichern
ihre älteren Vorlagen mit reichlichen Citaten. — Gregor von Nazianz gibt, wie
alle griechischen Väter seit 350, einen gemischten Text. — Gregor von Nyssa
gewährt geringe Ausbeute. — Basilius bietet in seinen YjO-wa Auszüge aus dem
NT, hat auch mehrere alte Handschriften angesehen und merkt zu Eph 1, 1 die
Variante ausdrücklich an (Contra Eunomium 2, 19). — Apollinaris gibt in
xGtxa {xlpo? TC'.axci; ältere Lesarten. — Athanasius hat den spätem alexandrinischen
Text. — Epiphanius (Cypern, Palästina) gehört zu den wegen mangelhaften
Index erst ganz neuerdings in Untersuchung gezogenen Vätern. — Cyrillus
von Alexandria, der Erklärer des Joh, bleibt sich in seinen Citaten meist gleich.
Seine HomiHen zu Lc haben sich zum grössten Theil nur syrisch erhalten und
sind demgemäss in den Citaten einigermaassen durch Peschito beeinflusst. —
DiDYMUS von Alexandria war blind und citirte folglich aus dem Gedächtniss. —
IsiDOR von Pelusium ist wenig zuverlässig, da er nur in Excerpten auf uns ge-
kommen ist. — NoNNUS von Panopolis hat eine Paraphrase zu Joh in Versen
geschrieben, welche Textkritiker und Archäologen mehr interessirt, als Poesie-
freunde. — Chrysostomus (Äntiochia) ist von Belang als Exeget von Mt, Joh,
Act und Plsbriefen, zumal da auch die Handschriften seiner Homilien sehr alt
sind. — DiODOR von Tarsus ist meist verloren gegangen. — Theodor von
Mopsuestia, von dessen Commentaren sich nur Fragmente in den Catenen und
einige Plsbriefe in lateinischer Uebersetzung erhalten haben. — Theodoret von
Cyrus basirt auf Chrysostomus und Theodor, gibt also den syrischen Text; fĂĽr
die Textkritik kommt er schon darum wenig in Betracht, weil Abschreiber und
Herausgeber seine Citate dem später herrschenden Text accomodirt haben. —
Die Kappadocier Andreas und Arethas sind wenigstens fĂĽr Apc so wichtig
wie im Abendlande Victorinus von Petabio und PrimasiĂĽs. Letzterer gibt einen
vollständigen afrikanischen Text. — Einiges Material bieten noch Johannes von
Damaskus (f 754), Photius (f 891) und Suidas (um 1000). — Die späteren grie-
chischen Exegeten liefern hauptsächlich Compilationen aus den Kirchenvätern.
So Oekumenius von Trikka (f 990) und Theophylakt (seit 1070 Erzbischof der
Bulgaren, der Vulgarius auf dem Titel des Erasmischen NT), welche den späteren
byzantinischen Text vertreten; auch Euthymius Zigabenus (um 1120) zieht blos
ältere Erklärer der Evglien aus. — Die Scholien des byzantinischen Mittelalters,
kurze, von MatthIi in seinen Ausgaben veröffentlichte Anmerkungen am Rande
der Handschriften. — Die Ketten (osipai, catenae) sind Scholien, aus den Com-
mentaren der Väter gezogen, ohne den Text in besonderen Handschriften
zusammengestellt. Hier haben sich Fragmente aus zahlreichen verlorenen
Schriftstellern erhalten. Gleichwohl fliesst für die Kritik nur eine spärliche
Ausbeute. — Gleiches gilt von den Citaten in Concilien - Acten , worüber vgl.
Edel, Collatio critica locorum Nov. Test, qui in actis concil. graec. laudantur 1811.
4*
52 Geschiclite des Textes.
III. Von den alten Uebersetzungen.
Sofern Uebersetzungen eine RĂĽckĂĽbersetzung ins Griechische
verstatteU; legen sie wenigstens ein mittelbares Zeugniss fĂĽr die Be-
schaffenheit des griechischen Urtextes ab. Daher wörtliche Ueber-
setzungen für unseren Zweck von grösserem Werthe sind als gute
und geschmackvolle (vgl. S. 17 f). Da insonderheit Itala und Peschito
älter sind als unsere ältesten Handschriften, würden diese und ähn-
liche Uebersetzungen von grösstem Gewichte für die Beurtheilung
des Textes sein, wenn nur nicht sofort der Uebelstand wiederkehren
wĂĽrde, dass auch die Handschriften solcher Uebersetzungen Differenzen
aufweisen, namenthch aber vielfach dem Verdacht unterhegen, beson-
ders an dogmatisch wichtigen Stellen dem späteren griechischen
Urtext oder der lateinischen Yulg. conformirt worden zu sein, sei
es auch erst beim Druck. Ehe man daher eine Uebersetzung be-
nutzen kann, muss wieder ihr eigener Text durch vorläufige Kritik
gesichert sein, so dass das Geschäft sich hier verdoppelt. Von
besonderem Gewichte werden darum nur solche alte Uebersetzungen
sein, welche sich zugleich in alten Dokumenten erhalten haben, wie
dies wenigstens bei der lateinischen der Fall ist. Es ist z. B. möghch,
dass diejenigen Zeugen der Itala, welche Mr 6, 45 vor Bethsaida
;rp6c bald auslassen, bald durch aTuö ersetzen, dem nichtigen näher
kommen, als unser jetziger Text (H. Holtzmann JprTh 1878,
S 383 f). Aber auch dem Zeugnisse anderer Uebersetzungen kann
unter besonderen Umständen eine gewisse Beweiskraft zukommen,
selbst wenn ihm griechische Handschriften kaum zur Seite stehen.
Es gilt dies z. B. von der koptischen, welche im Grunde allein mit
B den jetzt recipirten Text Mr 2, 22 aTuöXXümt xal ol aaxot vertritt.
Wenn Mr 7, 4 ein arabischer Uebersetzer statt des in den ältesten
Urkunden und in der koptischen Uebersetzung ganz fehlenden %al
xXivwv las %al zXiĂźdvwv, so liegt die Frage nahe, ob neben Bechern
und Kesseln, die abgespült werden, Töpfe nicht passender stehen
als Bettlager.
Die Eintheilung der Uebersetzungen in unmittelbare und mittel-
bare berührt uns hier nicht, weil wir es selbstverständhch nur mit
ersteren zu thun haben. So ist z. B. die angelsächsische Ueber-
setzung trotz ihres Alters doch auszuscliHessen als Tochter der Itala,
so dass wir nur diese und die Yulgata unter der Kategorie der
occidentalischen Uebersetzungen aufzufĂĽhren haben.
H. Kap.: Vom textkritischen Apparat. III. Von den Uebersetzimgen. 53
1. Morgenländische Uebersetzungen.
1. Syrische Uebersetzungen.
No. 1. Die aus koptischen Klöstern der nitrischen "Wüste in Aegypten in
das britische Museum verbrachten 82\'2 Blätter, welche etwa im 5. Jahrh. ge-
schriebene Fragmente der Evglien enthalten, herausgegeben von Cureton (Re-
mains of a very ancient recension of the four gospels in Syriac 1858; BrĂĽgsch
fand 1871 noch 3 dazu gehörige Blätter, veröffentlicht in den „Monatsberichten
der Berliner Akademie'' Juli 1872 durch Rödiger) stellen eine freiere Ueber-
setzung dar als Peschito, welche nach Cureton, Ewald, Tischendorf, Tregelles,
Hermansen, Alford, Crowfoot und Hort, besonders auch Zahn (Forschungen
I, S 221 f, 292. n, S 273) jĂĽnger, dagegen nach Scrivener und Lehir (EtĂĽde
1859) älter als der Syrus Curetonis (Syrc«»-) wäre. Vgl. darüber Wildeboer, De
waarde der syrische evangehen 1880. Nestle, RE 2. Afl XV, 1885, S 192 f.
F. Bäthgen, Evangelienfragmente. Der griechische Text des Cureton'schen Syrers
wiederhergestellt 1885. Da die Handschrift die Ueberschrift „Evangelium der
Getrennten" fĂĽhrt, so musste zuvor eine Mischung wie in Tatian's Diatessaron
bestehen. Diesem wollte das nach Bäthgen und Nestle etwa 250 entstandene
Werk entgegentreten, ohne sich allzuweit vom tatianischen Texte zu entfernen
(Hilgenfeld ZwTh 1883, S 119).
No. 2. Peschito, d.h. (nach Eichhorn „die wortgetreue", nach Bertholdt,
Hitzig, Nestle Vulgata, nach Geiger „die übersetzte") simplex, sincera, welcher
Name schon seit dem 9. Jahrh. in Handschriften begegnet, im Gegensatz zu
andern Uebersetzungen. Gregorius Bar-Hebräus leitet sie aus dem apostolischen
Zeitalter ab. Aber erst, im Verlaufe des 2. Jahrh. bildete sich eine syrische
Literatur aus, zu deren ältesten Vertretern die Gnostiker Bardesanes und Har-
monius gehören. Man lässt Peschito daher frühestens gegen Schluss des 2. Jahrh.
(Wichelhaus, De NT versione syriaca antiqua, quam Peshito vocant 1850, S 63.
Tischendorf, Wann wurden u. s. w. S 9 f, aber auch Rödiger, EWK Sect. ITT,
Bd 18, S 292 f), lieber doch erst im Verlaufe oder gegen Ende des 3. Jahrh.
(Hengstenberg, Die Offenbarung des h. Joh. 2. Afl. II, S 416 f. Hilgenfeld,
Einl. S 111 f, 804. Reuss II, S 28, 168 f), neuerdings sogar erst in der Mitte
des 4. Jahrh. entstehen (Bäthgen, Nestle). Nicht vor 350 scheint sie mit au-
toritativem Charakter aufgetreten zu sein und frühere Uebersetzungen verdrängt
zu haben; bei Ephraem heisst sie schlechtweg „unsere Uebersetzung". Als un-
mittelbar legitimirt sie sich durch Beibehaltung griechischer Wörter und durch
Fehler, welche direkte Erklärung aus dem Griechischen verlangen. Um mancher
Differenzen im Ausdrucke willen haben ältere Gelehrte eine Verschiedenheit
von Uebersetzem in Bezug auf Evglien und Briefe angenommen, während mau
neuerdings die Einheit des Ucbersetzers wenigstens fĂĽr das NT, vielleicht Hbr
ausgenommen, wahrscheinlich findet (Wichelhaus S 86 f). Der Text erliegt
dem Verdacht, durch die gelehrten Antiochener nach ihren griechischen Hand-
schriften modificirt worden zu sein (schon Griesbach, neuerdings besonders
Westcott und Hort, NT S 547, 552. Introd. S 84 f, 135 f, 156), in welchem
Falle ihr textkritischer Werth sich bedeutend reducirt, während es nicht mehr
auflällig befunden werden kann, dass er bald mit älteren occidentalisclien Zeugen,
l)ald aber auch mit Cod. A stimmt. Es fehlen nicht blos Interpolationen, wie
1 Joh 5, 7 und Joh 7, 53 — 8, 11, sondern auch ganze Bücher (2 Pe, 2 und 3
Joh, Jud, Apc); die aufgenommenen stehen in der Ordnung: Evglien, Plsbriefe,
54 Geschichte des Textes.
Act, Jac, 1 Pe, 1 Joh. Die Editio princeps des syrischen NT veranstaltete der
österreichische Kanzler Albrecht "Widmanstadt zu "Wien 1555. Im gelehrten
Gebrauch erhielt sich zumeist die von LeĂĽsden und Schaaf (1708, 2. Asg 1717).
Der von letzterem abgefasste Theil (von Lc 18, 27 an) ist besser (daher das
Siglum Syr^). Die Bibelgesellschaft sandte den Ausgaben von Lee (1816 und
1823 — eine andere veranstaltete Greenfield 1828) noch eine für die Nesto-
rianer nach (1829); amerikanische Missionare folgten in Urmiah 1846, in New-
York 1874.
No. 3. Charklensisch-Philoxenianische TJebersetzung. Dieselbe Hess Phi-
loxenus (Xenaias), monophysitischer Bischof in Hierapolis (Mabug), um 508 von
seinem Chorbischof Polykarp abfassen, weil seine Partei, um die Peschito con-
troliren zu können, einer ganz wörtlichen TJebersetzung des NT zu bedürfen
glaubte. Aber die Philoxeniana ist trotz ihrer sklavischen Treue rasch verdrängt
worden durch eine Recension, welche 616 der „arme Thomas", ein palästinischer
Mönch aus Charkel (Heraclea), in Alexandria mit Hilfe von zwei oder drei
correcten Handschriften bewerkstelligt hat (Versio Heracleensis). Derselbe be-
fleissigte sich eines noch weiter gehenden, selbst Geschmacklosigkeiten und
Sprachwidrigkeiten nicht scheuenden Haftens am Buchstaben des (spätalexan-
drinischen) Textes. FĂĽr die Kritik wĂĽrde diese bereits auch 2 Pe, 2 und 3 Joh,
Jud enthaltende TJebersetzung daher von Werth sein, wofern sie nur in besserem
Zustande sich befände. Verwirrung entstand theils durch Hereinziehung der
an den Rand gesetzten Varianten, theils durch nachlässige Behandlung der
diakritischen Zeichen (Asteriskos und Obelos), welche Thomas gesetzt hatte.
Das Werk des Thomas hat White 1778 — 1803 edirt (im kritischen Apparat
Syr P(osterior)). Vgl. BERNSTEIN, De Charklensi NT translatione 1837, 2. Asg
1854 ; Das hl. Evglium des Joh syrisch in charklensischer TJebersetzung 1853.
Erst neuerdings ist aus dem Nachlasse von Julius Mohl die einzige Handschrift
bekannt geworden, welche die ganze charklensisch-philoxenianische TJebersetzung
enthält (zu Cambridge).
No. 4. Evangelium Hierosolymitanum (Syr ^^), ein 1030 in einem antio-
chenischen Kloster geschriebenes Lectionarium der Vaticana, BruchstĂĽcke der
Evglien bietend mit Lesarten, die von den anderen Versionen vielfach abweichen
und dafĂĽr mit den Uncialbibeln stimmen, entdeckt von Adler (Novi Testamenti
versiones Syriacae I, 1789, S 135 f), der sie um 500 ansetzt; Neuere noch
etwas später (z. B. Tregelles S 287), nur Zahn viel früher (Forschungen
I, S 329 f). Die Sprache der TJebersetzung nähert sich dem jerusale-
mischen Talmud und gehörte dem aramäisch redenden Volke des südlichen
Syriens an. Nach Westcott und Hort wäre die TJebersetzung nur theil-
weise von Peschito abhängig (Introd. S 85, 157); geringer taxirt ihren
Werth Wildeboer. Vollständige Ausgabe vom Grafen Minischalchi Erizzo
(Evangeliarium Hierosol. 1861—64, dazu Nöldeke Zeitschrift der deutsch-
morgenländischen Gesellschaft 1868, S 443 f). Einige in London und Petersburg
aufgetauchte Bibelfragmente in demselben christl.-palästinischen Dialekt bei Land,
Anecdota syriaca IV, 1875, S 103 f.
No. 5. Die karkaphische TJebersetzung (Versio montana) in einem 980
geschriebenen Codex der Vaticana, nach Cardinal Wiseman (Horae Syriacae I,
1828) die bei den jakobitischen Bewohnern des Bergdistriktes Segara gebräuch-
liche Recension der Peschito, deren Kanon übrigens hier in der ganz singulären
Ordnung Act, Jac, 1 Pe, 1 Joh, 14 Plsbriefe, 4 Evglien erscheint.
II. Kap.: Vom textkritischen Apparat. III. Von den ĂĽebersetzungen. 55
2. Aegyptische ĂĽebersetzungen.
Alexandria war langst Mittelpunkt griechischer Cultur geworden. Aber
im Volke erhielt sich die Landessprache, besonders in den sĂĽdlichen Theilen;
sie trat sogar in den ersten christl. .lahrh. wieder hervor und beschränkte das
Grriechische seit dem 4. Jahrh. auf das Gebiet von Alexandria. Daher das Be-
dĂĽrfniss nach koptischen Ăśebersetzungen, die vielleicht schon im Verlaufe des
3. Jahrh. entstanden sind und das NT geben in der Ordnung Evglien, 14 Pls-
briefe, 7 kath. Briefe, Act. Trotzdem, dass wir den alexandrinischen Text,
welchem sie folgen, genugsam aus Kirchenvätern und Handschriften kennen,
sichert ihnen ihr Alter einen hohen Werth. Neuestes im Recueil de travaux
relatifs k la philologie et ä l'archeologie IV, 1882, S 2 f . V, 1883, S 105 f.
VE, 1885, S 35 f.
No. 1. Die sahidische oder thebaische, d.h. oberägyptische, ist
nur in einzelnen Lesarten und BruchstĂĽcken bekannt. Solche gaben aus den
Evglien Mingarelli (1785 und 90) und Georgi (1789), aus den Briefen Munter
(1789). Alles sammelte Ford im Anhang zu Woide's Ausgabe des Cod. A (1799);
NachträgHches brachten Zoega (1810), Engelbreth (1811) und 0. v. Lemm (Bruch-
stĂĽcke der sahidischen BibelĂĽbersetzung 1885).
No. 2. Die memphitische oder bahirische, d.h. die niederägyptische,
auch vorzugsweise die koptische genannt, ist noch nicht nach dem ganzen Um-
fange des handschriftlichen Materials hergestellt (vgl. Lagarde, Orientaha I, 1879).
Das NT gab zuerst Wilkins heraus (1716), dann die Evglien Schwartze (1846 — 47),
Act und Briefe Lagarde (1851 — 52), das Ganze wieder R. T. Lieder unter den
Auspicien Tattam's (1847 und 52).
No. 3. Die basmurische oder elearchinische, neuerdings faiju-
misch genannte Uebersetzung existirt nur in BruchstĂĽcken, welche die schon
genannten dänischen Gelehrten Georgi, Munter, Zoega und Engelbreth ver-
öffentlicht haben. Indessen hat sie sich als abhängig von der sahidischen Ueber-
setzung herausgestellt, besitzt daher Gewicht höchstens, wo diese ausgeht.
3. Aethiopische Uebersetzung.
Die alte, jetzt nur noch beim Cultus gebrauchte Sprache (Geez) gehörte
urspi-ünglich einigen aus Südarabien eingewanderten Stämmen an, ist daher
semitisch. Als sie noch gesprochen wurde, bekehrte sich das Volk zum Christen-
thum, und es entstand eine Uebersetzung, nach Dillmann und Bleek im 4., nach
Westcott und Hort im 5., nach Gildemeister im 6. Jahrh. Dass ihre Lesarten
gemischt sind, kommt daher, dass die Uebersetzer mehrere Exemplare vor sich
hatten; ĂĽberdies hat sich der Text in sehr corrumpirter und interpolirter Ge-
stalt erhalten und scheint später dem Arabs Erpenii conformirt worden zu sein.
Das NT wurde 1548—49 in Rom, 1826—30 in Cambridge von Th. Pell Platt
herausgegeben.
Ein kleines BruchstĂĽck einer Uebersetzung im amharischen Dialect, durch
welchen die Geez verdrängt wurde, ist 1801 in Schmidt's Bibliothek für Kritik
und Exegese (I, S 307 f) bekannt gemacht und neuerdings von Tregelles be-
handelt worden.
4. Armenische Uebersetzung.
Nachdem schon zuvor eine Uebersetzung nach Peschito versucht worden
war, brachten 431 Joseph und Eznak vom Concil zu Ephesus eine griechische
Bibel mit. Hatte man sich vorher mit persischer oder syrischer Schrift be-
56 Geschichte des Textes.
holfen, so erfand fĂĽr die Sprache, die einen Zweig des Persischen darstellt,
jetzt Miesrob, veranlasst durch das Verbot der syrischen Schrift seitens der Perser,
ein eigenes Alphabet. Die Uebersetzung besorgten um 440 der Patriarch Isaak,
Miesrob und drei Greistliche, welche sich die Befähigung hiefür in Alexandria
erworben hatten: Joseph, Eznak und Moses von Chorene. Zu Grunde lag wohl
der alexandrinische oder kappadocische Text, aber von Anfang an ĂĽbte auch
Peschito einen begreiflichen Einfluss. Nach dieser soll später Gregorius Bar-
Hebräus im 13. Jahrh. die Uebersetzung geändert haben. Ebenso vermuthete
man Aenderungen nach Yulgata, als die Armenier sich der römischen Kirche
näherten. Aber die abendländischen Lesarten der Uebersetzung stimmen ebenso
oft mit Itala. Erst in den Druckausgaben begegnet ein ersichtlicher Einfluss
der Vulgata. Die erste dieser Ausgaben besorgte ein armenischer Geistlicher
aus dem Kloster Usci (daher UscAisrus), 1666 (die ganze Bibel) und 1668 (das NT)
zu Amsterdam. Als die besten gelten die Ausgaben der Mechitaristen auf San
Lazaro bei Venedig, wo schon seit 1789 Zohrab das NT und seit 1805 die ganze
Bibel herausgab.
5. Die georgische (grusinische) Uebersetzung entstand, als seit
dem 6. Jahrh. die Georgier die Schrift der Armenier annahmen. Aber schon ihre
Unmittelbarkeit ist zweifelhaft. Gedruckt wurde sie, unter Accomodation an die
slavisch-russische Bibel, zu Moskau 1743, von der Petersburger Bibelgesellschaft
1816—18.
6. Arabische Ueb ersetzungen wurden nöthig, seitdem die Araber
sich erobernd ĂĽber die Ursitze des Christenthums in Syrien und Aegypten aus-
breiteten und in Folge dessen die syrischen und koptischen Uebersetzungen
zurückgedrängt wurden. Eben desshalb sind aber die meisten arabischen aus
den letztgenannten geflossen. Von unmittelbaren Uebersetzungen existiren ver-
schiedene Formen der Evglien, welche aber wahrscheinlich nur eine einzige
Textgestaltung repräsentiren : 1) Arabs Romanus, der zuerst 1590 in Rom. ge-
druckte Text, nach der koptischen und nach der syrischen Uebersetzung inter-
polirt; 2) Arabs Erpenius, der erstmals im arabischen NT van der Erpe's 1616
stehende, 1829 zu London wieder abgedruckte Evglientext (Act und Briefe sind
dagegen aus der syrischen, Apc aus der koptischen Uebersetzung) ; 3) Arabs
Polyglottorum, 1645 in Paris erschienen, 1657 in London nachgedruckt ; 4) der
fĂĽr die Maroniten Rom 1703 mit syrischen Buchstaben gedruckte (karshunische)
Text; 5) Text der Melchiten, gedruckt 1706 in Haleb, 1727 in London; 6) die
1864 von Lagarde herausgegebene Wiener Evglienhandschrift. Die ĂĽbrigen
neutest. BĂĽcher, wie sie in den genannten Polyglotten abgedruckt sind, ent-
stammen einer anderen, ĂĽbrigens auch unmittelbaren, nach Hug in Cypern ent-
standenen Uebersetzung. Sowohl evangelische als apostolische Schriften zusammen
befinden sich in den Ausgaben des NT, welche die Propaganda in Rom 1671
und die ältere englische Missionsgesellschaft 1727 in London drucken Hessen,
nur dass die erste nach dem lateinischen, die zweite nach dem griechischen
Text Aenderungen erfahren hat. Vgl. Storr, De evangehis arabicis 1775.
Gildemeister, De evangehis in Arabicum e simpHci Syriaca translatis 1865.
7. Persische Uebersetzungen der Evglien existiren zwei, beide in
London gedruckt. Aber die der Polyglotte 1655 ist aus Peschito geflossen, die
1652—57 von Wheloc und Pierson herausgegebene ist zwar unmittelbar, aber
erst im späteren Mittelalter entstanden und im Druck mit Lesarten aus der
ereteren vermischt.
n. Kap.: Vom textkritischen Apparat. Hl. Von den Uebersetzungen. 57
8. Grothische Uebersetzung. Ulfila, geboren 313, wirkte seit 343
bis zu seinem 383 erfolgten Tode als (arianischer) Bischof unter seinen Lands-
leuten, den an die Donau vorgerĂĽckten Westgothen, die er mit einer Bibel-
übersetzung beschenkte, welche den ältesten Schatz der germanischen Literatur
bildet; Ihr lag ein griechischer Text von der Art des Cod. A. zu Grunde; wo
Abweichungen von diesem Typus statt haben, erfolgen sie in der Richtung von
Itala, welcher, nachdem die Grothen nach Italien herĂĽbergekommen waren, das
Werk des Ulfila noch weitere Concessionen zu machen hatte; von 1100 Vari-
anten im gothischen Mr stimmen 900 mit A, 450 mit B, 500 mit D (vgl. E. Bern-
hardt, Kritische Untersuchungen ĂĽber die gothische BibelĂĽbersetzung, 1864 und
1868 ; Vulfila oder die gothische Bibel 1875). Die Uebersetzung ist nur noch
fragmentarisch und zwar in dreifacher Gestalt vorhanden: 1) die Evglien im Codex
argenteus, einem wohl um 500 für die gothische Königsfamilie gefertigten Pracht-
codex mit regelmässigen grossen Uncialen, silbern auf purpurfarbenes Pergament
geschrieben und silbern eingebunden, ursprünglich 330, jetzt noch 187 Blätter
enthaltend; derselbe ist aus Italien nach dem Kloster Werden an der Ruhr,
vielleicht schon durch dessen Stifter Liudger (f 809), gebracht, von da aber vor
1600 nach Prag verschlagen, daselbst 1648 von den Schweden erbeutet und
nach Stockholm entfĂĽhrt worden, von wo er 1655 mit Isaak Voss nach Holland
wanderte, um 1669 auf dem Wege des Ankaufs durch den Grafen de la Gardje,
der ihn der Universität Upsala schenkte, den Rückweg nach Schweden zu finden.
Daselbst verlor er indessen noch 10 Blätter an einen englischen Forscher. Seit
1665 (F. JuNiĂĽs und Th. Mareshall) erschienen Ausgaben, die genaueste von
Uppström (1854 mit Nachtrag 1857). 2) Bruchstücke des Römerbriefes, gegen-
ĂĽber die Itala, 1758 von Franz Anton Knittel zu WolfenbĂĽttel in einem spa*
nischen Codex rescriptus, dem sog. Carolinus (S. 45) entdeckt und 1762 heraus-
gegeben (wozu Berichtigungen von Ihre 1763). Alles bisher Vorhandene fasste
1805 die Ausgabe von Zahn zusammen. 3) BruchstĂĽcke aus Mt und 13 Plsbriefen
(Hbr scheint nicht zur gothischen Uebersetzung gehört zu haben), entdeckt 1817
in mehreren Codices rescripti der Ambrosiana zu Mailand von Angelo IVIai und
von ihm (Ulphilae ineditum specimen 1819) und dem Grafen Castiglione 1829 — 39
nacheinander veröffentlicht; dazu gehören auch wenige Bruchstücke aus Esr und
Neh (die einzigen alttest. Reste) und eine 1835 von Massmann herausgegebene
Erklärung zu Joh (4 Palimpsestblätter befinden sich bis heute unentzifferbar zu
Turin), Gesammtausgaben veranstalteten Gabelentz und Lobe (1836 — 46),
Gaugengigl (1848, 2. Afl 1849), Massmann (1857), Stamm und Heyne (1858,
7. Afl 1879) und E. Bernhardt (1884).
9. Slavische Uebersetzung. Die gleichfalls aus dem byzantinischen
Text, aber buchstäblicher übersetzte slavische Kirchenbibel, angeblich von dem
Slavenapostel Cyrillus um 860 verfasst, 988 mit dem Christenthum auch nach
Russland gedrungen, erschien 1581 zu Ostrog, 1623 zu Wilna, seit 1663 zu
Moskau ; in neuer Recension 1751. Dobrowsky, der sie 1795 fĂĽr Griesbach ver-
glich, untersuchte sie (in dei*» Zeitschrift Slovauka 1814), später noch v. MuRALT
(1848). Die ältesten bekannten Evglienhandschriften — das 1056 geschriebene
Evangelistarium Ostromiriense und das vielleicht ebenso alte Evglienbuch zu
Rhcims - sind von Silvestre (1843), Wostokow (1843) und Hanka (1846)
herausgegeben worden. Zusammen mit der officiellcn Uebersetzung der geist-
lichen Akademie Hess die Petersburger Bibelfjesellschaft seit 1819 den alt-
slavischen Text drucken.
58 Geschichte des Textes.
2. Lateinische Uebersetzungen.
1. Yorhieronymianisohe ^).
Der zur Herstellung derselben zu Gebote stehende kritische
Apparat setzt sich zusammen:
1) aus Handschriften. Einschliesslich der meist auf vor-
hieronymianischem Grunde ruhenden, aber z. Th. selbstständige Cor-
recturen nach dem griechischen Text versuchenden Codices graeco-
latini (S 42 f) gibt es ihrer etwa 40. Die meisten enthalten Evghen
(4. — 11. Jahrh.) oder Plsbriefe (6. — 9. Jahrb.), nur wenige Act
(6. — 8. Jahrh.) oder gar den einen oder anderen der kath. Briefe
— Alles mehr oder minder fragmentarisch.
a. Vercellensis (Ev^lien), angeblich vom Bischof Eusebius Martyr von
Vercelli (f 371) geschrieben, herausgeg. von Irico 1748 und Bianchtni 1749,
jetzt in zerrissenem Zustande unter den Reliquien befindlich.
*) Erst seit etwa 200 Jahren existirt eine bestimmte Kunde von lateinischen
Texten neben und ausser Vulgata. Grundlegend waren die Arbeiten von Jean Mar-
TiANAY (Vulgata antiqua, latina et itala versio evangelii secundum Matthaeum e
vetustissimis eruta monumentis, Paris 1695, nämlich ft^), Giuseppe Bianchini
(Blanchinus) in dem zu Rom erschienenen Evangeliarium quadruplex latinae
versionis, nämlich a b f und £f^ (2 Bde 1749), Pierre Sabatier in Bibliomm
sacrorum latinae versiones antiquae sive vetus italica (3 Bde, zuerst in Rheims
1743, dann in Paris 1749—51 erschienen, der letzte enthält das NT). "Weitere
Verdienste erwarben sich (wobei vom AT abgesehen ist) HwiiD, Munter,
Semler, Griesbach, Matthäi, Alter, Angeld Mai (gibt h in Scriptorum
veterum nova collect, in, 1828, m in Spicilegium Romanum IX, 1843 ; Patrum
nova bibhotheca I, 2, 1852), I. P. Fleck (Anecdota critica 1837), Otto Fridolin
Fritzsche (Züricher Programm von 1867 und „Lateinische Bibelübersetzungen"
RE 2. Afl Vni, 1881, S 433 f), Tischendorf (Evangelium Palatinum 1847),
Ceriani (Monumenta sacra et profana 1861 und 1866) , H. F. Haase (Breslauer
Programme 1865-66), Guerrino Amelli (Un' antichissimo codice biblico 1872,
nämlich j), E. Ranke (beschreibt StKr 1872, S 505 f die von ihm in Chur
entdeckten, mit Cod. a stimmenden StĂĽcke, herausgegeben als Fragmenta anti-
quissimae evang. Lucani versionis 1872), Leo Ziegler (Italafragmente der
paulinischen Briefe 1876 ; BruchstĂĽcke einer vorhieronymianischen Uebersetzung
der Petrusbriefe 1877 ; Die lateinischen BibelĂĽbersetzungen vor Hieronymus und
die Itala des Augustinus 1879), J. Belsheim (Schätze der Stockholmer und
Petersburger Bibliotheken), H. Hagen (ZwTh 1884, S 470 f), T. K. Abbott (Evan-
geliorum versio antehieronymiana ex codice Usseriano 1884), John Wordsworth,
W. Sanday und H. J. White, welche Bentley's Plan mit Bezug auf Vulg. (vgl. S 66)
aufnahmen, wie denselben Tregelles, Westcott und Hort mit Bezug auf den
griechischen Text realisirt hatten (Old-latin biblical texts, d. h. Bibeltexte,
die vor Hieronymus im Gebrauch oder doch unabhängig von seiner Textbearbeitung
sind: Nro I g^ 1883. Nro. U a^ knopst 1886. Nro. III q 1887. In Frankreich hat
neuerdings P. Battd'ol die einst von diesem Lande ausgegangenen Forschungen
wieder aufgenommen (Revue archeologique 1885, S 305 f).
n. Kap.: Vom textkritischen Apparat. III. Von den Uebersetzungen. 59
a^ (auch t). Curiensis, Lc 11, 11—29. 13, 16—34 aus dem 5. Jahrh. herausgeg-
von E. Ranke 1872, 2. Asg 1874 und im Anschluss hieran von "Wordswoeth
und Sanday 1886.
b. Veronensis (Evglien), silberner Codex der Capitelsbibliothek zu Verona,
ebenfalls aus dem 4. oder 5. Jahrh. bei Bianchini.
c. Colbertinus in Paris, ein vollständiger Evglien-Codex, frühestens aus
dem 11. Jahrh. bei Sabatier.
d. Entspricht den beiden griech. Codices D.
e. Palatinus Vindobonensis, etwa ^/s der Evglien umfassend, Prachthand-
schrift, nordafrikanischer (cyprianischer) Text aus dem 5. Jahrh. ; herausgeg. von
Tischendorf 1847. Zu Act bedeutet e Laudianus (dem Grriechischen angepasst,
bei Sabatier), zu den Plsbriefen den Sangermanensis (mit Claromontanus bei
Sabatier).
f. Brixianus, Prachthandschrift der Evglien mit italienischem Text des
6. Jahrh. bei Bianchini. FĂĽr Plsbriefe Cod. Augiensis, Dagegen ff Codices
Corbeienses (Kloster Corbey in der Picardie) enthalten Mt und Jac (ff^ wesentlich
hieronymianisch, aber mit älteren Varianten, aus dem 8. bis 10. Jahrh., seit
1638 in St. Germain - des - Pres, seit 1805 in St. Petersburg, herausgeg. von
ÄIartianay in Paris 1695 und von Belshem in Christiania 1881 und 1883, Jac
insonderheit von Wordsworth 1885) und Evglien (ff^ nach Vulg. interpolirt aus
dem 6. Jahrh., jetzt in Paris, gedruckt bei Bianchini).
g. Entspricht für Plsbriefe dem Boernerianus, herausgeg. von Matthäi
(vgl. bezĂĽglich der originellen, zuweilen auch Vulg. zur Wahl bietenden Ueber-
setzung Rönsch ZwTh 1882, S 488 f. 1883, S 73 f, 309 f. ). Ausserdem be-
zeichnet g einen Codex von Act und fĂĽr Evglien 2 Codices Sangermanenses,
schon von den 3 Bahnbrechern der Itala- Wissenschaft vergUchen, darunter g^
ein gelegentlich nach Vulg. interpolirter Text, nach Hort sogar einfach Vulgata
herausgeg. von Wordsworth 1883.
gue. Guelferbytanus, WolfenbĂĽttler Fragmente (S 57).
h. Claromontanus, nunc Vaticanus, Mt aus dem 5. Jahrh., herausgeg. von
Angelo Mai 1828. Zu Act einige Blätter eines afrikanischen Textes.
i. Vindobonensis, Mr und Lc. aus dem 7. Jahrh., herausgeg. von Alter (bei
Paulus, Repertorium der bibl. und morgenl. Literatur EU, 1791, S 115 f; Memo-
rabilien VII, 1795, S 58 fj und von Belsheim 1885.
j. Saretianus, Stücke aus Jöh in durchaus selbstständiger Uebersetzung,
aus dem 4. oder 5. Jahrh, 1872 in Sarezzano entdeckt und beschrieben von
Amelli.
k. Bobbiensis, nunc Taurinensis, nordafrikanischer (cyprianischer) Text von
Mt und Mr aus dem 5. Jahrh., herausgeg. von Fleck 1837, Tischendorf 1847 — 49
und Wordsworth 1886.
1. Rhedigeranus in Breslau, Evglienfragmente aus dem 7. Jahrh. mit
älteren Elementen in einem wesentlich hieronymianischen Text, herausgeg. von
H. F. Haase 1865 - 66.
m. Speculum (Augustini), nordafrikanischer Text, Verzeichniss von Bibel-
stellen aus dem 6. Jahrh., herausgeg. von Mai 1852; Fragmente eines besseren
Textes auf dem britischen Museum.
n, 0, p. Fragmenta Sangallensia aus Mt, Mr und Joh, von Tischendorf
benutzte Reste aus dem 5. bis 8. Jahrh.; herausgeg. von Battifol 1885 und
White 1886.
60 Geschichte des Textes.
q. Monacensis (Evglien), italienischer Text aus dem 6. Jahrh., von Tischen-
dorf abgeschrieben. Dasselbe Zeichen gilt fĂĽr eine Handschrift, die Jac und
einige andere Fragmente von kath. Briefen enthält.
r. Fragmenta Freisingiana, nunc Monacensia, Plsbriefe betreffend, aus dem
5. und 8. Jahrh.. mit Augustinus stimmend, herausgeg von Ziegler 1876. FĂĽr die
Evglien ein gegen 600 geschriebener Codex, aus dem BĂĽchemachlass des Bischofs
UsHER aufbewahrt im CoUegium Trinitatis zu Dublin, mit den Varianten anderer
Dubliner Codices herausgeg. von T. K. Abbott 1884.
8. theils Ambrosianus (PaHmpsest) Lc 17 — 21 aus dem 6. Jahrh., herausgeg,
von Ceriani 1861 und Wordsworth 1886; theils Bobbiensis rescriptus, nunc
Vindobonensis, noch unedirte Blätter aus Act.
t. (sonst Curiensis, vgl. oben a^). Fragmenta Bernensia aus Mr 1 — 3 aus
dem 6. Jahrh., herausgeg. von Hagen 1884 und von Wordsworth 1886.
Gigas librorum Holmiensis, eine mancherlei enthaltende Riesenhandschrift,
dürfte ungefähr der Vorlage des Hieronymus entsprechen; hier allein auch Apc,
fĂĽr die man zuvor auf den Commentar des Primasius verwiesen war. Belsheim,
welcher aus diesem Cod. Act und Apc veröffentlicht hat (1879), gab auch den
Codex aureus (sive quattuor evangelia ante Hieronymum latine translata 1878)
heraus, ein PrachtstĂĽck der Stockholmer Bibliothek, wohl aber nur zu den
vielen Handschriften gehörig, welche die Uebersetzung des Hieronymus geben,
durchzogen von Nachklängen aus der alteren, hier mit c und mehr noch mit
dem Gigastexte stimmend. Zu diesem mehr zu Vulg. als zu Itala gehörigen
Material zählt auch der schöne Nürnberger Uncial-Codex mit einigen vorhierony-
mianischen Elementen (Dombart ZwTh 1881, S 455 f, 511f).
2) aus den zahllosen Gitaten lateinischer KirchenschriftsteUer
von Tertullian bis auf Gregor den Grossen (S 50).
BezĂĽglich ihrer Beurtheilung und Verwerthung ist freilich das Meiste noch
Gegenstand der Controverse. Unsere ältesten Dokumente für Itala finden häufige
Bestätigung ihrer Lesarten bei Tertullian und beim lateinischen Irenäus. Aber
wie verhält sich der bei Tertullian trotz aller Freiheit des Citirens durchschim-
mernde Text einer vorliegenden Uebersetzung zum lateinischen Irenäus? Und
zu dem noch aufTälligere Abweichungen bietenden Cyprian? Wenn andererseits
eine gewisse Verwandtschaft zwischen diesen älteren Repräsentanten der Ueber-
setzung zu Tage liegt, wie auch wieder zwischen der von Augustinus gebrauchten
Uebersetzung und der Grundlage des Hieronymus ein ähnliches Verhältniss
statt hat, woher stammen die vielen Differenzen zwischen diesen jĂĽngeren imd
jenen älteren Zeugen? Dazu die Hauptfrage: ist das Verhältniss der Ueber-
einstimmungen und Abweichungen unter den Citaten ein solches, dass auf einen
von den betreffenden Schriftstellern nur frei variirten Text, oder von der Art,
dass auf eine Mehrheit vorliegender Uebersetzungen geschlossen werden muss?
In dieser Beziehung stehen sich sogar die ausdrĂĽcklichen Zeugnisse des
Hieronymus und des Augustinus direct gegenĂĽber. Jener kennt eine gangbare
Uebersetzung, deren Texte aber schon vielfach von einander abweichen; daher
in der Praefatio in evangelia ad Damasum das Urtheil: tot sunt exemplaria
pacno quot Codices (so viele Textgestalten als Handschriften^ wozu in der
Praefatio in Josuam noch der Erklärungsgrund, dass unusquisque pro suo arbitrio
vel addiderit, vel subtraxerit, quod ei visum est. Augustinus dagegen schreibt
n. Kap.: Vom textkritischen Apparat. III. Von den Uebersetzungen . 61
in der Nachfolge von Hilarius und Ambrosius (Ziegler, Lat. BibelĂĽbersetzungen
S 11 f): latini interpretes nullo modo numerari possunt. Ut enim cuique primis
fidei temporibus in manus venit codex graecus et aliquantulum facultatis sibi
utriusque linguae habere videbatur, ausus est interpretari. An derselben Stelle
(De doctr. christ. 2, 11) ist die Rede von latinorum interpretum infinita varielas,
gleich darauf von diversi a se interpretes (12), von numerositas interpretum (16),
unter welchen wörtliche und blos sinnentsprechende unterschieden werden (13).
Und zwar vertheilen sich diese zahlreichen und selbstständigen interpretationes
auf verschiedene Gegenden der abendländischen Kirche, daher Codices aliarum
regionum (C. Faust 11, 2), insonderheit Codices afri (Retract. I, 21, 3). Augustinus
unterscheidet also die Uebersetzungen nach ihrem Vaterlande. Daraus versteht
sich die berĂĽhmte Stelle: in ipsis autem interpretationibus itala caeteris prae-
feratur, nam est verborum tenacior cum perspicuitate sententiae (De doctr. christ.
2, 15, was schon Isidorus Hispal. Etym. 6, 5 auf Vulgata bezogen hat). Da
nun die Form italus auch sonst (Mommsen, Rom. Geschichte V, S. 658) und
namentlich bei ihm selbst nachweisbar ist (Ziegler S 19), so sind alle Con-
jecturen (illa, italica, usitata) ĂĽberflĂĽssig. Offenbar hat sich der SchĂĽler des
Ambrosius an den italienischen Text gehalten, wie er ihn in Rom und Mailand
kennen gelernt hatte. Diesen latinus interpres, von welchem er häufig unter
der Voraussetzung redet, dass seine Leser dabei an eine allgemein bekannte
Uebersetzung denken, hat er wegen besserer. Sprache und grösserer Treue
anderen Uebersetzungen gegenĂĽber empfohlen und namentlich in Afrika einzu-
bĂĽrgern gesucht.
3) aus der Vulgata des Hieronymus, die sich möglichst eng
an die bisher gebrauchte Uebersetzung anschhesst. Andererseits
aber haben sich nicht blos die Citate der Väter vielfach der Vul-
gata accomodirt, sondern es besteht auch zwischen dieser und
den handschriftlichen Zeugen der Itala nur ein fliessender Unter-
schied.
Jedenfalls muss die Vergleichung aller uns zu Gebote stehender
Fragmente erst noch weiter fortgefĂĽhrt werden, ehe die Herstellung
eines Corpus versionum antehieronymianarum , speciell auch eine
Ausgabe der Itala versucht werden kann. Difficile est, ita diversos
a se interpretes fieri, ut non se aliqua vicinitate contingant: diese
schon von Augustinus (De doctr. christ. 2, 17) formulirte Schwierig-
keit erfordert, um gehoben zu werden, die Arbeit von noch mehr
als einem Menschenleben. Auch die Zeugen fĂĽr Itala enthalten ja
vielfach nur Versetzungen der Vulgata mit vorhieronymianischen
Uebersetzungsversuchen. Einstweilen besteht noch immer ein Gegen-
satz der Ansichten zwischen denjenigen Forschem, die mit Hiero-
nymus von einer varietas exemplarium, von verscliiedenen Recensio-
nen einer und derselben (in den meisten Apokryphen der Vulgata
noch erhaltenen) Uebersetzung reden (Sabatier, Bianciiini, Wet-
STEiN, Semler, Eichhorn, Wiseman, Lachmann, Tregelles,
Ăź2 Geschichte des Textes.
Tischendorf, Westcott, Scrivener, O. von Gebhardt, Ranke,
Reusch, Cornely, Schaff) und den anderen, die mehr die be-
deutenden Abweichungen der Codices untereinander berĂĽcksichtigend
mit Augustin an eine copia interpretum, an viele unabhängig von
einander entstandenen Uebersetzungen glauben (SixtĂĽs von Siena,
Ernesti, J. D. Michaelis, de Wette, Leander van Ess, Rieg-
ler, Scholz, Jahn, Herbst, Hug, Kaulen, Reithmayr, Reinkens,
Gams, Reuss, Ziegler, Corssen, Wordsworth). Daneben läuft
eine weitere Controverse ĂĽber das Vaterland, sei es nun der ein-
zigen, sei es der zu Hieronymus Zeiten siegreich gebliebenen Ueber-
setzung. FĂĽr das proconsularische Afrika, beziehungsweise Kar-
thago, stimmen Sabatier, Eichhorn, Wiseman, Hörne, Tregelles,
ScRivENER, Davidson, Westcott, 0. Fritzsche, Bleek, Lach-
mann, Tischendorf, Ott, Reuss, Rönsch, Hagen, Cornely;
dagegen fĂĽr ItaHen, beziehungsweise Rom, votiren Reithmayr, Gams,
Kaulen, Ziegler (S 22 f, 27 f), wenigstens gegen Afrika auch
Ranke (Par palimpsestorum Wirceburgensium 1871, S 428 f).
Schliesshch hat Sanday zwei von einander unabhängige Original-
übersetzungen (eine afrikanische und eine europäische) angenommen
und die vorhandenen Differenzen als individuelle und locale Ab-
wandlungen derselben taxirt (Oxforder Studia biblica 1885, S 233 f).
Wenigstens die unclassische Form weist keineswegs ausschliesslich nach
Nordafrika. Wie nämlich schon die Sprache, in welcher die Bibel griechisch
auftrat, keineswegs die BĂĽcher- sondern die Umgangssprache war, so reden auch
die erhaltenen Proben altlateinischer Uebersetzungen die Lingua quotidiana,
ru8tica> plebeia (ein Idiom, welches die Wurzel der romanischen Sprachen
bildet). Speciell aber liegt, ähnlich der Uebersetzung des AT durch Aquila,
der Werth der Itala fĂĽr die Kritik gerade in jener sklavischen Nachahmung
griechischer Constructionen, Attractionen etc. ja selbst Wortbildungen, wodurch
der Eindruck des Unclassischen erhöht wird. Mit rücksichtslosem Streben nach
Wörtlichkeit wird z. B. Rm 6, 23 x^P^'^M-« mit donativum, Em 8, 37 oTrepvtxäv
mit supervincere, Act 17, 18 oTcspfxoXoYo? mit seminiverbius, 1 Pe 4, 15 äWoxpio-
zTziov-oTzoi; mit alienispeculator, Eph 1, 12 irpoeXiriCstv mit praesperare, aber aller-
dings auch 2 Cor 7, 10 (ScixexafxsXYjToi; mit impaenitendus ĂĽbersetzt, was bei
Apulejus wiederkehrt und darum als Africanismus gewerthet wird. Eine um-
fassende Darstellung dieses Bibel-Latein gibt Rönsch, Itala und Vulgata 1869,
2. Afl 1875. Nachträgliches ZwTh 1868 S 76 f. 1869 S 220 f. 1871 S 592 f.
1872 S 466 f. 1875 S 425 f. 1876 S 287 f, 397 f. 1879 S 224 f. 1881 S 198 f.
1882 S 104 f. 1883 S 497 f. Dazu Ott Neue JahrbĂĽcher fĂĽr Philologie und
Pädagogik 1874 S 757 f. 1875 S 787 f. Allerdings mochte sich das Bedürfniss
nach einer Uebersetzung in Afrika noch frĂĽher und allgemeiner regen, als in
Rom, wo das Grriechische etwa 2 Jahrh. lang die oflficielle Sprache der Kirche
geblieben ist. Sonst aber lagen die Bedingungen im Abendland ungefähr gleich.
Wie man in den syrischen Synagogen das AT in die Landessprache ĂĽbertrug,
n. Kap.: Vom textkritischen Apparat. IH. Von den Uebersetzungen. 63
80 wird man in afrikanischen, italienischen und gallischen Juden- und Christen-
gemeinden die LXX und mit der Zeit auch das NT zunächst mündlich übersetzt
haben. Daraus gingen verschiedenerlei Uebersetzungen einzelner BĂĽcher und
Theile des NT hervor, welche zur Zeit der Kanonbildung zu einem Ganzen sich
zusammenschlössen. Dies muss in Afrika schon um 170 der Fall gewesen sein.
Denn Tertullian setzt dem Textus authenticus (vgl. oben S 25) eine lateinische
Uebersetzung entgegen, welche im gewöhnlichen Gebrauche war (De monog. 11
in usum exiit). Während diese aber z. B. Xo^o? mit sermo wiedergibt, möchte
er selbst ratio vorziehen (Prax. 5), wogegen die Grundlage des Hieronymus
verbum bot. Auch sonst macht sich ein erheblicher Unterschied zwischen
Tertullian's und Cyprian's Uebersetzung und derjenigen Augustin's bemerkbar
(Ziegler S 28 f, 39 f). Bei letzterem werden wir die eigentliche Itala zu suchen
haben, sei es nun als eine selbstständige Form der lateinischen Bibel im Gegen-
satze zur afrikanischen (Ziegler S 61 f), sei es als die in Italien (im Gegensatz
etwa zu Spanien, Gallien, Britannien) entstandene Recension der letzteren
(WisEMAN, Bleek, Fritzsche, Wordsworth, Rönsch, Das NT Tertullian's S 44),
näher als diejenige unter den jüngeren Textformen, welche Modificationen mit
RĂĽcksicht auf das griechische Original erfahren hat (Westcott und Hort,
Introd. S 78 f). An sie schloss sich jedenfalls Hieronymus an. Der sich gleich-
bleibende Grundcharakter in den meisten der zu Gebote stehenden Zeugen
spricht wohl fĂĽr eine zwischen der afrikanischen und der italienischen Form
bestehende Continuität, sowie überhaupt für die Annahme, dass das Ansehen
einer bestimmten Uebersetzung verschiedene andere Versuche, die theilweise
vielleicht schon mit ihrer BeihĂĽlfe unternommen worden waren (Kaulen, Langen
S 182) , zurückgedrängt habe, so dass Itala in sachgemäss beschränktem Sinn
allerdings eine Vulgata vor der Vulgata heissen könnte (Martianay: editio
antiqua vulgata). Aber stehender Ausdruck ist Vulgata (bei Hieronymus und
Augustinus = xo'.v-fj, wie LXX wegen allgemeiner Verbreitung hiess) erst seit
dem 13. Jahrh. fĂĽr die verbesserte Bibel des Hieronymus geworden.
2. Die Vulgata^).
Der verwilderte Zustand der Itala, deren Text mit jeder neuen
Abschrift neue Entstellungen erfuhr, erweckte das BedĂĽrfniss einer
durchgreifenden Revision. Mit diesem Geschäfte beauftragte der
römische Bischof Damasus den gelehrten Hieronymus, welcher sich
383 seiner Aufgabe zu entledigen anfing. Dieselbe fasste er dahin,
ut post exemplaria scripturarum toto orbe dispersa quasi quidam
arbiter sedeam et quia inter se variant quae sint illa, quae cum
graeca consentiant veritate, decernam. Während er übrigens das
AT noch einmal neu ĂĽbersetzte, veranstaltete er bezĂĽglich des NT
blos eine Recension der vorhandenen und gangbaren Uebersetzung
unter BerĂĽcksichtigung des Urtextes. Seiner Praefatio in evangelia
ad Damasum zufolge ging er auch sonst sehr vorsichtig zu Werke,
*) Leander van Ess, Pragmatische Geschichte der Vulg. 1824. Fr. Kaulen,
Geschichte der Vulg. 1868 ; Handbuch der Vulg. 1870.
64 Geschichte des Textes.
denn schon hört er Jedweden, doctus pariter et indoctus, cum in
manus volumen assumserit et a saliva, quam semel imbibit, viderit
discrepare quod lectitat, schreien: me falsarium, me esse sacrilegum.
Aus Furcht vor dieser Eventualität verfuhr er schon bei der Aus-
wahl der verghchenen alten griechischen Handschriften — ne mul-
tum a lectionis latinae consuetudine discreparent ^) — mit tenden-
ziöser Vorsicht, um schliesslich nur die gröbsten Sinnfehler zu be-
seitigen (ut bis tantum quae sensum videbantur mutare correctis
reliqua manere pateremur ut fuerant).
Manches, was nach eigener Ueberzeugung einer Aenderung be-
durft hätte, blieb stehen, wie er es denn überhaupt oft eilfertig beim
Nächsten bewendet sein Hess. Schon 383 waren die Evglien voll-
endet; wohl bald darauf das Ganze (Cat. 135: NT graecae fidei
reddidi. Epist. 71 ad Lucinium: NT graecae reddidi autoritati).
Nichts destoweniger fanden zahlreiche Gegner (Ep. ad Marc. 102 :
bipedes aseUi) es unrecht, die Gläubigen zu verwirren. Augustinus
that zwar dem gelehrten Freunde den Gefallen, seine Revision des
„Evangeliums" in einem etwa 403 geschriebenen Briefe (Ep. 71,
bei Hieronymus Ep. 104) zu begrĂĽssen. Sehr erbaut war aber auch
er nicht davon, und zumal im AT hielt er sich stets an die ältere
ĂĽebersetzung. Auch nachher noch leistete die afrikanische Kirche
Widerstand. Aber nachdem die römischen Bischöfe einmal für
die Neuerung eingetreten waren, setzten sie dieselbe auch in zwei-
hundertjährigem Kampfe durch ^). Isidorus Hispalensis führt die
revidirte Ăśebersetzung bereits als generaHter im Gebrauche an (Offic.
eccl. 1, 12). Beda, der sich um Herstellung des Textes von Act
bemĂĽhte, nennt sie nostra, und seit dem 8 Jahrb. wird Itala nur
noch ausnahmsweise abgeschrieben.
Um so häufiger dagegen erscheint der Text von Vulgata mit ihren Les-
arten vermischt, und so gab es bald wieder, nach der Aussage des Cardinais
Nicolaus, tot exemplaria quot Codices. Karl der Grosse beauftragte daher den
Alcuin mit einer Bibelrevision und empfing von diesem schon 801 einen ver-
besserten Text der Evglien. Er selbst beschäftigte sich in seinem Alter mit
Corrigiren von Handschriften. Nur wenige der unzähUgen Handschriften, in
*) Der Zusammenhang dieser Worte ist keineswegs durchsichtig. Vgl.
gegen die gewöhnliche, oben angedeutete, Erklärung Reithmayr S 270 und
Langen S 191 f.
^) Aus den Verschiedenheiten, die zwischen Vulg. und dem von Hiero-
nymus in den Commentaren vertretenem Text obwalten, will P. Corssen schliessen,
dass in Vulg. nur eine s]»ätere, vielfach zur Itala zurückkehrende Recension des
Werkes des Hieronymus vorliege: Epistola ad Galatas ad fidem optimorum
codicum Vulgatae recognovit 1885.
n. Kap.: Vom textkritischen Apparat, ĂĽ. Von den Uebersetzungen . 65
welchen der Vulgata-Text vorliegt, gehen der Alcuinischen Recension voran.
Aehnliche Arbeiten unternahmen im 11. Jahrh. Lanfranc, Erzbischof von Canter-
bury ; im 12. Abt Stephan Harding von Citeaux und Cardinal Nicolaus von Rom.
Mit dem 13. Jahrh. beginnen die sog. Correctoria biblica, Ausgaben der Vulg,
mit kritischem Apparat als „Elemente einer christlichen Masora" (Reuss II,
S 194). Man zog aus alten Handschriften, aus Vätern und Classikem, eine
Reihe von Scholien , sammelte Varianten , handelte von Aussprache und Inter-
punktion. Bei fortschreitendem Anwachsen solcher Notizen konnten sie bald
nicht mehr an den Rand des Textes gesetzt, sondern mussten besonders zusammen-
geschrieben werden. Zuerst veranstaltete ein solches Correctorium die Sorbonne
zu Paris mit der Sanction des Erzbischofs von Sens (Correctorium Senonense
1230). Dann warfen sich die Dominikaner auf das Geschäft; der vom Cardinal
Hugo a Santo Caro herrĂĽhrende Liber de correctionibus wurde vom Greneral-
kapitel zu Paris 1256 bestätigt. Gredruckt ist blos das Correctorium von Mag-
dalius Jacobus 1508. Aber die Verwilderung des Textes dauerte fort. Schon
1276 klagt wieder Roger Baco: quot sunt lectiones per mundum, tot sunt
correctores seu magis corruptores. Die ersten bedeutenderen Leistungen der
Buchdruckerkunst galten der lateinischen Bibel, welche anfänglich ohne Ort und
Jahreszahl erschien (wahrscheinlich zuerst 1455 zu Mainz durch Gutenberg-,
1460 zu Bamberg). Die älteste Ausgabe mit Datum ist die von Fust und Schöffer,
Mainz 1462, welche daher lange als Editio princeps galt.
Aber die Hunderte von Ausgaben, welche zwischen der Erfindung der
Buchdruckerkunst und dem Trienter Concil erschienen, Hessen nur den zerfahrenen
Text dieser Bibel deutlicher zu Tage treten. Ausserdem hatte schon Laurentius
Valla sein Augenmerk auch auf ihr Verhältniss zum griechischen Original
gerichtet und eine Berichtigung nach dem Grundtexte versucht (De coUatione
Novi Testamenti 1444, von Erasmus 1505 in Paris zum Druck befördert).
Freilich hatte er noch keinerlei Ahnung von Varianten auch des Urtextes und
so verwarf er vorschnell lateinische Lesarten, sobald sie nur eben nicht mit
seinem griechischen Codex stimmten. Ausserdem musste dem Humanismus
auch das Latein in Vulg. barbarisch klingen. Man stellte daher dem Text ent-
weder classisch geformte Paraphrasen zur Seite, wie Erasmus that, oder man
versuchte es mit neuen, dem herrschenden Geschmack entsprechenden Ueber-
setzungen, wie Castellio 1551. Aber auch der Cardinal Cajetan, der Bischof
Augustinus Steuchus und Santes . Pagninus machten der Vulgata Concurrenz,
während Andere sie wenigstens zu verbessern suchten, wie der Benedictiner
Isidorus Clarius (1542) und Robert Stephanus in seinen 8 Ausgaben der Vulgata
(seit 1528), welche von der Sorbonne (1548) für ketzerisch erklärt wurden.
Remedur gegen diese Uebelstände glaubte die Synode von Trient zu
schaffen, als sie am 8. April 1546, considerans, non parum utilitatis accedere
posse ecclesiae, si ex omnibus latinis editionibus, quae circumferuntur sacrorum
librorum, quaenam pro authentica habenda sit, innotescat, der Christenheit ver-
kĂĽndigte, ut haec ipsa vetus et vulgata editio, quae longo tot saeculorum usu in
ipsa ecclesia probata est, pro authentica habeatur; dazu der Befehl, dass diese
Alleinherrschaft ĂĽbende Au8ga])e auch quam emendatissime gedruckt werde.
Sogleich machten sich Privatpersonen an die Aufgabe, die im Princip beschlossene
Normalausgabe zu liefern. So namentlich die Löwener Theologen; es erschienen
1547 die Ausgabe von Johann Hentenius, 1573 die von Lucas von BrĂĽgge,
welcher ein Manuscript des Dominicaner-Correctoriums benutzte, und 1692 ein NT.
Holtzmann, Einleitung. 2. Auflage. 5
66 Geschichte des Textes.
Aber päpstliche Approbation konnten diese Arbeiten nicht finden. Pius IV.
setzte vielmehr pro emendatione bibliorum eine Commission nieder, deren Ar-
beiten Vercellone später veröfifentlicht hat. In der That war man hier kritisch
zu Werke gegangen, indem man bessere Handschriften, ferner lateinische Väter
und auch andere Uebersetzungen berĂĽcksichtigte. Aber schon Gregor XIII.
sistirte die Arbeiten der Commission. Erst Sixtus V. nahm die Sache wieder
auf, um sie mit neuen Mitteln viel rascher zu Ende zu fĂĽhren, indem er die
Druckbogen selbst corrigirte und ĂĽber die Lesarten entschied. Seine Kirchen-
ausgabe erschien 1590 mit vorangedruckter Bulle Aeternus ille vom 1. März 1589,
in welcher sich der Papst auf die dem Nachfolger des Petrus verheissene Un-
fehlbarkeit beruft und jedweden Aenderungsversuch mit dem Zorn Gottes bedroht.
Zuvor hatte man gegen 50 der vom Papst verschuldeten Fehler, (ihre Gesammt-
zahl wird auf etwa 2000 geschätzt) durch Feder, Radirmesser oder Unterklebung
mit Blättchen unschädlich zu machen versucht. Als Gregor XIV. 1591 berieth,
was mit der verunglĂĽckten Ausgabe anzufangen sei, wurde der Vorschlag laut,
sie zu vernichten. Aber Bellarmin fĂĽhrte aus, dass man damit der Ehre des
Papstes zu nahe trete; er schrieb daher zu der neuen Ausgabe, welche unter
Clemens VIII. 1592 erschien, eine Vorrede, welche die Thatsache einiger Fehler
in der Sixtina zugab, sie aber lediglich den Druckern und untergeordneten
Personen aufbĂĽrdete, deren Vergehen schon Sixtus V. bemerkt, aber wegen
eingetretenen Todes nicht mehr habe unwirksam machen können — eine pia
fraus, deren sich der Cardinal in seiner Selbstbiographie rĂĽhmt, die ihn aber doch
um den Ruhm der Heiligsprechung brachte. Thatsächlich ist die Asg von 1590
ganz selten geworden, die Bulle aber hat weder in die neue von 1592, noch in
das Bullarium Aufnahme gefunden, ist also mit der Sixtina stillschweigend unter-
drückt worden , während ein von der älteren Asg abweichender Text in der
Sixtino-Clementina in weit maassvolleren AusdrĂĽcken Approbation fand. Aber
nur die auffälligsten Blossen des früheren Werkes waren verdeckt. Die neue
Asg selbst enthielt gegen 200, die nächste von 1593 sogar noch mehr Druck-
fehler. Erst mit der 3. Clementina von 1598 war der Text endgĂĽltig festgestellt,
während zu allen dreien Indices correctorii beigefügt wurden. In kritischer
Beziehung hatte Clemens möglichst den Mittelweg aufgesucht, und das schliess-
lich gelieferte Werk darf trotz seines zu vertrauensvollen Anschlusses an die
schon vorhandenen Drucke (besonders Hentenius) als fĂĽr seine Zeit anerkennens-
werth gelten ^).
Um Variantensammlung haben sich seither verdient gemacht die Heraus-
geber des Hieronymus Martianay (1692—99), Vallarsi und Maffei (1734—42),
auch BiANCHiNi (Vindiciae canonicarum scripturarum 1740). Bentley wollte dem
griech. NT den wiederhergestellten Text des Hieronymus zur Seite stellen, was
Lachmann und Buttmann (1842—50), Tischendorf in der Triglotte (seit 1854)
theilweise ausfĂĽhrten. Katholischer Seits wurde neuerdings die Sixtino-Clemen-
tina besonders von Vercellone in Rom behandelt (Variae lectiones Vulgatae
latinae Bibliorum editionis, 2 Bde 1860—62) und herausgegeben (Biblia sacra
vulgatae editionis 1861; das NT Freiburg 1868). Unter den Urkunden, auf
*) Vgl. Thomas James, Bellum papale sive concordia discors Sixti V et
Clementis VHI 1600 (1678). Janus (von Döllinüer, Friedrich und Huber) 1869,
S 65. Hergenröther, Antijanus 1870, S 60. Reusch im Bonner Theol. Literatur-
blatt 1870, S 413 f.
m. Kap.: Geschichte des gedruckten und des recensirten Textes. 67
welche sich eine, ĂĽber diesen officiellen Text hinausgreifende, kritische Asg der
Vulgata zu stützen hätte, steht in erster Linie der 541 — 46 geschriebene Codex
Fuldensis, welchen Bischof Victor von Capua fertigen Hess und eigenhändig
corrigirte (wahrscheinlich von Bonifatius gebraucht, jetzt auf der Bibliothek zu
Fulda, herausgeg. von Ranke 1868); seither ist der lateinische Text in zahl-
reicheren Handschriften als der griechische fast von Hand zu Hand ĂĽberliefert.
FĂĽr gleichen Alters galt lange der schon fĂĽr die Sixtino-Clementina benutzte,
von Tischendorf (NT 1850, 2. Asg 1854) herausgegebene Cod. Amiatinus (aus
der Abtei Amiati in Etrurien, jetzt in der Laurentiana zu Florenz) ; aber Langen
(Bonner Theol. Literaturblatt 1868, S 97 ; Einl. S 193), Hamann (ZwTh 1873,
S 596) und P. de Lagarde (Mittheilungen 1884, S 379 f) weisen dieses kalli-
graphische Meisterstück erst dem 7. — 9. Jahrh. zu. Vorher noch kämen dann
in Betracht fĂĽr die Evglien Cod. Forojuliensis (Vulg. mit Reminiscenzen aus
Itala), fĂĽr die Plsbriefe Cod. Vaticanus Reginensis, beide aus dem 6. Jahrh.,
und zum ganzen NT der dem 8. Jahrh. angehörige Toletanus ; z. Th. schon von
BiANCHiNi verglichen (1740 und 49).
Drittes Kapitel: Geschichte des gedruckten und des
recensirten Textes.
Vergl. neben den Prolegomenen zu den kritischen Ausgaben (besonders
Tischendorf-Gregory 1884) E. Reuss, Bibliotheca Novi Testamenti graeci 1872
(gibt eine Liste von 584 Asgn, dazu 151 Titelasgn, darunter enthalten 501 und
139 das ganze NT; selbst im Besitze von 582, resp. 484, Asgn hat er noch 111
andere zur Vergleichung herbeigezogen und das gegenseitige Verhältniss der in
24 Classen getheilten Asgn an 1000 wichtigen Stellen festgestellt). Ergänzend
J. Hall, American greek testament, a critical bibliography of the greek New
Testament as published in America 1882 (zählt seit Anfang des Jahrh. 257 Asgn,
darunter 150 vollständige). Derselbe gibt bei Schaff (A companion to the greek
Testament 1883, S 497 f) eine vervollständigte Liste aller Gesammtasgn. Katho-
lischer Seits besonders HĂĽndhausen, Editionen des neutest. Textes und Schriften
zur neutest. Textkritik seit Lachmann (Literarischer Handweiser 1882).
1. Editionen principes.
Die Entwicklung des gedruckten Textes weist lange nur zuĂźillige
Resultate unsicheren Umliertastens auf. Der kritische Apparat wird
nur sehr allmälig bekannt und erst seit 200 Jahren in weiterem
Umfange benutzt. Noch länger dauert es, bis man zu einem metho-
disclien Verfahren gelangt oder gar das, was man bereits wusste,
auch offen auszusprechen wagt. Zumal im 16. und 17. Jahrh. be-
gnĂĽgt man sich mit dem geringfĂĽgigsten Material, und bis zu Beginn
des 18. ruhen alle Asgn auf den beiden Editioncs principes. Durch
diese ist im kritischen Apparat eine kleine Zahl ganz junger Hand-
schriften vertreten, welche den Herausgebern zu Gebote standen.
6*
68 Geschichte des Textes.
Als solche Asgn gelten die Compluter und die Erasmische^). Jene bildet
Bd 5 der seit 1502 in 6 Bdn erschienenen Polyglotte, veranstaltet zu Complutum
(Alcala) durch den Cardinal Franz Ximenes ; schon" 1514 war das NT, 1517 das
ganze "Werk vollendet, aber die päpstliche Bestätigung erfolgte erst 1520, die
Veröffentlichung erst 1522. Einstweilen war Erasmus zuvorgekommen, veran-
lasst durch den buchhändlerischen Speculanten Johann Froben in Basel. Die
erste, im Laufe eines halben Jahres entstandene und nach eigenem Geständnisse
des Verfassers ĂĽbereilte, Asg (1516) nennt zwar auf dem Titel viele Codices und
9 Väter-, in der That aber hatte Erasmus, der es nie über 8 Manuscripte brachte,
blos 2 Basler Handschriften fĂĽr die Evglien aus dem 15., fĂĽr den apostolischen
Theil aus dem 13. oder 14. Jahrh. nach 2 anderen Handschriften (S 43) ge-
legentlich corrigirt und abdrucken lassen, dazu eine lateinische Uebersetzung
gefertigt.
FĂĽr Apc stellte ihm Reuchlin eine Handschrift, frĂĽhestens aus dem 13. Jahrh.
datirend, zur VerfĂĽgung; da dieselbe den Commentar des Andreas enthielt,
konnte er sie nicht zu unmittelbarem Abdruck befördern, sondern Hess eine
Abschrift fertigen, die er nach Gutdünken änderte und von 22, 16 an, wo dieser
Text abbrach, aus Vulg. ergänzte. Seitdem Delitzsch das Original der Erasmischen
Apc in der Oettingen-Wallerstein'schen Bibliothek gefunden hat, löste sich die
vermeintliche handschriftliche Bezeugung der eigenthĂĽmlichen Lesarten dieser
Asg in Dunst auf. Später fand die Asg noch vier Erneuerungen von 1519
(Luther's Quelle), 1522 (vgl. S 31), 1527 (Apc nach Complut. verbessert) und
1535 (Grundlage fĂĽr die folgenden, zumal die stephanischen Asgn), aber abge-
sehen vom correcter gewordenen Druck, nur ein geringes Maass innerer Förderung.
Durch beide Editiones principes ist übrigens eine verhältnissmässig junge
Capitel-Eintheilung, welche Cardinal Hugo a Santo Caro (f 1263) zum Gebrauche
fĂĽr seine Concordanz ĂĽber die Vulgata gefertigt hatte (nach Gregory S 164 f
war vielmehr Cardinal Stephan Langton f 1228 der Urheber), in Aufnahme
gekommen und in alle folgenden Asgn ĂĽbergegangen.
2. Das Jahrhundert zwischen Erasmus und Elzevier.
Aus der grossen Reihe der Wiederholungen, welche die Com-
pluter und viel mehr noch die Erasmischen Asgn fanden, sind nur
diejenigen von einiger Bedeutung, welche den Text durch freilich
meist geringfĂĽgige Modificationen nach neu benutzten Quellen fort-
bilden, wie besonders die voif Stephanus und von Beza veran-
stalteten.
Durch eine gewisse Selbstständigkeit ragt schon die Pariser Asg des
Simon de Colines (Colinäus) von 1534 hervor. Durchgeschlagen hat aber erst
das wissenschaftlich freilich tiefer stehende Unternehmen seines Stiefsohnes, des
Buchdruckers Robert Estienne (Stephanus), der die königliche Bibliothek in
Paris benutzte und von seinem gelehrten Sohne Heinrich unterstĂĽtzt wurde.
Aber nur in den Geschichtsbüchern hat er Selbstständiges geliefert; für das
Weitere zog er sich fast ganz auf Erasmus zurĂĽck. Diesen corrigireu die Asgn
») F. Delitzsch, Handschriftliche Funde 1861—62; Studien zur Ent-
stehungsgeschichte der Polyglottenbibel des Cardinais Ximenes 1871.
m. Kap.: Geschichte des gedruckten und des recensirten Textes. 69
von 1546 und 1549 (nach der Vorrede heissen beide mirifica) zuweilen nach
Complut. Den eigentlichen Stephanischen Text bietet erst die umfangreichere
3. Asg (1550 genannt regia), welche zwar den RĂĽckgang auf Erasmus noch fort-
setzt, aber Varianten gibt, zu welchen fĂĽr die Evglien erstmalig die Codices D
und L Beiträge liefern. Mittlerweile nach Genf übergesiedelt, gab Stephanus
hier 1551 eine griechisch-lateinische Asg heraus, welche die von ihm erfundene
Versabtheilung mit abgerĂĽcktem Texte in die Geschichte des NT einfĂĽhrt (Reuss
S 58: triste lumen nee posthac extinguendum). Direct an sie lehnen sich mit
geringen Veränderungen die zahlreichen Asgn an, welche Theodor Beza in Genf
veranstaltete, so dass Stephanus und er als die eigentlichen Urheber des sog.
Textus receptus zu gelten haben. Nachdem eine lateinische Asg von Beza als
erste vorangegangen war (1557), veröffentlichte er 1565 gleichzeitig eine Foho-
und eine Octav-Asg, jene der englischen Königin, diese dem Prinzen von Conde
gewidmet, beide griechisch-lateinisch. Die grosse wurde 1582, 1588 oder 1589
und 1598 (Quelle der autorisirten englischen Uebersetzung von 1611), die kleine
1567, 1580, 1590, 1604 und 1611 wiederholt. Nur jene weist seit 1582 Aende-
rungen auf, zu welchen die beiden Codices D, Uebersetzungen (Vulg. Pesch. Arab.)
und Kirchenväter Beiträge geleistet haben. Aber einen zusammenhängenden
Gebrauch hat er von seinem vermehrten Apparat so wenig gemacht als Stephanus;
zu festen kritischen Grundsätzen war der Mann der grossen That so wenig
gelangt, wie der buchhändlerische Praktiker; sowohl seine lateinische Ueber-
setzung wie sein Commentar setzen vielfach sogar einen besseren Text voraus,
als derjenige ist, den er seinen conservativen Glaubensgenossen bietet. Gleich-
zeitig mit dieser Textgestaltung erschienen Mischausgaben, wie die unter primärer
BerĂĽcksichtigung der Compl. von Christoph Plantinus in der Antwerpener
Polyglotte (zuerst 1571 in Bd 5, dann, etwas abweichend, 1572 in Bd 7, resp. 6
oder 8 des achtbändigen Werkes) gelieferte und die Beza folgende, wegen ihrer
Vorrede über die Gräcität des NT berühmte, von Heenrich Stephanus (1576,
mit einer anderen Vorrede 1587 und 1604).
3. Der Textus receptus.
Mit Beza hören die eigentlichen ßecensioneu; von welchen frei-
lich keine tief gegangen war, für längere Zeit ganz auf. Die fol-
genden Herausgeber kannten keine ĂĽber Nachbesserung bereits ge-
druckter Textformen unter willkĂĽrlicher Vertauschung der Lesarten
hinausliegende Aufgabe. Weitaus das meiste GlĂĽck unter ihnen
machten die Elzeviere, sofern erst (he reformirte, dann auch die
lutherische Theologie, der Macht der Gewohnheit unterhegend, den
in gefälliger Form dargebotenen Text zu einer Art von autorisirter
Grundlage biblischer Studien erhoben.
Die Gebrüder Bonaventura und Abraham Elzevier, Buchhändler in
Leiden, haben ihren Text nicht, wie lediglich aus dem Titel geschlossen wurde,
aus der Regia, sondern aus den in Frankreich, England und Molland weit ver-
breiteten Handasgn Bcza's entlehnt. Die Editio prima erschien 1624, die correc-
teste 1633 mit der verhängnissvollen Von^ede : textum ergo habes nunc ab oranibus
receptum, in quo nihil immutatum aut corruptum. Freilich war dieser Textus
receptus eigentlich ein Phantom, da auch die Asgn der Elzeviere wieder viele
70 Geschichte des Textes.
Varianten aufweisen, auch gar nicht so oft (7 mal bis 1678, wozu aber zahlreiche
Nachdrucke kommen, die ĂĽbrigens selten ganz sklavisch verfahren) gedruckt
worden und namentlich in Deutschland erst allmälig in Aufnahme gekommen
sind. Ausserdem ist der Unterschied zwischen Beza-Elzevier und Stephanus-
Beza so gering, dass man den Rec. ebenso gut seit 1550 datiren könnte, zumal
da auch nach 1624 nicht wenige von der Elzeviriana unabhängige Asgn erschienen
sind. Erst mit der Zeit acceptirten die Theologen die Aussage jener Vorrede,
indem sie die gegen den InspirationsbegrifF rebellischen Varianten wie das Böse
in der Dogmatik unter den Begriff der göttlichen Zulassung stellten. Bemerkens-
werth ist dabei das Benehmen der Lutheraner in Deutschland. Hier hatten
die Texte von Erasmus durch Luther's Vorgang lang ein geheiligtes Ansehen
besessen. Daneben war noch Stephanus gebraucht worden, nicht aber der
reformirte Beza, welcher erst in verwandelter Gestalt, durch die gut ausge-
statteten und sauber gedruckten Leidener Asgn, zu Zeiten des Pietismus Auf-
nahme fand. Jedenfalls hatten das beste Geschäft die Buchhändler gemacht,
indem sie dem dogmatischen BedĂĽrfniss eine Anleitung zur Handelsspeculation
entnahmen.
Ganz an die Elzeviriana hielt man sich in Holland. Einen ungenauen
Varianten- Apparat aus den vorhandenen Drucken und Handschriften lieferte dazu
der Remonstrant Etienne de CoĂĽrcelles (CĂĽrcellaeĂĽs) seit 1658, ohne die
Autoritäten zu nennen, und Johann Leusden gab in seinen Asgn seit 1675 eine
Art (unnĂĽtzester) Masora dazu, indem er 1900 Verse bezeichnete, in welchen alle
Wörter des NT zusammenstehen, und äual Xs^6\isva darin notirte. In der
Pariser Polyglotte erscheint das fast ganz an den Antwerpener Vorgang sich
haltende NT als Bd 5 (erschienen in zwei Theilen 1630—33); ebenso enthält
Bd 5 der von Brian Walton besorgten Londoner Polyglotte (1657) das NT,
aber nach der Regia, dazu Variantensammlungen aus A, den beiden D und anderen
Handschriften (Bd 6).
4. Das Jahrhundert zwischen Mill und Griesbach.
Erst seit Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrh. fing man
wieder an, den Textquellen weiter nachzuspĂĽren und neben den
griechischen Handschriften auch die durch den Wiederaufbau der
orientalischen Wissenschaften in den Vordergrund gerĂĽckten Ueber-
setzungen, endlich auch die Textbelege, welche sich in den Werken
der Kirchenväter finden, genauer zu durchforschen, um zu dem Eesul-
tate zu gelangen, dass der NTliche Text statt der vorausgesetzten
Einheit vielmehr schon in den älteren und ältesten Urkunden eine
ungeahnte Mannigfaltigkeit von Gestaltungen darbietet.
Seit dem Erscheinen der Londoner Polyglotte werden neutest. Textstudien
zunächst in England weiter geführt, wo John Fell (1675, wiederholt 1703)
wesentlich den Text der Elzeviere mit Varianten herausgab, den Apparat der
Handschriften und Uebersetzungen vermehrend, das Zeugniss der Kirchenväter
ausschliessend. Nach seinem Tode (1686) trat John Mill in seine Fusstapfen,
um 14 Tage vor dem eigenen Hinscheiden 1707 gleichfalls zu Oxford eine Asg
zu veröffentlichen, welche auf Zeitgenossen und Nachkommen den Eindruck
abschliessender Vollendung machte. Der kritische Apparat war in einem damals
in. Kap.: Geschichte des gedruckten und des recensirten Textes. 71
beispiellosen Maasse benutzt, die Geschichte des Kanons und des Textes erzählt,
Autoritäten gewürdigt, Parallelen beigesetzt und zu der fast ungeändert auf-
genommenen Regia etwa 30 000 Varianten geliefert. Auch manche bewährte
Beobachtung, wie die gewisser verwandtschaftlicher Beziehungen des abend-
ländischen Textes zu Cod. A, weist auf Mill zurück. Aber bei näherer Be-
trachtung zeigte sich, dass seine Asg gelehrter aussah, als sie war. Die Hand-
schriften waren nicht sorgfältig genug verglichen, orientalische Uebersetzungen
nur nach dem in der Polyglotte daneben stehenden lateinischen Text beurtheilt,
Entscheidungen ungleichmässig getroffen. Uebrigens wurde sein Werk in ver-
besserter Gestalt von Lüdolf Küster in Holland wiederholt (1710), während
in London Bowyer seit 1715 zahlreiche AbdrĂĽcke veranstaltete, so dass Mill's
Text in England vielfach noch heute gelesen wird. Damals aber drängte die
Erweiterung und Ausbildung, welche der kritische Apparat durch Mill erfahren
hatte, rasch auch ĂĽber die durch seinen Namen bezeichnete Station hinaus,
indem schon Eduard "Wells in Oxford eine Asg veranstaltete, welche erstmalig
seit Beza im Texte selbst Aenderungen wagte und vom Rec. besonders in den
Briefen abwich (1709 — 19). Gleichzeitig (1713) führte sein Kampf mit dem
Freidenker Collins den grossen classischen Philologen und Professor der Theologie
zu Cambridge Richard Bentley auf das Project einer kritischen Asg des NT.
Seine Grundsätze, welche er 1716 dem Erzbischof Wake unterbreitete, ver-
langten Bevorzugung desjenigen Textes, welcher sich aus den ältesten Documenten
in Uebereinstimmung mit dem lateinischen Text des 4. Jahrh. nachweisen Hesse.
Seine in den Proposais for printing (1720) probeweise zu Apc 22 veröffentlichten
Lesarten haben sich fast alle bestätigt. Aber der in widerwärtige Fehden ver-
wickelte Gelehrte legte, nachdem er in John Walker einen unentbehrlichen
HĂĽlfsarbeiter verloren hatte, das Werk wieder aus der Hand, weil er es, wie
wenigstens theologische Gegner fanden, als unausfĂĽhrbar erprobt hatte. Aber
gleichzeitig (1729) lieferte Daniel Mace (Macey) ein durchaus selbstständiges
Werk, das wegen seiner auffälligen Abweichungen vom landläufigen NT seitens
der ChorfĂĽhrer der herrschenden Theologie (zumal Pritz und Baumgarten) als
abschreckendes Beispiel frivoler und blasphemischer WillkĂĽr in der Behandlung
heiliger Texte gebrandmarkt wurde. Ihm schliesst sich wĂĽrdig an die Asg
von Eduard Harwood (1776), welche zuerst die beiden Codices D genauer ver-
werthet und mit der Ueberlieferung völlig gebrochen, den Rec. mithin verlassen
hat. Beide Werke gingen freilich an den Zeitgenossen verloren und sind erst
neuerdings in ihrer vielfach prophetischen Bedeutung fĂĽr die Textkritik gewĂĽrdigt
worden. Einstweilen war die kritische Arbeit bereits von England ĂĽber Holland
nach Deutschland ĂĽbergegangen. Zu Amsterdam hatte 1711 (auch 1735) der
Bremer Syndicus Gerhard von Maestricht eine selbstständige Asg mit dem Texte
Fell's veranstaltet. BerĂĽhmter aber wurden seine schon 1706 aufgestellten
kritischen Regeln (Canones). Nach Holland flĂĽchtete auch der Basler Prediger-
sohn und Pfarradjunkt Johann Jakob Wettstein, nachdem ilmi des Professors
Frey Feldgeschrei, novimi hoc testamcntum redolere Socinianismum, die be-
absichtigte Edition, sowie den Aufenthalt in seiner Vaterstadt unmöglich gemacht
hatte. Aber auch in Amsterdam erschienen 1730 die Prolegomena ad NT graeci
editionem accuratissimam nur anonym, und wenn er seit 1733 am Seminar der
Remonstranten lehren durfte, so mussto er dafĂĽr versprechen, seine beabsichtigte
Asg zu unterlassen. Erst nachdem er 1744 einen Ruf nach der Vaterstadt ab-
gelehnt hatte, gestalteten sich seine Verhältnisse besser. Zwar musste das
72 Geschichte des Textes.
1751 — 52 kurz vor seinem Tode (1754) erschienene NT den Rec. reproduciren,
aber Prolegomena und Epilegomena (besonders herausgeg. von Semler 1764
und 1766) geben ĂĽber Textgeschichte und kritischen Apparat fĂĽr jene Zeit
ĂĽberraschend reichhaltige Auskunft (er hatte auf Reisen, die sich auch ĂĽber
England und Frankreich erstreckten, etwa 100 Handschriften, darunter viele
erstmalig, verglichen), und eine bescheidene und glĂĽckliche Auswahl von Varianten
kennzeichnet den von ihm empfohlenen Text. Diesem rĂĽckte die Asg des
Londoner Buchdruckers BowYER von 1763 („adstipulante "Wettstenio") wenigstens
in der Regel näher. Fleiss und G-elehrsamkeit erheben Wettstein über weitaus
die meisten seiner Arbeitsgenossen. Doch hielt er von latinisirenden Hand-
schriften und abendländischem Text allzugeringe Stücke, so dass er sogar gegen
Codex A misstrauisch wurde, als er dessen vielfache Uebereinstimmung mit
Vulg. zu bemerken glaubte. Auch zählte er die Lesarten mehr, als er sie wog.
Vor Allem aber war er nicht im Stande, den Gedanken der Gruppirung der
Handschriften zu wĂĽrdigen, welcher den einstweilen gemachten Fund der an-
hebenden deutschen Kritik bezeichnet. Hier nämlich hatten die angelegentlichen
Versicherungen der Dogmatiker, wonach die Varianten nur auf ganz äusserhche
Dinge, Wortfolge, grammatische Formen u. s. w. sich erstrecken sollten, ihre
einschläfernde Kraft dem zarten Gewissen des frommen und gelehrten Schwaben
Johann Albrecht Bengel gegenüber eingebüsst. Schon frühe „varietate lectionis
misere laceratus" machte er sich seit 1722 an die Textkritik als eine „res ardua
et religionis horrorisque plena". Da er aber begriff, dass es mehr, als auf
massenhafte Verbreitung, auf das Alter einer Lesart ankomme, gelang es ihm,
das Geschäft der Kritik wesentlich zu vereinfachen. Entscheidend war für ihn
in dieser Beziehung das Zusammentreffen der lateinischen Uebersetzung mit
Cod. A, besonders wenn sein Grundsatz „difficilior lectio praeferenda" eben-
dahin wies. Zuweilen mischte sich auch sein exegetisches Urtheil ein. Seine
Asg, mit dem Apparatus zuerst 1734 erschienen und nach seinem Tode (1752)
von Burk 1763 noch einmal herausgegeben, von 1734 — 1790 fünfmal als
Handasg gedruckt, benutzt und berichtigt den Apparat von Mill, zeigt sich
beeinflusst auch von Bentley, gibt aber nur in Apc auch solche Lesarten, die bisher
nirgends gedruckt waren. Die mitgetheilten Varianten ordnete Bengel nach ihrem
inneren Werthe in 5 Classen (a Ăź y ^ ^)j deren erste dem Rec. vorgezogene
und heute fast durchgängig aufgenommene Lesarten enthält. Sein grösstes Ver-
dienst aber stellt der Gedanke dar, die Lesarten auf bestimmte Classen oder
„Familien" (afrikanische und asiatische, ältere und jüngere) zurückzuführen ; denn
da ja oft mehrere Codices durch ein zu Tage liegendes Verwandtschaftsverhältniss
mit einander verbunden sind, kann eventuell ein einziger, ausserhalb der Gruppe
befindlicher, so schwer wiegen, wie viele zusammen. Diesen klaren und erfolgreichen
Wurf würdigte, während sonst alle Häupter des Pietismus und der Orthodoxie
gegen Bengel's Neuerung sich erklärten, Johann Salomo Semler, der Begründer
des eigentlichen Recensioneusystems, indem er den Gedanken eines Familien-
unterschiedes der Documente erweiterte und fortfĂĽhrte bis zur Unterscheidung
einer orientalischen Textrevision des Lucian und einer occidentalischen (Her-
meneutische Vorbereitung III, 1, 1765), von welcher er die alexandrinische Text-
gestalt erst allmählich sondern lernte (Apparatus ad liberalem NT interpretationem
1767). Obgleich er keine kritische Asg veranstaltete, hat er doch die Ueberzeugung,
dass der Text Beza's nicht infallibel sei, auf einer ganzen Reihe von Punkten
definitiv festgestellt und darin unmittelbar seinem SchĂĽler Griesbach vorgearbeitet.
in. Kap.: Geschichte des gedruckten und des recensirten Textes. 73
Ehe jedoch Griesbach durchschlug, veranstaltete Christian Friedrich
Matthäi 2 Asgn, indem er sich zugleich 1804 „über die sog.Recensionen" abschätzig
genug vernehmen Hess. Ohne Notiz von den Arbeiten Mill's und Wettstein's
zu nehmen, untersuchte er zu Moskau mit grosser Sorgfalt ĂĽber 100, vom Berg
Athos dahin gebrachte, bisher unbekannt gewesene Handschriften, von welchen
2 das ganze NT enthielten. Seither besass er fĂĽr den byzantinischen Text, wie
ihn seine Documente darstellten, ein ebenso gĂĽnstiges Vorurtheil, wie Griesbach
fĂĽr den alexandrinischen. Geblendet durch die ĂĽbereinstimmende Gestalt der
byzantinischen Handschriften verwarf Matthäi keck das Ansehen sowohl der
indirecten Ueberlieferung des Textes durch Citate und Uebersetzungen, als auch
der Uncialhandschriften, welche ihm alle von Origenes corrumpirt oder der Vulg.
accomodirt schienen. Indem er sich einfach nur an die Form der Handschriften
hielt, unterschied er : 1) Manuscripte mit dem Textus perpetuus, 2) Lectionarien,
nach kirchlichen Gesichtspunkten interpolirt, 3) Codices mixti mit Scholien und
Glossen oder Commentaren. Da alle Verunstaltungen des byzantinischen Textes
von solchem Beiwerk herrĂĽhren sollen, fand er die reinste Gestalt des Textes
in den Handschriften der 1. Classe, zumal den auf dem Berge Athos angeblich seit
dem 6. Jahrh. von klugen Mönchen angefertigten; nur in der Diöcese Kon-
stantinopel habe sich der Text von den Zuthaten der ägyptischen Grammatiker
frei erhalten. Nach solchen Gesichtspunkten gab er seinen, natĂĽrlich mit Rec.
ziemlich übereinstimmenden, Text zuerst in der grossen Asg von 1782 — 88
mit beigedruckter Vulgata, dann in der Handasg 1803 — 07, nach seiner Ueber-
zeugung laborem molestum invidiosum et infamem inter convicia ranarum et
latratus canum sustinens. Aber die gescholtenen ranae et canes hatten Recht,
wenn sie meinten, weder habe Origenes planmässig den Text corrumpirt, noch
sei der byzantinische Text durchaus unabhängig vom alexandrinischen. Die
Verdienste Matthäi's beschränken sich daher darauf, dass er den Apparat mit
neuem Material bereichert und eine Menge von Scholien und Fragmenten aller
Art bekannt gemacht, überhaupt innerhalb seiner Sphäre sehr genaue Arbeit
geliefert hat.
Auf katholischem Gebiete hatte man sich mit complutensisch-plantinischen
Asgn beholfen; auch die Versuche einiger Jesuiten (1740 in Wien und 1753 in
Mainz) und des Theologen Christoph Fischer (1777 in Prag) spielen keinerlei
Rolle in der weiteren Entwickelungsgeschichte des Textes, und die nach einem
"Wiener Minuskelcodex (Lambecii) gefertigte und mit Lesarten von 21 anderen
Wiener Handschriften versehene Asg des Exjesuiten Franz Carl Alter
(1786—87) ist ebenso ungenau und willkürlich gearbeitet, wie ungeschickt an-
gelegt, sofern die Collation nicht nach einem bekannten Texte gemacht wurde«
Eine ganz andere Ausbeute lieferten auf protestantischem Gebiete die dänischen
Gelehrten Andreas Birch, Jakob Georg Chr. Adler und Daniel Gotthilf
"^f oldenhaĂĽer , welche die Handschriften genauer beschrieben und auf einer
<,'edehnten kritischen Reise, besonders zu Wien, Venedig, Florenz, Rom
(vgl. S. 42) und im Escurial nicht wenig Stoff, zumal auch aus Uebersetzungen
(vgl. S. 54), herbeigeschafft haben. Aber nur die Evglien erschienen vollständig,
eine wesentliche Bereicherung des von Wettstein gesammelten kritischen Appa-
rates (1788); die Fortsetzung störte der Kopenhagener Schlossbrand von 1795.
Das gerettete Material erschien ohne Text als Variae lectiones zu Act und
Briefen (1798), zu Apc (1800) und zu den Evglien (1801).
74 Geschichte des Textes.
5. Die deutsche Arbeit der letzten 100 Jahre.
Seit Semler ist der Gedanke durchgedrungen, dass die Zeugnisse
nicht gezählt, sondern gewogen sein wollen; aber erst die Periode
welche durch die Namen Griesbach, Lachmann, Tischendorf gekenn
zeichnet ist, hat mit dem ohne wissenschaftHche Berechtigung her-
kömmlich gewordenen Text definitiv gebrochen und die Pflicht er-
kannt, ausschliesslich den Text der ältesten Documente zur Dar-
stellung und in Gebrauch zu bringen.
Auf Grund eines reicheren Apparates, als er einem der bisherigen Kritiker
zu Gebote stand , arbeitete Johann Jakob Griesbach von 1775 bis zu seinem
1812 erfolgten Tode in Jena. Schon in Halle hatte er De codicibus quatuor]
evangeliorum Origenianis (1771) geschrieben und die Synoptiker mit Apparat
(1774) herausgegeben. Unsynoptisch, aber sammt Act und mit Uebersicht des
Apparates und den kritischen Regeln, erschienen 1777 die Evglien, die ĂĽbrigen
StĂĽcke des NT schon 1775. Nachdem Curae in historiam textus epistolarum
Paulinarum (1777) und Symbolae criticae (1785 und 1793) dazwischen getreten,
kam die durchschlagende 2. Asg an's Licht (2 Bde, 1796 und 1806). Dieselbe
nimmt noch zur Grundlage den ohne Autoritätsangabe hingesetzten Rec. Unten-
stehende kurze Noten geben das ganze bis dahin gewonnene und vom Heraus-
geber erheblich vermehrte Material. Zwischen Text und Apparat finden sich
im inneren Rande theils diejenigen Lesarten des Rec, welche verworfen wurden,
theils solche Varianten, welche nach dem Urtheil des Herausgebers den recipirten
ebenbürtig sind. Eine Prachtasg nur mit ausgewählten Varianten erschien
1803 — 07. Dieser sog. Leipziger Text, welcher erst Griesbach's letztes "Wort
darstellt, ging ĂĽber in die Handasgn (1805 und 1825); dazu Synopsen (1797, 1809
und 1822). Eine neue, nur halbvollendete, aber in den kritischen Anmerkungen
verbesserte Asg besorgte David Schulz (1827), worin er sich, wie auch Bertholdt,
Eichhorn, Gabler und Matthäi thaten, gegen das Recensionensystem ausspricht,
welches Griesbach theils in den Prolegomenen, theils in dem Commentarius
criticus in textum Novi Testamenti (1798 — 1811) entwickelt und befolgt hatte.
Im Gegensatz zu seinem Vorgänger unterschied Griesbach drei Haupt-
richtungen oder Textformen, welche er im AnschlĂĽsse an Semler Recensionen
nannte, wiewohl nur die mittlere einen Anspruch auf diese Bezeichnung erheben
konnte. Zu der 1. occidentalischen Recension, einer mit exegetischen Glossen
ausgestatteten, hebraisirenden und insofern ursprünglicheren Textform, gehören
Itala, Handschriften wie D und was sonst einen Text, wie er vor der Sammlung
des Kanons war, zu repräsentiren scheint. Die 2. alexandrinische Recension mit
grammatischen, und stilistischen Correcturen, welche bei der Zusammenstellung
des euaY^eXiov und ötTCoaxoXtxov vorgenommen worden sein soll, ist repräsentirt
von Origenes und den alexandrinischen Vätern, von der koptischen, äthiopischen
und späteren syrischen Uebersetzung, namentlich aber von B C L, bei den Briefen
auch von A. Endlich die 3. byzantinische, gemischte Recension (BengeFs asia-
tische), welche ^^Jm des gesammten Materials, alle späteren Codices, Väter und
Uebersetzuugen umfasst, wird nach einer früheren Gestalt im 4. Jahrh. (reprä-
sentirt für die Evglien durch A) und nach einer späteren im 5. und 6. Jahrh.
unterschieden. Alle Zeugen, welche zu derselben Familie gehören, werden nur
fĂĽr Einen gerechnet. Stimmen alle 3 zusammen, so ist die Lesart nicht zweifei-
in. Kap.: Greschichte des gedruckten und des recensirten Textes. 75
haft; stimmen die 2 ersten untereinander, so muss die 3. weichen. Stimmt die
letztere mit einer der älteren, so ist zu untersuchen, ob die Variante zum eigen-
thümlichen Charakter der einen oder der anderen Recension gehört, in welchem
Falle sie zweifelhaft wird. Weichen alle 3 Recensionen von einander ab, so muss
nach inneren GrĂĽnden entschieden werden. Ganz consequent ist ĂĽbrigens
Griesbach diesen seinen Principien keineswegs geblieben, indem er vielfach
seinem philologisch-exegetischen Urtheil Raum verstattete. BegrĂĽndete In-
stanzen gegen seine Theorie und Praxis waren, 1) dass seine Recensionen nur
Hypothesen sind, sofern nur 2 kritische Recensionen historisch angezeigt sind
(Lucian und Hesychius) ; dagegen ist fĂĽr die Epoche, da der Kanon gesammelt
wurde, eine Recension nicht nachweisbar; wofern aber gleichwohl etwas der-
artiges stattgehabt haben sollte, vermöchten doch wir auf Grund von Hand-
schriften, welche um Jahrhunderte jĂĽnger sind, als die Zusammenstellung von
Evglien und Apostel, den Text, wie er vorher und wie er nachher aussah, kaum
mehr zu unterscheiden. Mag aber auch der allgemeine Gesichtspunkt, dem-
zufolge der Text sich in zwei örtlich zu unterscheidenden Richtungen entwickelt
hat, in Geltung bleiben, so wird doch 2) in concreto das Resultat in demselben
Maasse unsicher, als Handschriften falsch recognoscirt und gruppirt wurden.
Griesbach ist rasch bei der Hand gewesen, Vieles nur darum, weil es eben nicht
abendländisch ist, zur alexandrinischen Gruppe zu schlagen, während er anderer-
seits z. B. die sahidische Uebersetzung (vgl. oben S. 55) zu der occidentalischen
Classe rechnet. Auch geht das Geschäft, aus den selbst wieder untereinander
abweichenden Zeugen, welche zu einer Familie gehören, den ursprünglichen
Text, welchen diese Familie vertritt, ausfindig zu machen, keineswegs so glatt
von statten. Griesbach selbst gesteht zu, dass in keiner einzigen Handschrift
eine Recension in ihrer Reinheit auftrete. Dennoch gruppirt er die Hand-
schriften, als wären sie mit Geburtsschein versehene Glieder genealogischer
Reihen. "Wird aber die Grösse falsch bestimmt, welche die Lesart einer be-
stimmten Familie repräsentiren soll, so stellt sich damit die ganze Rechnung
falsch. Ueberdies verwandte Griesbach gerade auf die ältesten Codices nicht
die gehörige Sorgfalt und nahm es mit der grammatischen Seite des Textes zu
leicht. Jedenfalls aber Hess er sich 3) von der Fiction eines Textus receptus
noch allzusehr imponiren. Wenn er beispielsweise Jac 5, 12 6tcö xpioiv liest,
so stimmt dies zwar mit dem aus Colinäus und Beza von Elzevier übernom-
menen, allerdings besser beglaubigten Text; aber seit Stephanus geben 155
Asgn ÂŁt? ĂĽTCoxpio'.v, so dass letztere Lesart fĂĽr Griesbach mindestens ebenso gut
als Rec. hätte gelten können. Eine so zufällige Sache ist es um den Text, als
dessen Nachbesserung sein eigener erscheint. Immerhin hat er wie kein An-
derer die Frage nach sicheren Regeln fĂĽr die neutest. Textkritik in Fluss ge-
1 »rächt. Von ihm abhängig, wiewohl er ihn kaum nennt, ist im Allgemeinen
HuG, welcher eine vierfache Textgestalt unterscheidet. Erstens einen älteren
Text, welcher bis Mitte des 3. Jahrh. ein Bild steigender Verwilderung bietet;
fĂĽr ihn nahm er von LXX den Namen xoivv) exSoai? herĂĽber (S 63). Hierher
zieht er ungefähr die Zeugen für Griesbach's occidentalischc Recension, nament-
lich Peschito, Itala und die Codices D. Dagegen sollen Griesbach's alexan-
rlrinische Zeugen, namentlich B C L, eine Recension der v.otvY| durch Hesychius,
iu Aegypten verbreitet, die konstantinopolitanischen Zeugen dagegen, namentlich
aber die Codices E F G, eine Recension des asiatischen Textus vulgaris durch
Lucian, in Byzanz fortlebend, darstellen. Ausserdem unterschied er eine vierte
76 Geschichte des Textes.
Recension (der Evglien), welche von Origenes in Tyrus nach dem palästinischen
Texte vorgenommen und von Pamphilus adoptirt worden sein soll (Codices A K).
Aber abgesehen von der Fiction einer dem Origenes zugeschriebenen Recension
steht der Text, welchen Hug von Hesychius ableitet, schon bei Clemens und
Origenes. Cod. A soll in den Evglien den Origenes, in den ĂĽbrigen Bestand-
theilen den Hesychius repräsentiren, wird aber im einen, wie im anderen Falle
zu gĂĽnstig beurtheilt. Schliesslich setzt schon die Benennung xoivy] I'xSook; Re-
censionen voraus und ist insofern unstatthaft. Mit Recht erklärten sich daher
gegen diese Hypothese Griesbach, Vater, Scholz, de Wette und Eichhorn,
welcher überhaupt alle seine Vorgänger verwirft, gleichwohl aber im Wesent-
lichen von Grriesbach und Hug abhängig ist. So wenig wie Letztgenannter hat
er zwar eine eigene Asg des NT versucht, wohl aber ihm gleich in seiner Ein-
leitung ein System aufgestellt, demzufolge unterschieden werden sollten ein un-
recensirter Text in Asien (Peschito), ein gleicher in Afrika (Itala, ĂĽberhaupt
die occidentalische Classe Griesbach's), eine Recension des ersteren durch Lucian
und des zweiten durch Hesychius (diese der alexandrinischen, jene der byzan-
tinischen Classe Griesbach's entsprechend); endlich, was auch Hug angenommen
hatte, eine Vermischung der beiderlei Textarten. Im kritischen Apparat solle
man daher nur einen asiatischen und einen afrikanischen Text unterscheiden.
In der That bleibt auch Alles, was hier ĂĽber den Grundunterschied der abend-
ländischen und der morgenländischen Textgestaltung hinaus reicht, unsicher, zu-
mal da die Recension des Hesychius wenigstens auf den abendländischen Text
gar keinen Einfluss geĂĽbt hat. Bios Schott pflichtete bei.
Auch Wilhelm Friedrich Rtnck (Lucubratio critica 1830) stellte eine
neue Untersuchung an über das Recensionenverhältniss, indem er die occiden-
talischen Manuscripte in eine afrikanische und eine lateinische Gruppe vertheilen
wollte und ĂĽberhaupt den Vorzug der alexandrinischen und occidentalischen
Zeugen bestritt. Gleichwohl war die Unhaltbarkeit des Rec. bereits so evident
geworden, dass die jetzt auf Bengel's Handasgn folgenden Schultexte ihn alle
mehr oder weniger verliessen, wobei freilich meist nur uncontrolirbarer Instinct
und ungefähres Urtheil maassgebend waren. Es sind die von Schott (1805,
1811, 1825, nach des Verfassers Tod noch einmal 1839 von Baumgarten-Crusius
— meist nach Griesbach, mit einer im Anschluss an Castellio gefertigten lateini-
schen Uebersetzung), Knapp (1797, 1813, 1824, nach des Verfassers Tod noch
1829, 1840 von Thilo und Rödiger — Recognition des Rec. nach den wichtig-
sten und bewährtesten Resultaten Griesbach's ; besonderer Fleiss ist auf Inter-
punktion, Inhaltsverzeichniss und Variantensammlung unter dem Text verwendet),
Tittmann (Stereotypasg von 1820 und 1828 ; grössere 1824 und 1831 — zwischen
Knapp und Rec, aber 1840 und 1841 neu bearbeitet von A. Hahn, welcher sich
in einer eigenen Asg 1861 mit unsicheren Schritten zuweilen Lachmann, Tischen-
dorf und Tregelles näherte). Noch conservativer als Tittmann war die Handasg
von Vater (1824), deren kritisch-exegetische Anmerkungen nicht besser sind
als der meist elzevierische Text. Wesentlich Nachdrucke Knapp's lieferten
C. Ch. von Lbutsch (1828) und A. Göschen (1832).
An der katholischen Theologie waren bisher diese BemĂĽhungen fast spur-
los vorĂĽbergegangen, wie noch die Asgn von Gratz (gibt Complut. TĂĽbingen
1821, Mainz 1827 und 1851) und von Leander van Ess (1827 — ruht auf den
beiden vom Papst bestätigten Editioues principes, zuweilen erscheint Griesbach)
beweisen. Das allein in Betracht kommende Werk liefert ein SchĂĽler Hug's,
m. Kap. : Geschichte des gedruckten und des recensirten Textes. 77
AuGĂĽSTiN Scholz in Bonn, welcher (nach Tischendorf-Gregory S 197 itineribus
praeclarior quam doctrina) den kritischen Apparat bereichert hat, indem er
Hunderte von griechischen Handschriften, deren Abfassung freihch nicht vor
das 10. Jahrh. fällt, durchsah und verglich. Zuerst erschienen Curae criticae in
historiam textus evangeliorum (1820), dann die „Biblisch-kritische Reise" (1823),
endlich (1830) die Prolegomena zu seiner Asg (2 Bde 1830 — 36). Auf der Basis
des Rec. arbeitend, unterscheidet er einen alexandrinischen Text, in welchem er
orientalische und occidentalische Handschriften zusammenwirft, und einen asiati-
schen oder byzantinischen. Alle Uncialen gehören zu jenem, welcher später
auch in das Abendland gekommen sein und durchaus den Charakter willkĂĽr-
licher grammatischer Aenderung an sich tragen soll. Bei "Weitem den Vorzug
verdiene desshalb der andere, dessen Zeugen nur sehr wenig von einander ab-
weichen, da er von den Urgemeinden selbst ĂĽber Kleinasien nach Griechenland
ĂĽbermittelt und seit dem 4. Jahrh. gewissenhaft conservirt worden sei; die
wenigen Varianten sollen aus den von Alexandria nach Konstantinopel ge-
brachten Handschriften herrĂĽhren. Aber von dem abgesehen, was schon gegen
das verwandte System Matthäi's bemerkt wurde, ist es wenigstens unerweislich,
dass Handschriften von Alexandria auch nach Rom kamen. Grammatische
Verschlimmbesserer sind nicht blos zu Alexandria zu Hause gewesen, und der
Unterschied zwischen dem occidentalischen und dem alexandrinisch-orien talischen
Text kann nicht einfach ignorirt werden ; ebensowenig die Autorität der Ueber-
setzungen und Väter. Es haben daher Vater, Gabler, Eichhorn, de Wette,
Tischendorf bei uns, in England Scott Porter, Tregelles, Scrivener diese Theorie
verworfen, welcher schliesslich auch der Urheber selbst entsagte (1845). Sein
mit grosser Leichtfertigkeit zusammengestellter Text weicht ĂĽbrigens von dem-
jenigen Griesbach's gar nicht so sehr ab, wie man glauben sollte, da er von
ihm die Autoritäten, in der Eile selbst Citate eigener Werke Griesbach's („uti
docuimus in Symbolis criticis") abschreibt. Gegen Scholz hat sich neuerdings auch
der bedeutendste katholische Specialforscher erklärt, der Abbe J. J. P. Martin in
seiner 1884—86 erschienenen Introduction ä la critique textuelle du NT (Partie
theorique in 1 Bd, Partie pratique in 5 Bdn, dazu als Supplement die werth-
volle Description technique des manuscrits grecs relatifs au NT conserves dans
les bibliotheques de Paris).
Dem neutest. Text hatten bisher nur einzelne Philologen von Fach, wie
Grotius, Bentley, Sturz, Wyttenbach ihre Studien zugewandt. Jetzt unternahm
auf Anregen seines Berliner Collegen Schleiermacher der berĂĽhmte Latinist und
Germanist Karl Lachmann eine Textrecension in rein diplomatischer, dem
Stande der von der gleichzeitigen classischen Philologie geĂĽbten Methode ent-
sprechender Weise. Im Grunde ging er auf die kritischen Maximen Richard
Bentley 's zurĂĽck, wie aus der Rechenschaft erhellt, welche er ĂĽber seine Grund-
sätze erstattete (St Kr 1830 S 817 f. 1835 S 570 f). Er unterscheidet blos
occidentalische und orientalische Zeugen. Als occidentalische gelten ihm Itala
(a b c), der lateinische Irenaeus, ferner Tertullian, Cyprian, Hilarius, Lucifer, die
Uebersetzung des Hieronymus und die Codices D sammt Laudianus und Boer-
nerianus ; als orientalische Origenes und die Codices ABC, auch Coisliuianus
und einige Fragmente zu den Evglien. Stimmt die Lesart in beiden Reihen
ĂĽberein, so ist sie unbedingt vorzuziehen; differiren die orientalischen Zeugen
untereinander, so behält diejenige Variante den Sieg, welche mit dem occiden-
talischen Text stimmt. Byzantinische Zeugen werden als irrelevant gänzlich
78 Geschichte des Textes.
ignorirt. Damit war das Recensionssystem eigentlich aufgegeben und zur Auto-
rität der ältesten Uncialhandschriften zurückgekehrt. Seither gelangten daher
selbst Lesarten zur Anerkennung, welche sich nur in wenigen Uncialen und in
so gut wie keinen Minuskeln finden. Durch fast ausschliessliche Befolgung einer
geringen Anzahl ältester Manuscripte glaubte Lachmann zwar keineswegs den
Text der Autographen herzustellen; aber doch „die älteste Lesart unter den
erweislich verbreiteten", wo möglich „die gebilligste Lesart des Orients" wollte
er geben — ein NT, wie es ungefähr in den Zeiten des Hieronymus aussah.
In der That legte er einen Text vor, welcher mindestens 100 Jahre älter als
der Durchschnittstext ist und von diesem mehr als irgend eine bisher gesehene
Asg abweicht, so dass die Dogmatiker erschraken und die Exegeten fortfuhren,
sich nur mit Grriesbach zu befassen. Ueberdies war die 1. Asg von 1831, 1837
und 1846 wiederholt, flĂĽchtig gearbeitet, der Text ohne allen Zeugenbeweis ein-
fach hingestellt und blos am Schlüsse die Abweichungen von Rec. aufgezählt.
Auch fand man, es seien auf diesem "Wege Schreibfehler und alexandrinische Formen,
wofern sie nur altbezeugt gewesen, mit abgedruckt worden. In diesem Sinne
wurde Lachmann besonders von C. F. A. Fritzsche (De conformatione NT cri-
tica quam L. edidit 1841) scharf, aber ohne Verständniss für die Aufgabe kri-
tisirt. Lachmann besorgte daher im Verein mit dem Berliner Prediger Philipp
Buttmann (junior) eine neue grössere Asg (NT graece et latine, 2 Bde
1842 — 50). Den Zeugennachweis hatte der Mitarbeiter geschickt hinzugefügt; im
Ganzen aber waren nur wenige Aenderungen und zwar zu Gunsten von Rec. an
der früheren Asg angebracht. Im Uebrigen fällt sofort die Sorglosigkeit auf,
mit welcher A trotz Griesbach und Hug ganz fĂĽr die orientalische Classe in
Anspruch genommen wird, während doch von der Richtigkeit der Uebertragung
der (^lasseneintheilung auf bestimmte Documente "Werth und Bedeutung des
ganzen Prinzips und seiner Ausführung abhängen. In Bezug auf B C und
Claromontanus lagen nicht einmal documentliche Asgn vor; Lachmann kannte
sie nur auf Grund fremder und ungenĂĽgender CoUationen, so dass ihm bezĂĽglich
B, dem er nur zu oft ganz ausschliesslich folgt, IrrthĂĽmer in Masse begegneten.
Der Gebrauch, welcher von Vätern oder gar Uebersetzungen gemacht wird,
ist gleichfalls ein überaus spärlicher. Mindestens ist der Apparat für die
ganze Operation in zu geringem Grade theils vorhanden gewesen, theils benutzt
worden.
Jetzt erschienen wieder Handasgn secundären Werthes, darunter besonders
die Tauchnitzer Stereotypasgn von Theile (1844, die letzte von ihm selbst aus-
gehende ist die 5. von 1854; die 11. besorgte 0. von Gebhardt, mit BerĂĽck-
sichtigung von Tischendorf und Tregelles 1875, 14. Asg 1885) eine grosse Ver-
breitung gefunden haben und den Fortschritt des eigentlichen Schultextes seit
Knapp erkennbar machen. Derselbe veranstaltete auch eine griechisch-deutsche
(1852) und eine griechisch-lateinische Asg (1854 und 1862, neu von Gebhardt
1880), zusammen mit Stier seit 1845 eine griechisch-lateinisch-deutsche Poly-
glotte mit veraltetem Text (das NT 5. Afl 1875, seit 1855 auch enghsch). Mit
Vulg. zusammen edirte Reithmayr einen zwischen Griesbach und Lachmann
stehenden, zugleich aber auch von der 3. Asg Tischendorfs beeinflussten Text
(1847). Wenn schon Lachmann hauptsächlich mit Cod. B operirt hatte, so
unternahm jetzt der Schweizer Eduard von MĂĽralt ein NT ad fidem codicis
principis Vaticani (Editio minor 1846, Editio major mit vollständigem Apparat
1848 und mit einem Recensus der 1552 mal vorkommenden Abweichungen von
m. Kap.: Die G-eschichte des gedru^^-^^^en und recensirten Textes. 79
Mai's Vaticanus 1860). Er hatte aber den Codex nur 9 Stunden lang prĂĽfen
können, seine neuen russischen Quellen sind illusorisch, und wo B versagt, kehrt
er zum Rec. zurĂĽck. Erfolgreicher war die von dem schon genannten Philipp
Buttmann besorgte Asg von 1856 (wiederholt 1860, 1864, 1865, 1874), welche
nur wo B ausgeht sich auf A zurĂĽckzieht, ĂĽbrigens den authentischen Text des
NT überhaupt geben will. Dagegen beschränkt sich die mit uncialförmigen
Typen gedruckte Asg von 1862 darauf, den echten Cod. B herzustellen, wo nicht
ein offenbarer Fehler statt hat, welcher Grundsatz bei der so unvollkommenen
Kenntniss des vaticanischen 'Textes zu einer Reihe von puren WillkĂĽrlichkeiten
fĂĽhren musste. Abdrucke des 5. (das NT enthaltenden) Bds der Mai'schen Asg
des Vaticanus veranstalteten gleichzeitig mit Vercellone (1859) in London die
Firma Williams und Norgate einerseits, D. Nutt andererseits : Unternehmungen,
welche selbstverständlich sämmtlich durch die später erfolgenden Asgn des Codex
(vgl. S 42) antiquirt sind. Fast das gleiche gilt von dem NT ad fidem codicis
Vaticani, welches 1860 die Leidener Professoren Kuenen und Cobet besorgten,
indem sie die meisten etymologischen und syntaktischen EigenthĂĽmlichkeiten
als von ungebildeten Abschreibern herrĂĽhrend ohne Weiteres entfernten und
durch classische Wortformen ersetzten; schon hier ist ĂĽbrigens Mai vielfach
verbessert worden. Endlich veröffentlichte der katholische Theologe Loch zu
Regensburg zugleich mit Vulg. ein zumeist mit Buttmann stimmendes NT nach
B, beziehungsweise A (1867).
AVährend in Holland Jakob Isaak Doedes die Autorität der alexandri-
nischen Uncialen mit Erfolg gegen den Rec. aufrief (Verhandeling over de tekst-
kritiek des Nieuwen Verbonds 1844), schien in Deutschland ein RĂĽckschlag be-
vorzustehen, als J. G. Reiche nicht blos den alten Textrecensionen Wahrheit
und Bedeutung absprach (Codicum mss. NT graecorum aliquot insigniorum in
bibliotheca regia Paris, asservatorum nova descriptio et cum textu vulgo recepto
collatio 1847), sondern auch mit einem Commentarius criticus in NT (3 Bde
1853—62) herausrückte, welcher gegen Griesbach und Lachmann den herge-
brachten Text in der Mehrheit der streitigen Fälle in Schutz nahm und sogar
wieder dem Ideale der genuina et vera scriptura nachjagte, deren Elemente
ebensogut wie in den alten Uncialen auch in späteren Minuskeln enthalten sein
können. Andererseits machte Paul de Lagarde das Gewicht der Uebersetzungen,
sowohl der lateinischen als auch namentlich der morgenländischen geltend, in
welchen er die noth wendige Ergänzung der UncialautoritätenLachmann's fand (DeNT
ad versionum orientalium fidem edendo. Gesammelte Abhandlungen 1860, S 85 f).
Die Textgeschichte nahm freilich zunächst einen ganz anderen Weg. Als
ersten Einsatz lieferte der 25jährige Constantin Tischendorf 1841 ein NT graece
(Leipzig bei Köhler), welches sich den kühn vorstrebenden Asgn von Mace,
Harwood und Lachmann mit einigen ganz neuen Lesarten anreihte, so dass Tischen-
dorfs erstes Auftreten auf die Welt den geradezu entgegengesetzten Eindruck
machte, als derjenige gewesen ist, unter dem er 1849 und 1859 fast als von
Reiche beeinflusst erscheinen konnte. Schon 1842 folgten 2 neue Asgn in Paris,
deren eine, dem Minister Guizot gewidmet, zwar den Text der Evglien hier
und da noch bestimmter auf die ältesten Codices zurückführt, daneben aber auch
auf dem Rückzug zu Griesbach, ja sogar zum Rec. begritfen ist, während die
andere (Editio catholica), dem Erzbischof Affre zugeeignet, unter ZurĂĽckstellung
aller kritischen Grundsätze einen möglichst mit Vulg. stimmenden, etwa das
griechische Original derselben darstellenden, Text geben möchte, welchen daher der
gQ Geschichte des Textes.
Herausgeber Didot auch noch viermal (1842—59) wiederholt hat. Seither waren
30 Jahre unausgesetzten Wirkens der Erforschung und Herstellung des griechischen
und lateinischen Bibeltextes gewidmet: zahlreiche Reisen fĂĽhrten ihn wiederholt
nach Holland, England, Frankreich und Italien, dreimal in den Orient. Die
meisten Uncialen sind erst durch ihn fĂĽr die Textkritik recht verwerthbar
geworden. Einige wie K hat er ĂĽberhaupt erstmalig dem Staube orientalischer
Bibliotheken entrissen, andere wie N zum erstenmale zum kritischen Gebrauche
herangezogen; wie die genannten, so verdanken ihm auch die Codices Vaticanus,
Ephraemi, Claromontanus, Laudianus, Parisiensis L, die Guelferbytani und manche
kleinere Stücke die besten Editionen. Keiner seiner Vorgänger erreichte ihn
aber auch an GlĂĽck und Erfolg; er hat es trefflich verstanden, die Welt fort-
während in Athem zu erhalten und mit den gewonnenen Ergebnissen zu be-
schäftigen, auf künftige zu spannen. Theilweise konnten die Ergebnisse solcher
BemĂĽhungen schon Verwendung finden in der 4. kritischen Asg 1849 (Leipzig,
Winter), der ersten, die von eingreifender Bedeutung gewesen ist. Hier ist der
vorgeschobene Standpunkt Lachmann's entschieden verlassen. AusflĂĽsse dieser
conservativen Asg stellen dar einerseits die 5., d. h. die seit 1850 (Leipzig,
Tauchnitz) erscheinenden Stereotypasgn (1862, erst seit 3. Asg 1873 einen neuen
Text bietend; 9. Asg 1884 mit correctestem Druck), andererseits seit 1851 die
Synopse (1854, mit erneuertem Text 1864, 5. Afl 1884). Als 6. Asg gilt das NT
triglotton (bei Mendelssohn in Leipzig) von 1854 (wiederholt 1865), daraus die Editio
academica seit 1855floss (erst seit 7. Asg 1873 einen neueren Text bietend, 14. Asg
1884). Dieselbe Textform repräsentiren auch eine griechisch-lateinische (1858, 2. Afl
1885) und eine griechisch-deutsche Asg (1864). Ein Neues stellt erst die, ĂĽbrigens
gleichfalls noch die RĂĽckzugslinie innehaltende, an etwa 1300 Stellen vom Texte von
1849 abweichende 7. Asg dar, welche 1859 in doppelter Form (major und minor)
an's Licht trat (bei Winter). Einen weit vorzĂĽglicheren, an etwa 3500 Stellen von
dem von 1859 abweichenden, Text liefert die 8. Asg (Editio major, Leipzig
Giesecke und Devrient, 2 Bde 1869 — 70 ; Editio minor, Bd 1 bei Mendelssohn
1872; Bd 2 bei Hinrichs 1877). Den gleichen, die vulgären Lesarten nicht minder
beseitigenden Text bietet auch die Handasg von 1873 und 1880 (NT gr. ad
ed. Vni conformavit lectionibusque Sinaiticis et Vaticanis item Elzevirianis
instruxit, bei Brockhaus). Der Vorzug des Textes von 1869 an beruht theils auf
der mittlerweile erfolgten Entdeckung des Cod. i<, theils auf jetzt erst ermöglichter
Zuverlässigkeit der Benutzung von Cod. B. Wie gross der Einfluss namentlich
des ersten, von dem Entdecker im Ganzen überschätzten, Zeugen gewesen ist,
ergibt sich aus Vergleichung der 8. mit der 7. Asg. Zusammengehalten mit den
früheren von 1841 und 1849 stellen beide zugleich die Veränderlichkeit des
Tischendorfschen Textes ĂĽberhaupt ans Licht. Da die Differenzen keineswegs
immer durch erhebliche Erweiterung des kritischen Apparates bedingt sind,
constituirt der Spielraum, welcher der Wahrscheinlichkeitsrechnung, ĂĽberhaupt
dem subjectiven Moment bei Anwendung der kritischen Regeln gegönnt wird,
einen bemerklichen Gegensatz zu Lachmann. Allerdings ist Tischendorf zuletzt
zu einem objektiven Verfahren zurĂĽckgekehrt. Aber das Ziel, ein NT etwa
vom Jahr 200 herzustellen, war an sich unerreichbar, wenn der gegenwärtige
Umfang des Kanons festgehalten werden sollte, und auch das alexandrinische
Sprachcolorit, welches Tischendorf nicht ohne Grund (vgl. Prol. zur 8. Asg
S 64 f) aus den Uncialbibeln beibehalten hatte, will nicht auf Jedermann den
Eindruck urapostolischer Orthographie und Grammatik machen. Man kann
in. Kap.: Geschichte des gedruckten und des recensirten Textes. 81
fragen, wie weit er die Väter, die er anfuhrt, studirt, die Uebersetzungen, mit
denen er operirt, gelesen hat. Immerhin bleibt dem Leipziger Professor der
Ruhm, in seinem Fache fast ein Menschenalter lang der Erste gewesen zu sein,
den kritischen Apparat in unvergleichlich erfolgreicher "Weise erweitert (Monu-
menta sacra inedita 1840; Nova Collectio, 7 Bde 1855 — 71) und in einer Form
dargeboten zu haben, die ihm alle neutest. Forscher der Gegenwart zu Dank
verpflichtet. Sein Werk aber haben in wĂĽrdigster Weise fortgesetzt und voll-
endet Oskar von Gebhardt, der seit 1876 die Stereotypasgn besorgte und
im NT gr. recensionis Tischendorfianae ultimae 1881, 2. Afl 1884 ein untadel-
haftes Instrument zum Handge])rauch schuf (zugleich als Diglotte, die an Stelle
derjenigen Theile's von 1852 treten soll), und Caspar Rene Gregory, welcher
in Verbindung mit seinem amerikanischen Landsmann Ezra Abbot (f 1884)
die Prolegomenen als Bd 3 zur 8. Asg lieferte (seit 1884).
Nach Tischendorfs textkritischen Grundsätzen (erläutert StKr 1842,
S 499 f. RE 1. Afl II, S 167, 169, 182 f. XIX, S 188. 2. Afl H, S 409 f, 429,
434 f und in den Prolegomenen, zuletzt 8. Asg III, S 45 f, 193 f, 284 f) wären
zu unterscheiden eine alexandrinische Classe von Zeugen repräsentirt von J<
ABC, aber nirgends rein erhalten ; eine lateinische, repräsentirt von Itala und
Codices wie F G fĂĽr Plsbriefe; eine asiatische, in Griechenland und Kleinasien
gebraucht, repräsentirt für die Evglien von E F G H K, aber nirgends rein
erhalten ; eine byzantinische, später im Kaiserstaat verbreitet. Diese Unterschiede
sollen am meisten fĂĽr die Evglien, fĂĽr die kath. Briefe weniger als fĂĽr die
paulinischen, am wenigsten für Apc Geltung besitzen. Selbstverständlich müssen
die Lesarten der 4. Classe den ĂĽbereinstimmenden der 1. und 2. weichen. Wo
mit ältesten Codices zugleich die Uebersetzungen und Väter stimmen, herrscht
ein so hoher Grad von Zuversicht, dass Tischendorf sich unter Umständen sogar
mit einer einzigen Unciale begnĂĽgt wie K oder B. Und sel])st diesen zum
Trotze bewegt ihn die Uebereinstimmung der älteren alexandrinischen Väter
mit Itala und Syr. Cur. Mt 5, 4. 5 umzustellen, wofĂĽr unter den Uncialen nur
D spricht. So strebt er ĂĽberhaupt, indem er Fehlem der Abschreiber, Har-
monisirungsversuchen und gelehrten Emendationen schon in den ältesten Codices
nachspĂĽrt, nach einem Texte, der selbst diese an Alter noch ĂĽberragen und
womöglich gleichzeitig mit Irenäus sein soll. Ueberhaupt vermischt er wieder
die Aufgaben der von Lachmann unterschiedenen recensirenden und der emen-
ilirenden Kritik, sofern die Anwendung seiner textkritischen Grundsätze durch
die Concurrenz der bewährtesten Grundsätze der inneren Kritik ])escliränkt
<rscheint.
Im Wesentlichen stimmt damit auch Hh^genfeld, wenn er den abend-
ländischen Text vom morgenländischen, in jenem wieder den italienischen vom
afrikanischen, in diesem den alexandrinischen vom antiochenischen unterscheiden
und aus beiden letzteren den byzantinischen ableiten will (Einl. S 813), während
sich Reuss, wenn er nur alexandrinische, konstantinopolitanische und occiden-
talische Gruppen unterscheidet (II, S 103 f), schon an Tregelles anschliesst.
6. Die englische Arbeit der Gegenwart.
Neuestens ist die NTliche Textkritik wieder in ihr altes Vater-
land England zurĂĽckgekehrt und hat durch Tregelles, Westcott
und Hort einen hohen Grad von Vollendung und Sicherheit erreicht,
was freilich nicht ausschliesst , dass ein negatives Resultat (gemein-
Holtzmann, Einleitaiig. 2. Auflage. Q
Q2 Geschichte des Textes.
same Abkehr vom Eec.) das Maass der Uebereinstimmung in posi-
tiven Errungenschaften noch vielfach ĂĽberbietet. Allgemein aber ist
die Ueberzeugung durchgedrungen, dass ein methodisch correcter
Weg gefunden ist, auf welchem das Ziel annäherungsweise, d. h.
vor Allem auch so erreicht werden kann, dass sich zuweilen zwei
gleichwerthige Lesarten zur Auswahl bieten.
In England und Amerika war lange am verbreitetsten der werthlose Text
von Samuel Thomas Bloomfield (1832, 9. Asg 1855, 12. Handasg 1870 in
London, 14. amerikanische Asg. 1868). Selbstständiges leistete Henry Alford
(4 Bde, 1849 — 61, 2 Asg seit 1854, seit 1869 auch Handasgn, in Amerika zu-
letzt 1880), und schon theilweise auf dem Wege von Tregelles begriffen ist
Th. Sh. Green (The twofold testament 1865 mit Appendix 1871). Während
in Deutschland Tischendorf vor den Augen des weitesten Publikums und unter
hoher Protection seine Triumphe feierte, strebte jenseits des Canals einem gleichen
Ziele in Armuth und Dunkelheit nach der Darbyst Samuel Prideaux Tregelles
(f 1875), welcher, nach 20jähriger Vorbereitung in An Account of the printed
text of the Greek New Testament (1854) und in seiner, zu Horne's Einleitungs-
werk (Asg 10, Bd 4) gehörigen, Introduction to the textual criticism of the
New Testament (1856, 3. Asg 1862) die Grundsätze entwickelte, nach welchen
er in der Nachfolge Bentley's und Lachmann's den Text so nahe als möglich
an die apostolische Zeit heranzurĂĽcken gedachte. Er unterscheidet im All-
gemeinen alexandrinische und byzantinische, in angezeigten Fällen auch occiden-
talische Handschriften. Neben den älteren Uncialen und einigen werthvollen
Minuskeln bilden die Kirchenväter bis Eusebius und die Uebersetzungen der
patristischen Epoche seinen Apparat. Leider konnte die römische Asg von B
und Tischendorfs 5< erst im apostolischen Theile zu Rathe gezogen werden.
Denn The Greek New Testament edited from ancient authorities erschien sehr
allmählig (Mt und Mr 1857, Lc und Joh 1861, Act und kath. Briefe 1865,
Plsbriefe 1869 — 70; Apc, von Tregelles schon einmal 1844 bearbeitet, musste,
nachdem er erblindet war, von Freunden nachgeliefert werden 1872) ; die Prole-
gomena wurden 1879 von Hort und Streane beigefĂĽgt und damit das Werk
abgeschlossen.
Im Gegensatze zu ihm hat F. H. A. Scrivener, von dessen Verdiensten
um das textkritische Material gelegentlich die Rede war (S 42 f ), in dem Werk
A piain introduction to the criticism of the NT (1862, 3. Afl 1884) die Grund-
sätze einer sog. comparativen Kritik entwickelt, welcher zufolge an die Stelle
einseitiger Bevorzugung der Uncialen vielmehr der gesammte Zeugenbestand
verglichen und abgeschätzt werden muss; relative Sicherheit besteht nur da,
wo alle Zeugen fĂĽr den Evglientext bis zum 6., fĂĽr den apostolischen bis zum
9. Jahrh. übereinstimmen-, wo die älteren Uncialen differiren, sind die jüngeren
sammt den Minuskeln als zum Theil Abschriften älterer, verloren gegangener
Manuscripte zu Rath zu ziehen; ein besonderes Gewicht muss auf solche Les-
arten gelegt werden, welche zugleich auf verschiedene, räumlich von einander
entfernt und selbstständig dastehende Quellen zurückgehen. Obgleich daher der
Gedanke der Familien von Handschriften als unzuverlässig ])ezcichnet wird,
läuft schliesslich auch diese Theorie wieder hinaus auf Unterscheidung eines
occidentalischen, in Africa, Norditalien, Gallien verbreiteten, eines ägyptischen
III. Kap.: Geschichte des gedruckten und des recensirten Textes. 83
und eines syrischen, späterhin konstantinopolitanischen Textes. Unter allen
Umständen hat Scrivener das relative Recht der jüngeren Handschriften wirksam
vertreten und eine Menge derselben erstmalig verglichen. Aehnhch hat sein
Gresinnungsgenosse Bürgon Mr 16, 9 — 20 (The last 12 verses of the gospel
according to Mr 1871) und hat gelegentlich auch Field andere Stellen, wie
Rec. von Lc 2, 14 mit 'Mitteln von „internal evidence" vertheidigt (Otium
Norvicense III, 1881).
Gleichzeitig und im Zusammenhange mit der Vollendung der Revision
der englischen BibelĂĽbersetzung (The New Testament, revised a. d. 1881) er-
schienen zwei darauf bezĂĽgliche griechische Asgn. Die erste mit den zu der
Revision passenden Lesarten von Scrivener (Te NT in the original Greek
according to the text foUowed in the authorized version together with the
variations adopted in the revised version), welche das Verhältniss der in den
Uebersetzungen von 1611 und 1881 befolgten Texte ebenso klar hervortreten
lässt, wie seine vorangehenden Asgn (NT textus Stephanici seit 1859, 8. Asg
Cambridge 1877, New- York 1879) mit ihrer reichen Variantensammlung ein
bequemes Mittel geboten hatten, um sich über das Verhältniss des Rec. zum
heutigen Text zu informiren. Die zweite vom Archidiaconus E. Palmer (The
greek Testament with the readings adopted by the Revisers), der gleichfalls den
Text der Regia bietet mit Noten, welche die von der Revision beseitigten oder
aber zur Wahl an den Rand gestellten Lesarten bringen (Scrivener setzt die
neuen. Palmer die alten Lesarten an den unteren Rand). Endlich haben im
gleichen Jahr 1881 die beiden bedeutendsten Vertreter der neutest. Textrevision
Brocke Foss Westcott und Fenton John Anthony Hort ihre Epoche machende
Asg veröffentlicht (The New Testament in the original Greek, London und
New- York; 2 Handasgn London und Cambridge 1885). Die seit 1853 vor-
bereitete Leistung der Cambridger Professoren besteht aus einem Textbd, einem
Bd mit kritischem Apparat (Introduction) und einer Appendix, darin eine Reihe
von einzelnen Stellen besprochen, die bei der Orthographie befolgten Grund-
sätze entwickelt werden u. s. w. Wie die Asg von Tregelles, so unterscheidet
sich von Tischendorf auch diese neueste schon äusserlich dadurch, dass die Un-
sicherheit der Entscheidung in Fällen, da nahezu gleichwerthigc Formen der
Ue])erlieferung vorliegen, durch Einklammerung der betreffenden Wörter im
Text oder durch Beisetzung von Varianten am Rande zu Tage tritt (alternative
Lesarten). Doppelklammern bezeichnen schon frĂĽhzeitig in den Text ein-
gedrungene Interpolationen, zumal solche, durch welche der morgenländische
und der abendländische Text sich charakteristisch gegenübertreten. Andere
Zeichen führen solche Varianten specifisch oc<?identalischen Gepräges ein, welche
zwar auf keinen Fall zum ursprünglichen Text gehört haben können, aber doch
das Nachdenken des Kritikers oder Exegeten zu beschäftigen geeignet sind
oder sie deuten auf eine alte und zugleicli wohl richtige Conjectur hin oder sie
machen sonstige Emendationsvorschläge, wo Textverderbniss vorausgesetzt wird.
Eine erhebliche Bereicherung des Materials liegt hier nicht vor. Was gleich-
wohl diese Asg vor allem ])isher auf diesem Gebiete dagewesenen auszeichnet,
das ist „die systematische, in solchem Umfange bisher unerreichte Verwerthung
der Tcxtgcscliichte zur Classificirung und Abschätzung der verschiedenen Zeugen
und die consequcutc Handhabung der so gewonnenen Grundsätze bei Ausführung
der kritischen Operation" (0. von Gebhardt in seiner Diglotte S VII). Diesem
Systeme nach wäre zu unterscheiden: 1) neutraler Text, am längsten erhalten
6* •
84 Geschichte des Textes.
durch den sorgfältigen Betrieb der alexandrinischen Abschreiber (B, weniger
schon t<); 2) westlicher Text, aus dem nordwestlichen Syrien schon frĂĽh nach
Rom gebracht und von da im Abendlande verbreitet, während er im Osten
verschwand; gekennzeichnet durch immer weiter gehende Bereicherung mit
freien Zuthaten, Paraphrasen, Erklärungen (beide D, zuweilen auch J<, G für
Plsbriefe, altlateinische und altsyrische Uebersetzungen, Justin, Irenäus, Hippolytus,
Methodius, Eusebius:-, 3) alexandrinischer Text, in welchem der neutrale, seit
etwa 200, dem Streben nach sprachlicher Correctheit Concessionen macht, aber
auch mit Anfängen zur Paraphrasirung und Harmonisirung (zuweilen K, A im
apostolischen Theil, L theilweise, Origenes bis Cyrill, niederägyptische Ueber-
setzung); 4) syrischer Text, ruhend auf zwei 250 — 350 (Lucian?) veranstalteten
Recensionen mit der Tendenz auf Deutlichkeit und Vollständigkeit, ein stark
emendirter, mit westlichen und anderen Lesarten gemischter Text, der seit
Chrysostomus nach Konstantinopel und von da aus zur Alleinherrschaft gelangte;
aus Quellen geflossen, die wir sämmtlich kennen, daher in seinen Eigenthümlich-
keiten werthlos (A im evangelischen Theil, die meisten Uncialen, schon C bietet
eine Art Durchschnittstext; spätere Uebersetzungen, in ihrer jetzigen Gestalt
selbst Peschito, dazu die grosse Mehrzahl der Handschriften, alle Cursive). Im
Anschlüsse an dieses System veröffenthchte in New- York Ph. Schaff das, zu-
nächst der Rechtfertigung und Empfehlung der englisch-amerikanischen Bibel-
revision dienende, Sammelwerk A companion to the Greek testament and the
english version 1883, 2. Afl 1885 (vgl. S 208 f den Abschnitt über „die genea-
logische Methode" aus der Feder B. B. Warfield's).
Aber was helfen alle Bemühungen um Herstellung eines möglichst correcten
und lesbaren Textes, wenn dieselben fĂĽr die theologische Praxis, ja selbst fĂĽr
den Schulbetrieb der Theologie nicht fruchtbarer gemacht werden können, als
dies bisher der Fall war? Noch immer verbreitet die grosse britische Bibel-
gesellschaft fĂĽr massigen Preis und in hĂĽbscher Ausstattung einen Text, zu
dessen Gunsten nichts angefĂĽhrt werden kann, als dass er mit mehr oder
weniger Fehlern und willkĂĽrlichen Aenderungen schon sehr oft gedruckt worden
ist. Die britische Bibelgesellschaft druckt seit 1856 zu Köln lediglich die Cam-
bi-idger Asg des Professors Jowett (erschien zuerst 1843 ) ab, welcher den fast
gänzlich unveränderten, nur nicht correct reproducirten Rec. gibt, wie er in
Deutschland schon seit Griesbach überwunden ist (so noch 1876 in Köln, 1877
in London). In dieser Gestalt besitzt der griechische Text des NT zur Zeit
die grösste Verbreitung (vgl. C. Bertheau ThLz 1877, S 102 f. 1882, S 553 fj.
Einige wenige Anzeichen einer Wendung zum Besseren sind vorhanden. Sorg-
fältigeren Druck bietet das für die genannte Gesellschaft zu Berlin erschienene
„griechisch-deutsche N. Testament'* (seit 1864) in seiner 3. Asg (1880). Die privi-
legirte Bibelanstalt in Stuttgart Hess schon in ihrer Diglotte (1853) den griechischen
Text wenigstens nach Stier und Theile abdrucken, und die Basler Bibelgesellschaft
wagte ein NT zum Gebrauche fĂĽr Neugriechen herzustellen, dessen Text Antistes
Stockmeyer und Professor Riggenbach nach Tischendorf frei redigirt und mit
Varianten versehen hatten ('H xatvTj Sia^WjxT] xaxa xa äpy^ciioxaxrx avtiYP'^T«
Exooi^slaa 1880). Dem allgemeineren Bibelgebrauche sind gleichwohl Arbeiten
der Textkritik bisher fast nur in England und Amerika zu Gute gekommen, in
Folge der Sachkunde und Aufrichtigkeit von Mitgliedern der Revisionscommission
wie Tregelles, Westcott, Hort, Ellicott, Stanley, Lightfoot, Wordsworth, Alford,
Scrivener u. A. diesseits, Ezra Abbot, Ph. Schaff u. A. jenseits des Ozeans.
m. Kap.: Geschichte des gedruckten und des recensirten Textes. 85
7. Erträgnisse der textkritischen Bemühungen.
I. Allgemeine Unterscheidungen.
Der vorhegende Thatbestand fĂĽhrt auf die Annahme, dass sich
Abweichungen vom Urtext zunächst nach rein zufälhgen Motiven
ergeben haben. Mit der Zeit aber machten sich bestimmte locale
Gesichtspunkte geltend. Der Gang, welchen das Christenthum bei
seiner Ausbreitung nahm, die Abhängigkeit mehrerer Gemeinden
von einer Mutterkirche, der Ruf eines Exemplars, eines textverstän-
digen Gelehrten, eines Abschreibers, einer Bibliothek einerseits, der
in den einzelnen Kirchenprovinzen herrschende Sprachgeist und Ge-
schmack andererseits — dies Alles trug dazu bei, dem Texte all-
mälig eine locale Färbung zu verleihen. Erst seit der 2. Hälfte
des 3. Jahrb. wird dieser Prozess nachweisbar. Dagegen steht selbst
noch der Text von ?< in einer auffälligen Verwandtschaft zu Itala,
mit welcher von der anderen Seite her sich die nitrische Handschrift
der syrischen ĂĽebersetzung und Tatian's Diatessaron vielfach be-
rühren — Erscheinungen, welche auf die Existenz eines dem ur-
sprünglichen Bestände sich nähernden, zu den späteren, local beding-
ten Differenzen neutral sich verhaltenden Textes hinweisen. Auch
Peschito stimmt vielfach mit Itala ĂĽberein, z. B. in Bezug auf die
Hebraismen, .an welchen man im Abendland und in Syrien weniger
Anstoss nahm als in Alexandria; dort weil man das Griechische
weniger verstand, hier weil die Landessprache solche Erscheinungen
erklärte; in die syrische Version gehen daher Hebraismen einfach
ĂĽber, welche in der lateinischen sklavisch nachgeahmt werden. Da
nun aber, wie schon Hieronymus fand, manche Lesarten des Ori-
genes, vorher auch des alexandrinischen Clemens, mit den occiden-
talischen Handschriften stimmen, da femer die beiden Exemplare,
aus welchen gleichzeitig ^< und B geflossen zu sein scheinen, immer-
hin in das 3. Jalirh. zurĂĽckreichen dĂĽrften, da wir endUcli ĂĽberhaupt
in N und B einen älteren, in A und C einen jüngeren alexandrini-
schen Text voraussetzen dĂĽrfen, so wird noch in der Mitte des
3. Jahrh. der zu Alexandria gelesene Text sich nicht so weit, wie
später, von dem abendländischen und syrischen Text entfernt haben.
Vor dem syrischen ist er aber auch durch Eusebius nach Byzanz
gedrungen und erste Grundlage des dortigen Textes geworden.
>amit hängt die Charakterdifferenz der Familien zusammen. Die
|ccidentalischen "Lesarten hebraisiren mehr, enthalten' aber zugleich
fcuch mehr sachliche Glossen, exegetische Erläuterungen und vor
lern Zuthaten und Erweiterungen. Sprachlich dagegen war der
86 Geschichte des Textes.
Text im Occident, wo man das Original nicht ohne Weiteres ver-
stand, weniger bearbeitet ; wogegen die orientalischen Handschriften
mehr derartige Verbesserungen aufweisen. Auch war der Text im
Orient schon desshalb mehr Veränderungen ausgesetzt, weil er hier
mehr Abschriften fand. Bei der Beurtheilung beider Familien kann
darum das Richtige unter Umständen auf keiner Seite mehr liegen.
So z. B. 1 Cor 15, 51, wo bis auf Origenes gelesen wurde Tudvcsc
00 %ot[i7]^Y3aö{JL£^a, 7ravTS(; §s aXXaYYjoöfxs^a, während später die Orien-
talen lasen TuavTs? jisv xoi[iY]^Y]aö[is^a, o6 TuavTsg §s aXXaYYjaöjxs^a, die
Occidentalen aber ttocvts? [Jlsv avaaryjaöjis^a, oh :ravTs? Ss aXXaYYjad-
[ts^-a. Neben dieser allgemeinen Unterscheidung von neutralen,
abendländischen und morgenländischen Lesarten, daraus gemischte
Richtungen von unbestimmbarer Zahl und Gestalt hervorgegangen
sind, ist weiterhin noch mit der Thatsache zu rechnen, dass fĂĽr den
byzantinischen Text, welcher unter den gemischten Texten allein
eine durchschlagende Wirkung geübt hat, als ältere Grundlage der
alexandrinische in Betracht kommt, während ihm der antiochenische
Text die spätere charakteristische Farbe verliehen hat. Zu Zeiten
des Chrysostomus und des Nestorius nämlich waren die Beziehungen
zwischen Antiochia und Konstantinopel von der Art, dass der
syrische Text nach Byzanz kommen und sich dort mit dem schon
vorhandenen mischen musste. Anderwärts aber begegnen ähnliche
Erscheinungen, sofern man sich theils um des materiellen Werthes
der BĂĽcher willen, theils weil man den ĂĽberlieferten Text nicht gern
verliess, damit begnĂĽgte, in den Handschriften Verbesserungen nach
behebigen anderen Textgestaltungen anzubringen. AusdrĂĽckhche
Zeugnisse über die Gestaltung des Textes finden sich erst — und
zwar zunächst nur spärhche — gegen Ende des 2. Jahrh. Was
vorher hegt, ist Terra incognita. Aber gerade in diese unerkenn-
bare Zeit fallen die tiefgehendsten Alterationen des ursprĂĽnghchen
Sachverhaltes. Klar hegt die Textgestaltung dagegen in den Zeiten
des Hieronymus und Chrysostomus, ĂĽberhaupt der beginnenden Aus-
legung im grossen Stil vor. Aber zwischen diesem Text, welchem
die Mühwaltung der konstantinopolitanischen Librarii eine möghchst
gleichförmige Gestalt verheb, und Elzevier ist der Abstand eben
auch nur noch ein geringer, und die eingetretenen Veränderungen
sind genau zu controliren.
Aus den angegebenen Verhältnissen resultirt von selbst der
Vorzug, welchen die ägyptischen Uncialen beanspruchen dürfen.
Dagegen stehen die Uncialen des 9. und 10. Jahrh. in Bezug auf
GĂĽte des Textes meist auf der Linie besserer Minuskeln, ja es
in. Kap.: Greschichte des gedruckten und des recensirten Textes. 87
kann eine Gruppe der letzteren dadurch einen jene ĂĽberragenden,
einen selbstständigen Zeugenwerth gewinnen, dass für die sie ver-
bindenden TexteigenthümKchkeiten im Bereich der uns zugänglichen
Uncialen keine Quelle mehr ausfindig zu machen ist. Im Uebrigen
hängt die fast gänzliche Belanglosigkeit des später Gebotenen damit
zusam^men, dass man im Abendlande sich an Vulg. hielt, ein Be-
dĂĽrfniss nach weiteren Abschriften des griechischen Textes also
nicht mehr empfand, während im Morgenlande die griechische Kirche
sich je länger je mein* auf den von Konstantinopel beherrschten
Umkreis concentrirte. Erst rissen die syrische und die koptische
Kirche sich los, dann traten die Eroberungen der Araber ein. So
bheb der konstantinopohtpnische Text zuletzt allein auf dem Platze,
um im späteren Mittelalter mit anderen Schätzen des griechischen
Alterthums in das Abendland zu wandern und Grundlage des Eec.
zu werden.
Ein Blick auf die zahlreichen Differenzen, welche selbst noch zwischen
unseren besten Ausgaben obwalten (vgl. Gregory's Tafel bezĂĽglich Tischendorf,
Tregelles und Hort in der 8. Asg III, S 287 — 334), zeigt, wie weit wir noch
vom Ziele sind. Um theils die Familien deutlicher gegeneinander abzugrenzen
und nach ihrem verhältnissmässigen Werthe zu taxiren, theils den etwa von
wirklichem Einfluss gewesenen Reinigungsversuchen auf die Spur zu kommen,
wird vor allem die Textgeschichte einzelner BĂĽcher, ja Stellen genauer zu durch-
forschen sein. Anfänge dazu machten in Amerika Ezra Abbot z. B. bezüglich
Joh 1, 18; in England J. B. Lightfoot bezĂĽglich Gal, Phl, Col, Phm-, in
Deutschland F. Delitzsch bezĂĽglich Apc, K. Wieseler und F. Zimmer bezĂĽg-
lich Gal und namentlich B. Weiss bezĂĽglich Rm und Evglien.
II. Grundsätze der reoensirenden und der emendirenden Kritik.
Lachmann hat in der Vorrede zu seiner 2. Asg den Unter-
schied der recensirenden und der emendirenden Kritik und ihrer
])eiderseitigen Aufgaben dahin bestimmt, dass die Recension des
Textes in objectiver Weise auf Giundlage von Documenten zu er-
folgen hat, wobei das subjective Urtheil aus dem Spiele bleibt. Der
relativ älteste Text sei auch dann, wenn derselbe dem subjectiven
Urtheil der Kritiker als schon verderbt erscheinen sollte, aufzustellen
als gemeinsame Grundlage für das Geschäft der Exegeten und der,
den Letzteren zufallenden, emendirenden Kritik.
AVo eine Lesart in einer oder einigen der ältesten Uncialen,
zugleich aber auch in alten Versionen und Vätern vorliegt, ist der
Streit ĂĽber ihre Verbreitung im Alterthum abgeschnitten; dennoch
kann in Ausnahmefällen selbst der älteste nachweisbare Text nicht
der ursprüngliche sein. Dann liegt eine doppelte Möghchkeit vor,
je nachdem die Lesart, welche schon in den ältesten Zeugen eine
88 Geschichte des Textes.
Corruption darbietet, entweder bei späteren sich noch erhalten hat
oder aber erst durch einen Schluss aus dem vorhandenen Materiale
hergestellt werden muss. Erster es ist z. B. der Fall Act 4, 25,
wo K A B E ein sinnloses Aggregat von Worten haben : 6 too
TzoLzpQQ T^ixwv 8iä i:wb\LazoQ 017100 aTÖixaTog AaotS, während Versionen
und lateinische Väter gelesen haben müssen 6 §ia 7ry£D[iaT0? a^ion
Sia az6\LCf.zoq zob ;:arpöc i^jiwv Aaot§. Lag hier vielleicht, wie Ewald
(Evglien und Apostelg. II, S 245) und W. und Hort vermuthen, ein
ursprĂĽnglicher Lapsus calami vor? Wenn nicht, so ist die 2. Les-
art jedenfalls vorzuziehen. Fast alle neueren Kritiker haben Rm
5, 1 iyid\LBV dem Bec. s/oj^sv vorgezogen, ihren textkritischen Grund-
sätzen gemäss mit Becht, aber mit irrendem exegetischen ürtheil
(vgl. Weiss bei Meyer). Vollends heisst es zu weit gehen, wenn
man vom recensirenden Kritiker verlangt, dass er in solchen Fällen
der älter bezeugten, aber von ihm selbst als falsch erkannten, Les-
art zu Liebe die richtige, jedoch später bezeugte, unterdrücken solle.
So hat Lachmann z. B. Mt 27, 28 nach Origenes, bezw. auch B
und abendländischen Zeugen svöoaavcs«; gesetzt, wiewohl er selbst
das mittierweile auch von X, aber schon zuvor von A L und den
syrischen Zeugen gebotene IvtSöaavrsc für richtig hielt. Gerade für
solche Fälle bewährt sich vielmehr das englische System der alter-
nativen Lesarten, wie auch W. und Hort svSöaavrs«; nur am Bande
bieten.
Auf die emendirende Kritik beziehen sich die Regeln, welche man seit
Bengel und Griesbach fĂĽr die Textkritik ĂĽberhaupt aufzustellen pflegt, also
namentlich folgende:
1) Die zu bevorzugende Lesart muss in den Zusammenhang passen. So
ist Act 9, 20 statt Rec. Xptoxov das von i< A B C E Vers. Iren, gebotene 'Iyjooöv
schon darum aufzunehmen, weil das folgende ohzoc, eaxiv 6 oVoq xoö ^eoö (oder
22 6 /ptaxo?) schlechterdings die vorausgegangene Nennung des Namens erfordert.
Andererseits ist in solchen Fällen darauf zu achten, ob ein Zusammenhang nicht
erst durch eine ad hoc entstandene Lesart gewonnen werden will. Einzelne
abgerissene Sectionen der Synoptiker sind vielfach durch solche BrĂĽcken mit-
einander in Verbindung gesetzt worden.
2) Aufzunehmen ist diejenige Lesart, welche dem Sprachgebrauche des
NT und speziell der sprachHchen EigenthĂĽmlichkeit des betreffenden Schrift-
stellers angemessen ist. Die Entscheidung liegt namentlich in Fällen auf der .
Hand, wo an die Stelle singulärer Ausdrucksweise die gewöhnliche landläufige
getreten ist. Nur muss vorher die EigenthĂĽmlichkeit des Sprachgebrauches der
Schriftsteller, wie dass z. B. Joh den Artikel vor 'Iyjooö? gern weglässt, richtig
festgestellt und von der EigenthĂĽmlichkeit einer Handschrift, z. B. des Cantabri-
gieusis, welcher das Participium gern in das Verbum finitum umsetzt, oder des
Vaticanus, welcher gern Perfect statt Aorist braucht, unterschieden sein. Les-
arten letzteren Ursprungs sind natĂĽrlich durchweg auszuschliessen.
III. Kap.: Geschichte des gedruckten und des recensirten Textes. 89
3) Unter verschiedenen Lesarten ist diejenige die ursprĂĽngliche, aus
welcher die grösste Zahl der übrigen Erklärung empfängt. So verstehen sich
Mr 1, 16 alle Varianten aus 6cjx(p'.ßaXXovxa(; ev x^ •O-aXdaoij^ (J< B L) und genügt
Eph 2, 3 die Bemerkung, dass man leichter dazu kam xexva mit öpY"*!? zusammen
zu rĂĽcken, als die Genetivverbindung durch cpucjs'. zu trennen. Nach derselben
Regel ist Act 14, 17 aus xc/ixotY^ {i< H L P) sowohl xaixot (A B C) als xaiY^ (D E)
abzuleiten; 17, 27 scheint dagegen doch v.aiYs B besser bezeugt als xaixoi A und
xatxoiYs ^<.
4) Brevior lectio praeferenda verbosiori. Doch ist darauf zu achten, ob
die Kürzung willkürlicher oder nachlässiger Natur ist, wie vielleicht die Weg-
lassung von v.al IkI Tcavxa? Rm 3, 22 schon in J< A B P (hergestellt von Weiss
und Oltramare). Ueberhaupt aber ist oft sehr schwer zu sagen, ob VerkĂĽrzung
oder Erweiterung stattgefunden hat, und gehören demnach Fälle, wo die Varianten
auch bezüglich der Länge variiren, zu den verwickelten. Nicht selten entspringt
die längere Lesart nur dem Bestreben, zwei nebeneinander bestehende kürzere
zusammenzufassen.
5) Proclivi lectioni praestat ardua oder Lectio insolentior principatum
tenet. Während der vorigen Regel zufolge 2 Cor 10, 12. 13 die AVorte oh
oüvioöav (resp. ooviäaiv) yjjisI«; Se zu streichen wären (nach Itala und occid.
Zeugen), sind sie, weil eine exegetische Schwierigkeit ersten Ranges bietend,
aufrecht zu erhalten (nach den gi'iechischen und syrischen Autoritäten), zumal
da auch Spuren unvollständiger Restitution vorliegen (Vulg.). Statt des nur
Lc 1, 8. Act 8. 21 stehenden svavxi wurde dort häufiger ivavxtov, hier gewöhn-
lich evtt):tiov, in beiden Fällen das Geläufigere statt des Selteneren gesetzt. Aller-
dings ist das Schwerere, Härtere, auf den ersten Anblick Sprachwidrige dem Ge-
wöhnlichen, Einfachen, Deutlichen vorzuziehen. Nur darf man nicht offenbare
Schreibfehler oder orthographische EigenthĂĽmlichkeiten von Abschreibern als
Anstoss begrĂĽndend in den Text aufnehmen.
6) Lesarten, welche dazu bestimmt sind, einen sittlichen oder dogmatischen
Anstoss zu heben, geben sich eben dadurch als Glosseme zu erkennen. So z. B.
statt ohv. das ooTzm Joh 7, 8.
7) Bei Parallelstellen ist in der Regel diejenige Lesart aufzunehmen, wo-
durch eine Verschiedenheit statt völliger Uebereinstimmung gewonnen wird.
Von den Emendationen sind zu unterscheiden die Conjecturen als Les-
arten, welche gar keine diplomatischen Zeugnisse fĂĽr sich haben. In der Regel
nennt man nur diejenigen Lesarten Conjecturen, welche in der Periode des ge-
druckten Textes gemacht wurden. Aber schon Origenes und nach ihm viele
Textkritiker und Abschreiber haben Conjecturen eingefĂĽhrt. Nur ist es jetzt
kaum mehr möglich zu bestimmen, was ursprünglich Conjectur, was eigentlich
Variante ist. Anlässlich mancher glücklichen Erfolge, welche die Conjectural-
kritik bezĂĽglich der Classiker aufzuweisen hatte, wurde sie besonders auch auf
NTlichem Gebiete stark betrieben, wiewohl hier schon der verhältnissmässig viel
grössere Vorrath zuverlässiger Hülfsmittel das Bedürfniss darnach von vorn-
herein gering erscheinen lässt. Eine Sammlung gab Bowyer (Critical conjec-
tures and observations on the New Testament 1763, 4. Afl 1812) heraus, welche
JoH. Chr. Fr. Schulz übersetzte und erweiterte (1774—75). Aber selbst der
kĂĽhne Textkritiker W. IVIace hat nur eine einzige Conjectur aufgenommen mit
dem Bemerken: there is no ms. so old as common scnse (ReĂĽss, Bibl. S 175).
90 Geschichte des Textes.
Eine gute Sammlung von Conjecturen findet sich als Anhang in den Asgn
Knapp's. Aber selbst nach dem Urtheile Hitzig's verdienen davon keine fĂĽnf
Beifall, und unter den von diesem Gelehrten selbst vorgeschlagenen Conjecturen
frappirt doch eigentHch nur die Verwandlung von [xavO-avouoi 1 Tim 5, 13 in
XavO-ävoüGi (Monatsschrift des wissenschaftlichen Vereins in Zürich 1856, S 62 f).
Als vielleicht einzig sicheres Beispiel einer begrĂĽndeten Conjectur gilt vielfach
Hbr 11, 37, wo selbst Tischendorf zwar im Texte iTCctpaoO^aav liest, in der
Note aber mit Gataker und Bleek sTCpYjo^Tjaav conjecturirt; ebenso 0. v. Geb-
HARDT (ThLz 1876, S 132), der ausserdem Em 13, 3 nach Patrick Joung aya-
fl-ospYtö und Col 2, 18 nach C. Taylor aspa xsvsjJißaTsucov lesen will (ebend.
1881, S 542). Dagegen ist im Vaterlande Valcfenaer's das Interesse fĂĽr Con-
jecturalkritik, angeregt durch Cobet (Vorrede zur Asg von 186Ă–), neu erwacht,
wie die Schrift von D. Harting, Bijdragen tot de vaststelling van den Tekst der
Schriften van het NT 1879 und die Beantwortungen einer Teyler'schen Preisfrage
durch VAN Manen (Conjecturaal-kritiek toegepast op den tekst van de Schriften des
Nieuwen Testaments 1880) und van de Sande Bakhuyzen (Over de toepassing van
de conjecturaal-kritiek op den tekst des Nieuwen Testaments 1880) beweisen, ausser-
dem aber auch erschöpfende Spezialarbeiten von S. S. de Koe (De conjecturaal-
kritiek en het evangelie naar Joh 1883) und J. M. S. Baljon (De tekst der
brieven aan de Romeinen, de Corinthiers en de Galatiers als voorwerp van de
conjecturaal-kritiek beschouwd 1884). Jener lässt übrigens auf seinem Gebiete nur
3 — 7, dieser auf dem seinigen über 100 Conjecturen zu. Noch viel weiter geht
Naber, Mnemosyne 1878 und 1881. Vgl. ĂĽber die Genannten Th T 1880, S 74 f.
1881, S 385 f, 617 f. I. H. A. Michaelis, Studien 1881, S 137 f.
Gegen Scrivener (Introduction, 3. Afl 1884, S 490) muss die Conjectural-
kritik als ein Theil der emendirenden Kritik jedenfalls im Grundsatze zugelassen
werden. „Nur wer die Ueberlieferung der NTlichen Schriften den Gesetzen
entrĂĽcken zu dĂĽrfen glaubt, welche fĂĽr die gesammte profane Literatur gelten,
der mag sich auch im Prinzip gegen die Zulässigkeit der Conjectur entscheiden.
Er mĂĽsste sich aber zugleich dazu entschliessen, die offenkundigsten Thatsachen
der ältesten Textgeschichte zu leugnen. Wenigstens dürfte es diesem Stand-
punkt schwer fallen, sich damit auseinander zu setzen, dass aus dem 2. und
3. Jahrh. Lesarten bezeugt werden, von denen sich weder in den uns erhaltenen
Handschriften, noch in irgend einer alten Version eine Spur findet; dass ferner
ebenfalls zu einer Zeit, welche über unsere ältesten Handschriften weit hinauf-
reicht, nach dem Urtheil der gelehrtesten Kirchenväter der ursprüngliche Text
an mehreren Stellen in den Handschriften nicht mehr erhalten war und dass
man damals keinen Anstand nahm, wo die Handschriften versagten, durch
Conjectur zu helfen" (v. Gebhardt ThLz 1881, S 541). Dagegen haben die
neueren Herausgeber die Aufnahme von Conjecturen als eine Sache, die der
Exegese zur Beurtheilung anheimfällt, mit Recht abgelehnt, obwohl sie z. Th
(Westcott und Hort) sehr bemerkenswerthe Vorschläge in dieser Richtung
machen.
Geschichte des Kanons.
Vorbemerkungen ĂĽber Aufgabe und Literatur derselben.
Der Begriff einer Geschichte des Kanons ist aus GrĂĽnden, welche aus
dieser selbst erhellen werden, sowohl der kath. wie der prot. Theologie lange
unerschwinglich gewesen. Man lebte des Glaubens, die Kirche habe zu jeder
Zeit denselben Kanon gehabt. Diesen Hessen alte und neue Orthodoxie bis
herab auf J. Chr. W. Augusti (Versuch einer historisch-dogmatischen Ein-
leitung in die heilige Schrift 1832, S 205 f) von Johannes gesammelt sein, so
dass Apc 22, 18. 19 als Siegel auf das Ganze galt. Zu Grunde lag ein schon
bei Photius (Bibl. 254) begegnendes Missverständniss der Nachrichten des
Eusebius (KG III, 24, 7) und des Hieronymus (Cat. 9), dass jener Apostel
die synopt. Evglien gut geheissen und für den kirchlichen Gebrauch bestätigt
habe. So heisst es in den Versus in bibliotheca des Eugenius von Toledo
(t657):
Summus et egregius congessit cuncta Joannes.
Seit der Reformationszeit und dann, nachdem die ihr angehörigen Impulse
zu einer historischen Erfassung der Sache ohne nachhaltige "Wirkung geblieben
waren, wieder seit Anfang des vorigen Jahrh. machte man sich an der Hand
des Locus classicus Eus. KG III, 25 mit den Zweifeln der alten Kirche bekannt,
und die Freidenker grĂĽndeten hierauf ihre Vorstellung von dem durchaus un-
beständigen und flüssigen Charakter des Kanons. Gleichwohl konnte noch Mill
(1707) meinen, die Evglien seien um 100, die Briefe um 110 zusammengestellt
worden, und erst von Semler datirt der Nachweis, dass der Kanon in jeder
Beziehung etwas Gewordenes, nach seiner persönlichen Ueberzeugung sogar ein
erst gegen Ende des 2. Jahrh. zu Stande gekommenes Werk der kath. Unions-
richtung sei (Abhandlung von freier Untersuchung des Kanons 1771 — 75; Prae-
fatio ad illustrandam originem catholicae ecclesiae in der Paraphrasis in epist.
II Petri et epist. Judae 1784). Dagegen verwahrte sich dann sofort Chr. Fr.
ScHMm (Historia antiqua et vindicatio canonis sacri 1775), aber um so erfolg-
reicher schritt in Semler's Bahn Corrodi weiter (Versuch einer Beleuchtung der
Geschichte des jüdischen und christlichen Bibel-Kanons 1792), während Chr. Fr.
Weber (Beiträge zur Geschichte des NTlichen Kanons 1798) vermittelnd ein-
trat. Den Kanon als Product einer langen geschichtlichen Entwickelung be-
greiflich zu machen, dazu dienten sofort die Einleitungswerke von Eichhorn,
welcher erst bei Marcion eine Tendenz auf Sammlung NTl icher Schriften wahr-
nahm und den Kern des späteren Kanons durch stillschweigende Ueberein-
stimmung der Gemeinden um 150 — 70 sich gestalten Hess, de Wette, welcher
die allmälige Erweiterung des Kanons bis zum Abschluss um 400 bereits wesent-
92 Geschichte des Kanons.
lieh richtig darstellt, und Schleiermacher, der die Geschichte des Kanons rĂĽck-
wärts zu erzählen, d. h. vom fertigen Product um 400 bis in die chaotischen
Dunkelheiten des 2. Jahrh. vorzudringen versucht. Dazu kommen die Bear-
beitungen der Dogmengeschichte besonders seit MĂĽnscher (1797), zuletzt bei
A. Harnack im „Lehrbuch der Dogmengeschichte" I, 1886, S 272 f. Schon
1844 konnte Jon. Kirchhofer eine „Quellensammlung zur Geschichte des
NTlichen Kanons bis auf Hieronymus" veranstalten, darauf noch A. H. Char-
TERis' Canonicity 1880 beruht (wozu The New Testament scriptures 1882 eine
Ergänzung bildet, welche Begriff und, Thatsache einer Geschichte des Kanons
im Interesse des Dogmas beseitigt). Etwas freier gerichtet sind die Arbeiten
von Sanday (The gospels in the second Century 1876) und Westcott (A general
survey of the history of the canon of the NT 1885, 5. Afl 1881). „Zur Ge-
schichte des Kanons" gab Credner 1847 Beiträge-, seine „Geschichte des
NTUchen Kanon" veröffentlichte Volkmar 1860 mit eigenen Ergänzungen
(S 337 f). "Weitere grĂĽndliche Bearbeitungen des Ganzen lieferten ReĂĽss, sowohl
im 2. Buche seiner „Geschichte der heil. Schriften NT", wie in gesonderter
Darstellung (Histoire du canon des saintes ecritures dans l'eglise chretienne
1863, 2. Afl 1864, englisch von Hunter 1884), Ewald (Geschichte des Volkes
Israel VII, 2. Asg S 448 f), Bleek-Mangold (S 821 f), F. Overbeck (Zur Ge-
schichte des Kanons 1880), AĂĽbe (Histoire des persecutions de l'eglise. La
polemique pa'ienne 1878, S 202 f) und A. Hilgenfeld , welcher nicht blos die
Geschichte des Kanons unbefangen und richtig (zumal von etwa 180 an) zur
Darstellung gebracht (Der Kanon und die Kritik des NT 1863; Einl. 1875,
S. 29 f), sondern auch in den vier Fascikeln seines NT extra canonem receptum
(1866, 2. Afl, I. Clementis Romani epistulae 1876. IL Barnabae epistula 1877.
III. Hermae Pastor 1881. IV. Evangeliorum secundum Hebraeos etc. quae
supersunt 1884) diejenigen SchriftstĂĽcke und Fragmente zusammengestellt hat,
welche zur Bildungsgeschichte des Kanons gehören und in demselben wenigstens
vorĂĽbergehend Stellung gewonnen haben.
Den Traum von einem seit Anfang des 2. Jahrh. in irgend welchem Um-
fange bereits bestehenden Kanon auf's neue heraufzubeschwören unternahm Con-
STANTiN Tischendorf: Wann wurden unsere Evangelien verfasst? 1865, 4. Afl
1866. 2. Abdruck 1880. Hiernach hätten die Apostel nur einfach auszusterben
brauchen, um ihre Autorität auf die bereits in den Händen der Kirche befind-
liche Hinterlassenschaft zu vererben. Denselben Gedanken fĂĽhrte in der dem
Leipziger Bahnbrecher gewidmeten Schrift „Basilides am Ausgange des aposto-
lischen Zeitalters als erster Zeuge für Alter und Autorität der NTlichen
Schriften" 1868 P. Hofstede de Groot weiter aus, um zu dem SchlĂĽsse zu ge-
langen, die Geschichte des Gebrauches und der Autorität der Bücher des NT
im 2. Jahrh. mĂĽsse von vorurtheilsfreien Forschern ganz von Neuem geschrieben
werden (S 83). Neben untergeordneteren Geistern ^) erhob eine solche Aufgabe
zum Lebensberuf Theodor Zahn (vgl. RE 2. Afl IV, 1879, S 155) in den
^) Vgl. z. B. Christoph Hoffmann, Bibelforschungen II, 1884, S 93 f.
Ihm lichtet sich die „Dämmerung" , welche über der christlichen Literatur bis
gegen 300 ruht und der Kritik ihr Diebshandwerk erleichtert (S 108) , bis zur
deutlichen Wahrnehmung einer zu Ephesus bestehenden „Centralleitung", durch
welche die christliche Kirche schon zu Zeiten des Apostels Johannes mit einem
Kanon beschenkt wurde (S 178 f).
Vorbemerkungen ĂĽber Aufgabe und Literatur derselben. 93
„Forschungen zur Geschichte des NTlichen Kanons und der altchristl. Literatur"
(3 Bde 1881 — 84), welche Tischendorfs Gedanken, zwei Evglienharmonien des
2. Jahrh. zum StĂĽtzpunkt einer restaurativen Operation zu machen (S 15 f), ver-
wirklichen. Wenn übrigens selbst Tischendorfs nächste Collegen Luthardt
(Der Johanneische Ursprung des 4. Evglms 1874) und mehr noch Wold.
Schmidt („Kanon des NT", RE 2. Afl VII, S 451 f) ihm nur ermässigend und
sogar corrigirend gefolgt sind, so traten dagegen mit mehr oder weniger aus-
fĂĽhrlichen Widerlegungen hervor in Holland neben Krom, Stenfert Kroese,
HoLWERDA u. A. besonders J. H. Schölten (De oudste getuigenissen angaande
de Schriften des Nieuwen Testaments 1866, deutsch von Manchot, Die ältesten
Zeugnisse betreffend die Schriften des NT 1867), in England Samuel Davedson
(The canon of the Bible 1877, 3. Afl 1880) und der anonyme Verfasser des
Werkes Supematural religion: an inquiry into the reality of divine revelation,
2 Bde 1874, 6. Afl 1875. Bd 3, 1877. Complete edition 1879), in Deutsch-
land VoLKMAR (Der Ursprung unserer Evglien 1866), Hilgenfeld (ZwTh 1865,
S. 329 f. 1867, S 83 f. 1868, S. 213f), P. Overbeck (ebend, S 54 f), Lipsros
(ebend. 1867, S 75 f), Ritschl (JdTh 1866, S 353 f) und P. W. Schmiedel
(Allgem. Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, Sect II, Bd 32, 1883,
S 309 f). Das eigentliche Streitobject zwischen den apologetisch gerichteten
und den kritisch zu Werke gehenden Theologen bildet der Complex derjenigen
Thatsachen, auf deren Constatirung im Folgenden das Recht der „Vorgeschichte
des Kanons" beruht. Nach dem apologetischen Programm wĂĽrde sich an die
neutest. Zeit (Kap 1) vielmehr möglichst unmittelbar der kath. Urkanon (Kap 3)
anschliessen, weil der Begriff eines Kanons verlangt, dass er in seinem richtigen
Umfange als Norm fĂĽr die kirchliche Entwickelung von Anfang an existirte,
Dass gleichwohl positive Zeugnisse fĂĽr den Kanon als Complex heil. Schriften
des NT erst in dem Menschenalter vor 200 beginnen, dafĂĽr sprechen sel])st
Tischendorf, indem er seine Thesis nachgehends auf die Evglien beschränkt
(4. Afl S IV, 38, 127) und überdies in die 1. Hälfte des 2. Jahrh. eine Viel-
gestaltigkeit des Textes derselben verlegt, die mit kanonischem Ansehen unver-
träglich ist (S 30, 126)-, HoFSTEDE, dem zufolge „als Autorität besitzende heil.
Schrift die Sammlung der BĂĽcher des NT vor dem Jahr 170 kaum ausdrĂĽcklich
vorkommt" (S 39); Zahn, der selbst noch dem Tatian „ein sehr entwickeltes
Bewusstsein vom Unterschied des Kanonischen und des Nichtkanonischen ohnehin
nicht zuschreiben" will (I, S 241). . Auch die durchaus conservativ angelegte
Darstellung von Gramer (De Kanon der heilige Schrift in de eerste vier eeuwen
der christelijke kerk 1883), ĂĽbrigens eher eine Geschichte des Dogmas vom Kanon,
als eine Geschichte des letzteren, spricht in ausdrĂĽcklichem Gegensatze zur
Orthodoxie aus, dass die neutest. Schriftsteller keineswegs Willens waren, dem
alttcst. Kanon eine gleichwerthigc Fortsetzung zu schaffen, sondern ihren Pro-
ducten vielmehr erst im Laufe des 2. Jahrh. unter den eigenthĂĽmlichen Be-
dingungen, die fĂĽr die Bildung der alten kath. Kirche maassgebend waren, eine
solche, der eigenen Beschaffenheit freilich durchaus entsprechende, WĂĽrdestellung
zugewachsen sei (S 30 f, 42). Wahrscheinlich haben Kritiker wie Schölten,
VoLKMAU und der englische Anonymus nicht selten ĂĽl)er das Ziel hinausgeschossen.
Aber auf keinen Fall reichen die 4 Stellen 2 Pe 3, 16. 2 Clcm. 2, 4. Barn. 4, 14
und Polyc. 12, 1 (die einzigen, welche gegen das o])en verzeichnete Resultat
geltend gemacht werden könnten) hin, um die ganze Errungenschaft der histo-
rischen Forschung seit 100 Jahren mit einem groben Schwamm ein fĂĽr allemal
94 Geschichte des Kanons.
auszulöschen. Einem solchen Unternehmen sind schon die gleichzeitigen Fort-
schritte der vergleichenden Religionswissenschaft tödtlich. Dieser verdanken wir
nämUch die Entdeckung, dass das Ideal einer schrifbKchen Unterlage, welches
dem Kanonbegriff zu Grrunde liegt (vgl. S 15), nicht etwa blos den christl. oder
den monotheistischen Religionen eignet, sondern dass fast alle entwickelteren
Glaubenskreise der indogermanischen und semitischen, auch einiger turanischen
und anderweitigen Völkerschaften es gezeitigt haben, also sog. Buchreligionen
sind (Max MĂĽller, Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft, 2 Afl
1876, S 94 f). „Es ist für die Religionen, welche eine specifisch religiöse
Literatur erzeugt haben, geradezu ein Naturgesetz, auf einem gewissen Punkte
ihrer Entwicklung sich aus derselben einen Kanon von absoluter Heiligkeit zu
bilden" (Schmiedel S 310). Insonderheit kennt der Buddhismus einen mehrere
Jahrhunderte fĂĽllenden Process der Kanonbildung. Eben darum erweisen sich
aber auch alle kirchengeschichtlichen Forschungen der Neuzeit zugleich als Vor-
arbeiten zu einer immer grössere Dimensionen annehmenden Geschichte des
Kanons. Historischer Blick fĂĽr die Gesetze, welche bezĂĽglich der Gesammt-
entwicklung maassgebend sind, auf der einen Seite, Unbefangenheit und objectives
Urtheil gegenĂĽber den Documenten, aus welchen der specielle Process der
Kanonbildung zu erkennen ist, auf der anderen — das sind die beiden Be-
dingungen, welchen GenĂĽge geschehen muss, wo wenigstens relativ sichere
Resultate in Aussicht stehen sollen.
Erstes Kapitel: Die neutestamentliche Literatur.
1. Urchristliche und altkirchliche Literatur^).
Die letzten 30 Jahre des 2. Jahrh. haben abschliessende Be-
deutung fĂĽr die ur christliche Vergangenheit und leiten zugleich eine
wesentlich anders geartete Zukunft ein. Mit dieser Periode erst
beginnt diejenige Literatur, welche die altkirchliche heisst, weil sie
zwar auf dem Fruchtboden des mit griechischer Bildung ĂĽberzogenen
Römerstaates erwachsen ist, ihren treibenden Factor aber in der
neuen Rehgion hat, die sich eben anschickt, von jenem Weltreich
Besitz zu nehmen. Erstmalig lenkten in das Fahrwasser der Welt-
literatur die fĂĽr ein heidnisches Publikum schreibenden Apologeten
des 2. Jahrh. ein; an die christliche Rhetorik dieser schon ganz mit
hellenischem und hellenistischem Vor Stellungsapparat arbeitenden
Schriftsteller schliesst sich die antignostische Polemik des Irenäus
an, und mit den Werken des alexandrinischen Clemens sind die
Formen der griechisch-römischen Schriftstellerei dem Christenthum
definitiv angeeignet, beginnt daher die patristische Literatur im
strengen Sinne des Wortes.
^) F. OvERBECK, Ueber die Anfange der patristischcn Literatur (Historische
Zeitschrift, Bd 24, Neue Folge, Bd 12, 1882, S 417 f).
I. Kap.: Die neutestam entliehe Literatur. 95
Was vor der Epoche des Irenäus Hegt, ohne sich darum der
durch Justin den Märtyrer repräsentirten Gruppe einzugliedern und
so gewissermaassen die Avantgarde des Heeres der „Väter" zu bil-
den — also die neutest. Schriften und ihre apokryphen Seiten-
gänger älteren Datums, die mit letzteren theilweise schon zusammen-
fallenden apostoHschen Väter und die problematischen schrift-
stellerischen Grössen eines Papias und Hegesipp — das lässt sich
vom hterarhistorischen Standpunkte aus als eine Art von paläontologi-
schem Gebilde, als die, z. Th. fragmentarisch, z. Th. vollständig er-
haltenen Reste einer ausgestorbenen Welt bezeichnen. Die alttest.
und jüdischen Vorbedingungen wirken hier noch stärker nach und
bedingen eine specifisch verschiedene Färbung. Die den Beginn
der eigentUch patristischen Literatur unmittelbar einleitende Bil-
dung eines neutest. Kanons bezeugt am besten und klarsten, wie
auch im Bewusstsein der Kirche selbst bezĂĽghch ihres literari-
schen Betriebes ein Altes vergangen, ein Neues aber im Anzug be-
griffen ist.
2. Aeltere Sehr iftstellerei.
Von Haus aus lagen weder Kanonbildung, noch ĂĽberhaupt
SchriftsteJlerei und hterarische Bewegung im Trieb und Charakter
des Christenthums. Der Sand, in welchen Christus einer bekannten
Erzählung zufolge geschrieben hat (Joh 8, 6. 8), ist längst verweht,
und vergebhch hat man sich darĂĽber den Kopf zerbrochen, was die
Schriftzüge wohl besagt haben mögen. Wäre die Sache Jesu für
die literarisch gebildeten Kreise bestimmt gewesen, so wäre sie auch,
wie so manche gleichartigen Versuche einer Neubildung der Welt-
anschauung und des Lebens, auf sie beschränkt geblieben. Dagegen
brach sich das Christenthum von unten auf Bahn. Unter den ersten
Gläubigen befanden sich keine Gelehrte und keine Schriftsteller.
Gerade die Schriftgelehrten seines Volkes hatten sich an Jesu
Messianität gestossen. Die Muttergemeinde jzu Jerusalem bestand
vielmehr aus notorisch Armen, und sogar der gebildetsten Ge-
meinde der apostoHschen Zeit stellt der Apostel das Zeugniss aus,
dass es in Bezug auf ihre Zusammensetzung nicht viel anders aus-
gesehen habe (l Cor 1, 26 — 29). Zu nichts weniger lud solche Ge-
meinden ihre ganze Situation ein, als zum Schreiben. Eine Ge-
nossenschaft, welche, mitten in aufregenden Kämpfen und religiösen
Krisen stehend, jeden Tag dem AVeltende entgegensah, welche an
eine Zukunft innerhalb der Bedingungen crfalu'ungsmässiger Wirk-
lichkeit nicht glaubte, musste begreiflicher Weise den denkbar un-
96 Geschichte des Kanons.
gĂĽnstigsten Boden fĂĽr Entwickelung einer literarischen Thatigkeit
bieten. Ueberdies waren die frĂĽhest berufenen und hervorragendsten
Apostel vom Fischerhandwerk hergekommen, auf schriftstellerische
Wirksamkeit nicht eben eingerichtet (Act 4, 13 avd-^mizoi aYpd(i{xaTot
%al IStwrat). Schrieben die Urapostel und ihre nächsten Freunde
und Jünger überhaupt, so folgten sie dabei einer gewissen Nöthigung,
welche lediglich durch die sich gestaltenden Verhältnisse geboten
wurde. Dahin gehört namentHch der Umstand, dass das Christen-
thum bald nach seiner Entstehung auch von ausserpalästinischen
Juden mit hellenistischer Bildung, ja auch von eigentlichen Hellenen
ergriffen wurde. Diese waren nun theils ĂĽberhaupt schreibelustiger,
theils stellten sich in Folge der Entwickelung, in welche das Christen-
thum mit seinem Uebergange auf hellenischen Boden eintrat, der
Anlässe zum Schreiben immer mehrere ein. Schon was die Apostel-
geschichte (15, 23 f, 18, 27) von dem Decrete des Apostelconvents
in Jerusalem oder dem ephesischen Empfehlungsbriefe des Apollos
erzählt, gibt ein anschauliches Bild von solchen Gelegenheitsursachen.
Namenthch aber sind die Briefe des Apostels Pls, welche den
ältesten Theil des Kanons bilden, alle als Gelegenheitsschriften im
weitesten Sinne des Wortes aufzufassen, insofern sie theils aus Be-
ziehungen von rein persönlicher Art, aus Verhältnissen von nur
augenbHcklicher Natur hervorgegangen sind und stellenweise sogar
den Charakter von Geschäftsbriefen tragen (2 Cor 8 und 9, Phl und
Phm), theils ihre Veranlassung in der aufgenöthigten Auseinander-
setzung mit dem Judaismus finden. Zunächst sind sie daher alle-
sammt nicht fĂĽr die Zukunft, sondern fĂĽr die jeweihge Gegenwart
bestimmt gewesen.
Dem an sich gerechtfertigten Bedenken, ob eine so rein zuf älUg bedinget
Form überhaupt schon als „Literatur" zu verwerthen sei, begegnet die Beob-
achtung, dass die pauHnischen Briefe wenig oder nichts von Improvisation an
sich haben. Zumal die Sendschreiben Gal, Cor und Rm sind mehr als auf's
Papier geworfene Niederschläge augenblicklicher Stimmungen. Der Briefsteller
nähert sich dem Ziel, welches er von vornherein in's Auge gefasst hat, nur
langsam in immer enger sich windenden Kreislinien. Die wohlĂĽberlegte Dis-
position, die langer Hand vorbereiteten Hauptschläge auf die Gegner, nachdem
zuvor die Freunde gestärkt und die Schwankenden gewonnen sind, die weise
Vertheilung des Stoffes, bei welcher auch scheinbare Digressionen und Exkurse
in der Regel einem allgemeinen Zweckgedanken unterstehen, kurz die Taktik,
welche sich in diesen schriftstellerischen Documenten kundgibt, beweist, dass
sie keine Briefe im gewöhnlichen Sinne sind. Sie bringen vielmehr, einer nach
dem anderen, das System selbst zu immer vollständigerer Enthüllung und Dar-
stellung; in jedem tritt uns eine Schwergeburt, ein Product langen und ange-
Ăźtreugteu Nachdenkens entgegen.
I. Kap. : Die neuteetamentliche Literatur. 97
Ist es sonach zu verstehen, wie Schriftstücke, welche zunächst blos lokalen
und vorĂĽbergehenden BedĂĽrfnissen dienen sollten, zu einer dauernden Bedeutung
gelangen konnten, so hat doch ihr Urheber selbst daran am wenigsten gedacht.
Bezieht er sich auch gelegentlich auf seine Briefe (1 Cor 5, 9, 2 Cor 7, 8. 2 The
2, 15), so verweist er doch noch häufiger die Uemeinden auf sein mündUches
Wort (z. B. 1 Cor 15, 1. 2. 1 The 2, 11. 13. 2 The 2, 5. 3, 10) und die aposto-
Hsche Tradition ĂĽberhaupt (1 Cor 11, 16. 23. 14, 33. 36. 15, 3). Allerdings
kann er als a(ptopic|X£vo<; tl<; BhaY(i'k'.ov ■S-soö (Rm 1, 1) dieses letztere auch ib
zhrxY(0.iov /xoD (Rm 2, 16. 16, 25) und seine Predigt d-sob lo^oc. (1 The 2, 13)
nennen; und wenn er nicht blos fĂĽr des Herrn (1 Cor 7, 10. 9, 14. 14, 37),
sondern auch fĂĽr die dagegen ausdrĂĽcklich abgegrenzten (7, 12) eigenen Gebote
Gehorsam fordert (7, 25), so geschieht dies auf Grund des Bewusstseins, offen-
barungsmässig dazu qualificirt zu sein (Gal 1, 1. 1 Cor 2, 7. 10 — 13). Aber
ĂĽber das StĂĽckwerk menschlichen Wissens weiss er sich damit nicht hinaus-
gehoben (13, 8 — 12), und eine Grenzlinie zwischen apostolischer und gemein-
christlicher Geistesbegabung wird von ihm selbst so wenig gezogen (7, 40, vgl.
2 Cor 10, 7), wie von dem Verfasser von Act 2, 1. 4. 17. 18, 38. 39. 5, 32. 6,5. 10. 7,
55. 8, 15—18. 10, 44—47, 11, 16. 17. 13, 2. 15, 8. 9. Ata irveojxaxo? äy.ou kann
er nur ganz in derselben Weise auch zu schreiben gedenken, wie er ĂĽberhaupt
geisterfüllt handelt und Wandel im Geist auch bei allen Gläubigen erwartet. Ein
schriftstellerisches Charisma dagegen legt er weder sich selbst bei, noch kennt
er es bei Anderen. Vollends war der Gedanke an eine privilegirte Thätigkeit
weniger Federn und in Folge dessen an einen singulären Ursprung der betref-
fenden Producte ausgeschlossen, so lange die christlichen Gemeinden selbst sich
inspirirt wussten und lebendiges Prophetenwort allen BedĂĽrfnissen des Tages
GenĂĽge leistete. Nach Gal 3, 2. 5. 1 Cor 3, 16. Rm 8, 9. Eph 4, 30. 1 Joh 2,
20. 27 galt Begabung mit dem heiligen Geist als gemeinsames Characteristicum
der Gläubigen. Nur Eine in Schrift verfasste Autorität kennt Pls, das AT.
Was hier geschrieben steht, ist nämlich direct für die Verhältnisse der Gegen-
wart bestimmt (1 Cor 10,11. Gal 3, 8), eine Quelle der Lehre (Rm 15, 4. 2 Cor
3, 7—11. 11, 3. Gal 4, 21—31) wie des Gemeinderechts (1 Cor 9, 9. 10). Vor-
lesung des AT (2 Cor 3, 14 avdYvtuat; ty]«; TzrAa:ä<; StaO-rjxYjc;) setzt er ohne
Zweifel in den Gemeinden voraus; anders wäre es wenigstens schwer zu ver-
stehen, wie er beständig daraus argumentircn und damit operiren kann. Hätte
er die eigenen AVorte als Orakel geschätzt, so wäre er der ausführlichen und
kunstreichen Argumentation aus dem AT ĂĽberhoben gewesen^).
Das Christenthum ist sonach „Buchreligion" von Anfang gewesen. Wo
das AT heidenchristlichen Gemeinden nicht etwa schon von ihrer Proselyten-
Vergangenheit her als Autorität feststand, da hat Pls es als solches eingeführt.
Was er freilich damit erreichen und durchsetzen wollte, war dieser Autorität
nicht in jedem Sinne gĂĽnstig und fcjrderlich. Dem gleichzeitigen Judenthum
hatte sich die alttest. Offenbarung ganz auf den Begriff einer gesetzlichen Autorität
reducirt, die Religion war im Gesetze aufgegangen, Demgemäss galt es nicht
^) Jegliche exegetische und historische Wahrheit auf den Kopf stellend
bezieht somit GoDET (Comm, sur Tepitre aux Romains II, S 604 f) Sta '((lutfĂĽtv
;tp&(pY)Ttx<iv Rm 16, 26 statt auf alttest, auf apostolische Schriften, so dass Pls
die l)is zum Jahre 59 vorhandenen neutest. Schriften mit Eiuschluss des eben
vollendeten Briefes für kanonisch erklären würde.
HoltzmauD, Einleitang. 2. Auflage. ij
9J8 Greschichte des Kanons.
blos zu erweisen, dass des Gesetzes Zeit vorüber sei (Gral 3, 6—5, 14), sondern
auch aus dem Gesetze selbst rausste dies erwiesen sein. Diese Frage nach dem
Verhältnisse des Neuen zum Alten bildete aber die entscheidende Lebensfrage
der jungen Gemeinde. Von der Lösung dieser Frage hing es ab, ol) eine neue
Religion und zwar eine "Weltreligion, oder eine neue jĂĽdische Secte im AnzĂĽge
war. Daher fĂĽllt der Streit um das Gesetz den besten Theil des Lebens des
Heidenapostels aus, und nichts drĂĽckt seiner schriftstellerischen Hinterlassenschaft
so sehr den Stempel des Unerfindbaren, Originalen und Echten auf, als dass sie
die Quellen darbietet, aus welchen die erste Existenzfrage des Christenthums
sich zugleich als archimedischen Punkt fĂĽr die geschichtliche Erforschung seiner
Entstehungsverhältnisse ergeben hat. Nach diesem Maassstabe erschienen die
4 Briefe Gal, 1 und 2 Cor, Rm der neueren Kritik als das- feste Land, von
welchem aussichtsvolle Entdeckungsreisen zu unternehmen, als die Operationsbasis,
auf welcher weitreichende Combinationen aufzubauen sind. Vor dem Streit um
das Gesetz, welcher das Thema der paulinischen Homologumena bildet, liegen
die Thessalonicher-Briefe , hinter ihm die Gefangenschaftsbriefe oder was sich
in diesen wie in jenen als unauflöslicher Grundstock bewähren wird.
Etwa zwischen 53 und 63 geschrieben, bieten die als sicher
oder wahrscheinlich echt bewährten Plsbriefe mit ihrem grossen
E-eichthum an historischen Notizen, Anspielungen und Streiflichtern
auf Zeitverhältnisse die ergiebigste Quelle für Kenntniss des aposto-
lischen Zeitalters. Wird dasselbe, me neuerdings mit Fug geschieht,
mit der grossen Katastrophe des Judenthums im Jahre 70 abge-
schlossen, so kann ihnen ĂĽberhaupt nur noch Ein Werk als gleich-
alterig an die Seite treten: die Offenbarung des Johannes, welche
mit ihren ermahnenden und tröstenden Zuschriften an die klein-
asiatischen Gemeinden sich auch formell an die Plsbriefe anschliesst.
Seinem schriftstellerischen Charakter nach ist dieses Werk freilich
weniger originell, da es sich als Fortsetzung der alttest. Prophetie,
speciell der jĂĽdischen Apokalyptik gibt, daher auch dem Geist des
Judenthums ungleich näher steht als jene Briefe.
3. Apostolisches Material zur Kanonbildung.
Aus dem dargelegten Thatbestand erhellt, dass im apostolischen
Zeitalter die christl. Wahrheit sowohl in paulinischer wie in judaisti-
scher Form bereits schriftlich fixirt war. Einen ersten Schritt,
welcher bei der Bildung des Kanons als Voraussetzung erscheint,
sehen wir schon in diesen ältesten Schriften, die er umschliesst,
gethan. Zwar von etwaigen Maassregeln, die Pls oder Johannes selbst
getroffen hätten, um alle vorhandenen Gemeinden mit Abschriften
ihrer Hinterlassenschaft zu versehen, fehlt auch die geringste Spur. ^
Nur dafĂĽr wird 1 The 5, 27 gesorgt, dass der Brief der gesammten
Gemeinde feierlich vorgelesen werde, wie Gleiches auch 2 Cor 1, 13
vorausgesetzt wird (vgl. 1 Cor 5, 9. 16, 3. 2 Cor 7, 8. 10, 9—11).
I. Kap. : Die neutestamentliche Literatur. 99
In schon viel tendenziöserer Weise schreitet auf derselben Bahn der
Mann weiter, der sein Werk gleich als a7:oxdXo(|>i? 'Irpob Xpiaioö y]v
sSwywSv aüT(j) 6 -d-sö? einführt (Apc 1, 1). Am Tage des Herrn
(1, 10), da die irdische Gemeinde ihren Grottesdienst feiert, sieht er
sich in die himmlische Gemeinde versetzt, wo nach dem Vorbilde
des irdischen Cultus nicht blos Gebete und Gesänge statthaben,
sondern auch ein Buch geöffnet wird (5, 1 f). Obwohl er nun aber
fĂĽr seine Person vor seinen BrĂĽdern, den Propheten, die auch den
Geist der Weissagung haben, nichts voraus hat (19, 10. 22, 9), ist
doch sein eigenes Buch darauf eingerichtet, dass man es vorlese
(1, 3) und anhöre (2, 7), weil die Erfüllung der darin enthaltenen
Weissagungen in Bälde bevorstehe (22, 10); darum soll Niemand
etwas davon oder dazu thun (22, 18). Auch der Col 4, 16 be-
zeugte Fall , dass einzelne Gemeinden sich die an sie gerichteten
Plsbriefe gegenseitig zur Vorlesung mittheilten, wird nicht vereinzelt
geblieben sein. In diesem zuvor in der Synagoge ĂĽblichen Ritus
der Anagnose liegen nun aber die Anfänge des Prozesses der Kano-
nisation. Schon dort nämlich war öffentliche Vorlesung Zeichen
])esonderen Ansehens der betreffenden Schriften ; diese wurden dadurch
zu Gemeindeschriften.
In die Zeiten vor 70 gehören ferner zwar noch nicht unsere
kanonischen Evglien, wohl aber theils was ihnen von schriftUchen
Darstellungen derselben Art vorangegangen sein mag, theils der ganze
Prozess der Geschichts- oder Sagen-Bildung, als dessen Nieder-
schlag zunächst die Synoptiker erscheinen. Die Gemeinde von
Jerusalem, blĂĽhend unter Leitung eines leiblichen Bruders Jesu,
hatte in der Urzeit die Zwölfe und die übrigen Hauptzeugen des
Lebens des Messias in sich vereinigt. Der Urstoff der Evglien-
bildung stammt aus der Muttergemeinde und trägt in formeller wie
materieller Beziehung den Stempel dieser seiner Herkunft ^). Von hier
wurden Jesu AussprĂĽche und Thaten in der skizzenhaften Um-
rahmung, welche sie gefunden, nach den Gemeinden innerhalb und
ausserhalb Palästinas getragen und sorgsamst gepflegt. Mehr als
einmal erscheint darum im NT alles geistige Schaffen und Bilden,
welches innerhalb der Gemeinden statt hatte, als erwachsen auf dem
(jrunde stetiger Erinnerung, als ein ununterbrochenes Auffrischen
des empfangenen Eindrucks, als ein Weitergeben und Fortleiten des
vom Ursprungspunkte her Zugeströmten (1 Cor 11, 2. 23. 15, 1. 3.
Job 14, 26). Als sorgfältig von den Gläubigen gewahrtes Heilig-
') WeizsIckkr, Apost. Zeitalter S. 381 f. Holstkn, Synopt. Evglien S.159f.
7*
100
Geschichte des Kanons.
thum, als best gehĂĽteter Schatz der Ueberlieferung erweisen sich
namentlich die direct aus dem Munde Jesu ĂĽberlieferten Worte,
SprĂĽche und Befehle. Mitten in seinen brieflichen Reden (1 The
4, 15. 1 Cor 7, 10. 12. 25. 9, 14. 11, 24. 25) erhebt Pls bedeut-
samst seine Stimme, unterstreicht gleichsam das Geschriebene doppelt,
so oft er etwas nicht sowohl wie seine eigene individuelle Meinung,
als vielmehr im AnschlĂĽsse an eine ĂĽberlieferte Kundgebung des
Messias selbst mittheilt. Das älteste Grundgesetz, gleichsam den
mĂĽndlichen Kanon neben dem geschriebenen des AT besassen die
Gemeinden sonach in den 'k6'(oi zopiou. Fragelos waren demselben
Pls, welcher ein so deutliches Interesse an den ĂĽberlieferten Christus-
sprĂĽchen an den Tag legt, auch einzelne Ereignisse aus dem Leben
und Wirken des Messias bekannt. Aber mit Ausnahme des ge-
legentlich (1 Cor 11, 23 — 25) mitgetheilten Abendmahlsberichtes,
wobei es ihm jedoch in erster Linie abermals auf Worte (der Ein-
setzung) ankommt, ist keines so sehr in den Vordergrund seines
Bewusstseins getreten, dass es neben jenen grossen Wendepunkten
des Todes und der Auferstehung, welche im Centrum seiner Predigt
stehen, irgendwie gestreift wĂĽrde. Gleichwohl setzt gerade jener
paulinische Abendmahlsbericht bereits eine formulirte Erzählung von
den Endschicksalen Jesu voraus. Denn im Zusammenhange der
den Corinthern zu Theil werdenden Belehrungen fĂĽhrte nichts auf
die einleitende Bemerkung: „Unser Herr Jesus in der Nacht, da
er verrathen ward" (1 Cor 11, 23). Wohl aber ist aus Mr 14,
18 — 21 = Mt 26, 21 — 25 zu ersehen, dass die Erzählung von der
Bezeichnung des Verräthers dem Berichte vom Abendmahl unmittel-
bar vorauszugehen pflegte. Sogar die Möglichkeit einer bereits
schriftlichen Fixirung der bedeutsamsten Worte »Tesu, gleichsam der
vorläufigen Reichsbefehle des Messias, ist für die Zeit der Korinther-
briefe keineswegs ausgeschlossen, und wenn unter den Aposteln ĂĽber-
haupt Einem, so könnte am ehesten dem früheren Zollbeamten das
erforderliche Geschick im Umgange mit dem Griffel zugeschrieben
werden. In der That existirt eine alte Ueberlieferung, derzufolge
gerade Matthäus Xö^ia %upia%d in der Landessprache aufgezeichnet
haben soll (Euseb. KG III, 39, 16). Aber ein „Evangelium" im
späteren Sinne hat der Zöllnerapostel auf keinen Fall geschrieben,
am wenigsten ein so kunstreich gegliedertes, von Zahlensymbolik
beherrschtes und grosse Redecompositionen wagendes, auch schon
frĂĽhere Schriften voraussetzendes Werk., wie unseren kanonischen
Mt, sondern die mit grösster Liebe und Sorgfalt aufbewahrten Gleich-
nisse, Weissagungen und Lehrreden, wie sie noch in den ĂĽberein-
I
I. Kap.: Die neutestamentliche Literatur. 101
stimmenden Redepartien des Mt und Lc die ehemalige Existenz
jenes "Werkes zu bezeugen scheinen, könnte er möglicherweise gegen
jede Corruption durch fortgesetzte mĂĽndUche Ueberlieferung sicher
gestellt haben. Weiter gehendes Wissen ĂĽber die Schriftstellerei
von Uraposteln ist fraghcher Natur, sofern es mit deai Ausfalle
der verwickelten Verhandlungen ĂĽber Job und Apc, Jac und 1 Pe
zusammenhängt.
Viel leichter verbindet sich die Vermuthung einer mit der Feder geĂĽbten
Wirksamkeit mit dem Signalement, welches Act 18, 24 von dem gelehrten
Alexandriner Apollos gegeben wird, in welchem man ja auch in der That den
Verfasser von Hbr finden will; jedenfalls vertritt schon dieses SchriftstĂĽck den-
selben durch verstärkte Typologie, schulmässig durchgebildete Ansicht vom
Judenthum und metaphysisch angehauchte Gotteslehre gekennzeichneten christl.
Alexandrinismus, welcher sich dann in Joh ein Denkmal von bleibender Be-
deutung gesetzt hat, bei den frĂĽhesten Entwickelungskrisen der christlichen
Sache aber noch nicht betheiligt war. Hier liegt das entscheidende Moment
vielmehr in jenem aus der Frage nach dem Gesetz erwachsenen Antagonismus.
Die Bildung eines Kanons aber setzt, ähnlich wie die Bildung der Kirche, für
die er bestimmt war, vor Allem die Aufhebung jenes Gegensatzes voraus, welcher
die eigentliche apostolische Zeit charakterisirt. Auch in dieser Beziehung ist
die Epoche des Jahres 70 eine tief einschneidende. Eben noch war Jerusalem
gefeiert worden als die geliebte Stadt, welche ein Engel vor dem äussersten
Verderben behĂĽten wird (Apc 11, 2. 13. 20, 9). Jetzt lag es in TrĂĽmmern,
der jüdische Staat war aufgelöst, die Juden zerstreut, während gleichzeitig die
Heidengemeindeu aufblühten. Zwar sammeln sich auf dem Boden Palästinas
selbst Heste der Nation um das Lehrhaus zu Jahne, aber wenn die Illusion
noch einige Zeit ĂĽber vorhalten mochte, als befinde man sich seit dem Falle
des Tempels in einem Provisorium, so musste man sich um so völliger in
die Thatsache fĂĽgen seit den Tagen von AeHa Capitolina und dem Schreckens-
ende des Barkochbakrieges.
4. Das nachapostolische Zeitalter.
Die Periode, welche von dem 1. und dem 2. jĂĽdischen Kriege
eingerahmt wird, lässt sich als nachapostolisches Zeitalter bezeichnen
und geht der Epoche der eigentlichen Kirchenbildung direct voran.
Das vom Heidenthum sich lösende Christenthum wird durch die
Ereignisse bestätigt, das Evangelium der Heiden durch das Gottes-
gericht des Erfolges anerkannt. Von der unwiderstehlichen Gewalt
dieser Logik der Thatsachen ist die Frontveränderung bedingt,
welche im Judenchristentlnim vor sich geht, so lange und so weit
es ĂĽberhaupt noch eine Macht bleibt innerhalb der werdenden Kirche.
Schon bisher hatte das Judenthum seine zahlreichen Proselyten in
der römisch-griechischen Welt gewissermaassen auf Kosten des Cere-
monialgesetzes gewonnen. Man stellte letzteres bei der propagan-
distischen Thätigkeit zurück und legte den Schwerpunkt in die Lehre
102 Geschichte des Kanons.
von Einem Gott und seiner bildlosen Verehrung, in die reinere Sitt-
lichkeit und den entsprechenden Glauben an ein zukĂĽnftiges Gericht.
Die sibylUnischen Orakel vertreten theilweise ein in solcher Rich-
tung erweitertes, gleichsam ein säkularisirtes Judenthum, welches an
die Stelle der Beschneidung ein Eeinigungsbad treten liess (Y, 164).
Eine analoge Form des Judenchristenthums bekennt sich jetzt, unter
gleicher Preisgebung der Beschneidung, die ausser Rm, Cor, Gal,
Phl und Act nur noch Col 2, 11 = Eph 2, 11 Erwähnung findet,
zu einem Universalismus, der z. B. im Mt schon ganz die kath. Rich-
tung, aber immer noch jĂĽdische Grundfarbe aufweist. Man erkannte
in der Heidenkirche die götthche Antwort auf das Urtheil, womit
Israel seinen Messias verworfen, aber auch seine Hoffnung weg-
geworfen hatte. Damit brauchte man noch keineswegs grundsatz-
mässig auf die pauHnische Seite herüberzutreten, da eine gesetzes-
freie Heidenkirche zum Theil auch als Fortsetzung jenes gesetzes-
freien Proselytismus erschien. Vielmehr blieben als Nachwehen alter
Kämpfe noch vielfach Verstimmung und Vorurtheil gegen Person
und Lehren des Heidenapostels bestehen. Seine Lehre wird in den-
jenigen NTlichen Schriften, welche das nachapostolische Zeitalter
auf wesentlich judenchristl. Boden gezeitigt hat, theils stillschweigend
verleugnet, theils ausdrĂĽckHch abgelehnt. Gleichwohl konnten Schrift-
stĂĽcke, in welchen Ersteres der Fall ist, die NTliche Kanonbildung
eröffaen (Mt) und solche von letzterer Qualität wenigstens noch eben
vor Thorschluss in den Kanon eindringen (Jac); zum Sondereigen-
thum der Secte wurde dagegen, was direct gegen den GrĂĽnder der
Heidenkirche gerichtet gewesen war. Derartige, sein Andenken
schmähende, Schriften hatte nämKch jenes essäische Judenthum her-
vorgetrieben, welches der pharisäisch-judenchristhchen Opposition als
eine zweite Form des Gegensatzes zu Pls nachgefolgt war und zuerst
in den Col 2, 4. 8. 16 f bekämpften Irriehrern deuthch in Sicht tritt.
In dieser Form hat auch noch die Heidenkirche des 2. Jahrh.
judaistische Zumuthungen und Attentate erlebt. Vielleicht, dass die
ältesten Spuren einer specifisch judaistischen Literatur sich in den
Eingang von Act mit seiner IdeaHsirung Jerusalems als des vom
Wunderglanz umstrahlten Ausgangs- und Mittelpunktes der Kirche
hereinerstrecken, während die letzte Ausgestaltung der gleichen Stoffe
sicherlich in den erst nach der Mitte des 2. Jahrh. entstandenen
Clementinen voriiegt.
Mit der soeben erwähnten Apostelgeschichte, sofern sie vom
Verfasser des 3. Evglms herrĂĽhrt, haben wir diejenige Literatur-
gattung berĂĽhrt, welche dem Christenthum ganz eigenthĂĽmlich und
I. Kap.: Die neutestamentliche Literatur. 103
trotz des secundären Charakters der vorhandenen Exemplare vom
Eindruck des Originalen sogar noch mehr begleitet ist als die pau-
Hnischen Briefe. Es sind das die Evglien, deren ältere (Mt, Mr)
in die Zeiten der flavischen Kaiser fallen, während das Doppelwerk
Lc Act die Grenzen des 1. Jahrh. zu ĂĽberschreiten scheint. Aus
frĂĽheren Tagen erhaltene und von der Vorstellungskraft der Epigonen
zu immer neuem, reicherem Leben erweckte Erinnerungen zunächst
an Reden, dann aber auch an davon unabtrennbare Lebensgeschicke
und Handlungen Jesu (vgl. S 100) liegen in den bruchstĂĽckartig
aneinander gereihten Perikopen vor, in welche unsere synoptischen
Evglien zerfallen. Dass sich die Masse dieser kleinen Bilder wenig-
stens bis zu dem in unseren Schriftwerken vorliegenden Grade orga-
nisiren Hess, wird freihch nur begreiflich, wenn man den unentrinn-
baren Zwang in Anschlag bringt, womit von jetzt an mĂĽndUche
Tradition sich in schriftliche umzusetzen beginnt. War die Ver-
kĂĽndigung von dem Messias Jesus zuerst ausschliessKch Sache der
Urapostel und ihrer Schule gewesen, so ging sie schon in den BlĂĽthe-
zeiten der paulinischen Mission in die Hände neuer Männer über,
welche nicht mehr in der Lage waren, aus eigener Erfahrung und
aus erster Hand Mittheilungen machen zu können. Um so maass-
gebender wurde fĂĽr die Gestaltung der noch flĂĽssigen und bildsamen
Theile der Ueberlieferung jenes vom Glanz der Gottheit umflossene
Christusbild, in welchem schon die paulinische Theologie mit den
Visionen des Apokalyptikers freundlich sich berĂĽhrt hatte und in
dessen andächtiger Verehrung jetzt auch alle diejenigen Mächte sich
begegneten, welche das nachapostolische Zeitalter zur gemeinsamen
Arbeit der Kirchenbildung berief. In demselben Maasse unterlag
freilich das historische Interesse an der Vergangenheit, wie es ja
von Anfang an dem Glaubensinteresse nur nachgewachsen war, den
mannigfachsten Beeinflussungen von Seiten der Gesichtspunkte,
welche die jedesmalige Gegenwart beherrschten. Allenthalben in
den urchristhchen Gemeinden gab es prophetische und inspirirte
Persönlichkeiten, die nicht blos in die Zukunft schauten, sondern
auch die Vergangenheit mit neuen Bildern zu beleben und zu be-
reichern verstanden. In dieser enthusiastischen Verkleidung bemäch-
tigte sich die dogmatisch- rehgiöse Reflexion mehr und mehr der
ĂĽberlieferten Stoff'e und bildete dieselben zugleich in theilweise diff'e-
rirenden Richtungen weiter.
So kann im Eingänge des 3. Evglms bereits von „Vielen" die
Rede sein, welche dem Aehnhches unternommen haben, was jetzt
der Verfasser zu Gunsten des Theophilus ins Werk setzen wird,
104 Geschichte des Kanons.
damit dieser darin eine Basis fĂĽr seine GlaubensĂĽberzeugungen finde
(Lc 1, 1 — 4). Denn alle Evglien sind ebenso Zeugnisse von dem,
was der historische Jesus dem Glauben der christl. Gemeinschaft
geworden war, wie BegrĂĽndungen dieses Glaub ensbewusstseins aus
dem, was man von und ĂĽber denselben Jesus ĂĽberliefert bekommen
hatte. Der literarische Niederschlag solcher BemĂĽhungen heisst
aber noch einfach „Erzählung", und die Art, wie von einem solchen
Unternehmen gesprochen wird (Lc 1, 1 sjcs/sipyjaav avatd^aa^at
Sly^YTtjöiv), beweist am besten, wie weit entfernt man sich dabei von
jedwedem Anspruch einer irgendwie ĂĽbermenschhchen Schriftstellerei
befand.
Die Autorität, welche den Evglien zwar nicht aus der Absicht ihrer Ur-
heber, aber aus der Logik der Thatsachen erwuchs, beruht darauf, dass sie je
länger, desto ausschliesslicher jene „Worte des Herrn" vertreten, welche den
heiligsten Schatz, den noch ungeschriebenen Kanon der Glemeinde von Anfang
an bildeten. In der Vielheit und Differenz der Evglien finden nur die aus-
einander getretenen Gesichtspunkte Ausdruck, unter welchen das Bild des Messias
bereits damals gefasst war, als die Niederschrift statt hatte. Das Vorwalten
solcher religiös-dogmatischer Gesichtspunkte gibt sich deutlich schon im ersten
Evglm zu erkennen, welches den Uebergang vom Judaismus zum UniversaHsmus
darstellt und vollzieht, und zwar im Namen und von Seiten der Judenchristen.
Mr hat eine mehr „neutrale" Gestalt, die von den Einen aus seiner grösseren
ĂĽrsprĂĽnglichkeit, von den Anderen aus der Absicht der Ausgleichung oder gar
der Umformung judaistischer Grundlagen in's Paulinische erklärt wird. Deut-
licher weisen die beiden Bücher des Lc paulinische Anklänge auf; formell
hellenistischer angethan als ihre Vorgänger sind sie universalistisch angelegt in
der Auswahl des Stoffes. So haben alle Synoptiker ein bestimmtes Interesse
an den Gegensätzen, die auch noch in der nachapostolischen Epoche die Cliristen-
heit bewegten, wenngleich die Kampf- und Losungsworte der apostolischen Zeit
in nur sehr gemilderter und abgeschwächter Form darin nachklingen. Während
aber die beiden ersten Evglien in der Hauptsache noch die älteren Stoffe der
Ueberlieferung reproduciren, bildet das 3. schon in mancher Beziehung den
Uebergang zum johanneischen Evglium. Letzteres setzt die Synoptiker jeden-
falls voraus und hat, auch wenn man den darin gegebenen Grundriss des Lebens
Jesu als geschichtlich gelten lässt, ja als das apostolische Zeugniss den synopt.
Berichten gegenübersetzt, ein noch ausgesprochener ideales Gepräge als diese.
Wie man aber späterhin geschichtlich aussehenden Stoff dogmatischen Zwecken
zu lieb erfindet, zeigt die Entwickelung der nun aufwuchernden apokryphischen
Evglienliteratur. Die Judenchristen schnitten sich Evglien auf synopt. Grund-
lage zurecht; die Gnostiker machten neue nach Maassgabe ihrer Speculatiouen.
An diese judaistisch oder gnostisch gefärbten Evglien schliessen sich apokryphische
Apostelgeschichten, Briefe und Apokalypsen in beträchtlicher Menge an. Soweit
diese Seitengänger nicht entstanden sind, um schon kanonisirten Schriften
Concurrenz zu bieten, beruht ihr späterer Ausschluss aus dem Kanon darauf,
dass sie denjenigen Spielraum freier Bewegung und mannigfaltiger Ausgestaltung,
welchen das kirchliche Princip zunächst noch gewähren musste, nach der einen
oder anderen Seite erkennbarst ĂĽberschritten haben.
I. Kap. : Die neutestamentliche Literatur. 105
Die Heidenkirche konnte einem auf die kath. Wege einlenken-
den Judenchristenthum um so weniger zum Anstoss gereichen, als
sie selbst sich längst auf einen Standpunkt der Beurtheilung reli-
giöser Verhältnisse gedrängt sah, welcher zwar nicht jüdisch von
Haus aus, aber doch dem Wesen der Gesetzesreligion innerhch ver-
wandt war. Nie zwar haben getaufte Heiden in grösserer Anzahl
Lust verspĂĽrt, das Joch des jĂĽdischen Gesetzes auf sich zu nehmen.
In dieser Beziehung war es lediglich an der jüdischen Minorität,
sich anzubequemen. Aber nicht ohne Wirkung konnte es bleiben,
dass fast ein Jahrh. lang, die, ihrer nationalen EigenthĂĽmHch-
keit allerdings entkleidete, alttest. Schrift auch fĂĽr die christl. Ge-
meinden einziger heiHger Codex geblieben ist. Insonderheit hat
bei aUer Geistesfreiheit der christl. Alexandrinismus der Begriffs-
welt des AT, indem er sie zum ausschliesslichen Vehikel christl.
Belehrung auf dem Wege der Typologie erhob, zugleich maassgeben-
den Einfluss auf die Gestaltung der christlichen Weltanschauung und
kirchl. Praxis verschafft (vgl. die Fortsetzung der AusfĂĽhrungen
ĂĽber das neutest. Hohepriesterthum in Hbr bei Clem. Rom. 36,
40. 41). Auf der anderen Seite bedurfte die gesammte Bildungs-
und GemĂĽthslage des christhch werdenden Heidenthums einer posi-
tiven Offenbarung des göttUchen Willens, einer absolut normirenden
Autorität. Dies eben, ein die Massen bewältigendes Gesetz, suchte
man im Christenthum ; dies und nichts anderes begehrte man. In
dieser Richtung vollziehen die nachpaulinischen Briefe, besonders die
Pastoralbriefe , vollziehen vorher schon die Lucasschriften die be-
deutsamsten Wendungen und Wandlungen. Als lebendiges Ganzes
hat der PauHnismus ĂĽberhaupt nur einmal und zwar im Geiste seines
Urhebers existirt. Schon die von diesem selbst bekehrten Christen
vermochten sich nur schwer oder gar nicht auf der Höhe zu halten,
darauf sie wie mit einem Schlage gefördert schienen ^). Ein kirchl.
Gemeinbewusstsein auszufĂĽllen, zumal in den Zeiten der kathohschen
Kirchenbildung, dazu war der pauHnische Lehrbegriff zu sehr von
*) Vgl. HoLSTEN, Syn. Evglien S 169: „Hatte doch PIs selber diese Heiden-
christen auf den Grund der Voraussetzung des Judaismus gestellt, dass das Wort
der Schrift das Offenbarungswort Gottes sei. Wenn Pls selber den Folgerungen
dieser Voraussetzung durch die Deutung des Schriftbuclistabens aus dem Geiste
der Schrift sich entzog, nicht ohne der Anklage eines truglistigen Verfälschers des
Wortes Gottes zu verfallen (2 Cor 4, 2?), so waren die Heidenchristen einer so
geistig freien Behandlung des Schriftbuchstabens nicht gewachsen und die Ge-
dankengänge des Pls, mit denen er diese Folgerungen des Buchstabens wider-
legte, waren aus Tiefen geschöpft, welche die Heidenchristen nicht ergründeten
(Gal 3, 15—4, 7. 2 Cor 3, 1—4, ö)."
XQ6 Geschiclite des Kanons.
individueller Lebenserfahrung eingegeben, aus Verarbeitung hetero-
gener Elemente zu kunstvoll gebildet, zu jĂĽdisch in seinen Voraus-
setzungen und seinen Ausgangspunkten, zu antijĂĽdisch in seinen
Folgerungen und Zielpunkten. Dass das Gesetz trotz Christi und
seiner Jünger eigener Gesetzeserfüllung den Gläubigen nichts mehr
angehen, dass dieser vielmehr von jeder positiven Formel entbun-
den, doch aber zugleich auch wieder allein befähigt sein sollte, des
Gesetzes Willen im höheren und vollsten Sinne zu vollziehen —
das bheb dem Durchschnittsbewusstsein der aus allen Völkern und
Zungen, Schichten und Ständen gesammelten Gemeinde unerschwing-
liche Weisheit; es lag dem praktischen BedĂĽrfnisse des Massen-
christenthums noch ferner als seinem theoretischen Verständnisse.
Vom Paulinismus erhielt sich nur die Forderung des UniversaHsmus
mit ihrer nothwendigen Vorbedingung, der Freiheit der Heiden-
kirche von Beschneidung und Eitualgesetz , auf der einen, der all-
gemeine Gedanke eines in Jesu als des Gottessohnes Leben und
Sterben der Menschheit unverdient zu Theil gewordenen Gnaden-
geschenkes Gottes auf der anderen Seite. Im Uebrigen empfahlen
sich Vorstellungen, wie die Jac 2, 14 — 26 entwickelten, wonach
zu dem Glauben auch die Werke treten mĂĽssen, um den Menschen
zu rechtfertigen, durch grössere Popularität, Handgreiflichkeit, Fass-
lichkeit, ĂĽberhaupt durch direkteren Anschluss an die bisherigen
Gedanken, Anschauungen und Erwartungen der Menschen von dem,
was die Eehgion sein und leisten soll. Zur Signatur des nachapo-
stolischen Zeitalters gehört daher Coordination von Glauben und
Werken, Normirung des sittlichen Bewusstseins nach der Bergpredigt
und den aus Propheten und alttestamentlicher Spruchweisheit er-
gänzten Geboten der apostoHschen Briefe, überhaupt eine unwider-
stehlich sich geltend machende Gesetzlichkeit in der Auffassung des
religiösen Verhältnisses, welche gleichwohl nur sehr theilweise auf
jĂĽdische Faktoren zurĂĽckweist. Viel mehr noch ist sie das directe
Ergebniss des religionsgeschichtlichen Prozesses selbst, wie er sich
auf griechisch-römischem Boden schon seit Jahrhunderten gestaltet
hatte. Sofern aber das Christenthum, unter den Auspicien von LXX
in die Heidenwelt eingefĂĽhrt, im hellenistischen Judenthum der
Diaspora seine Vorstufe gefunden hatte und dem entsprechend im
AT seine Vorgeschichte suchte, die ganze alttestamentliche Ent-
wickelung fĂĽr sich als das neue Israel in Anspruch nahm, Hess sicli
der gewonnene Standpunkt am verständlichsten so ausdrücken, dass
Christus das mosaische Gesetz theils abgeschafft als Ceremonial-
gesetz, theils aber auch erweitert und vertieft habe als Sittengesetz,
I. Kap.; Die neutestamentKche Literatur. 107
Damit war das Christenthum als neue Auflage des Mosaismus, als
„neues Gesetz" (nova lex, zaivYj IvtoXtj) gekennzeichnet ; so aber lautet
bekanntlich das Schlagwort der alten kath. Kirche, wie sie im Ver-
laufe des 2. Jahrh. allmälig ausgewachsen ist.
5. Nachapostolisches Material zur Kanonbildung.
Wie auf diese Weise der Sache des Heidenapostels nur eine
halbe, so widerfuhr seiner Person eine ganze Restitution. Als die
grosse Aussaat zu reifen begann, als der Triumph der Heidenmission
entschieden war und die Gestalt der Weltkirche, in welcher sich
geborene Heiden und Juden zusammenfanden, einer ahnenden
Glaubensgewissheit bereits deutlichere Umrisse aufwies, wurde es
am Grabe des Heidenapostels lebendig. Das schriftstellerische Nach-
leben des auch selbst vorzugsweise schriftstellerisch thätig gewesenen
Mannes begann. Erstmahg war es der Autor ad Ephesios, der den
Meister zum Zeugen seines Sieges machte und ihm Worte des Frie-
dens heb, hineingesprochen in eine Heidenkirche, deren Organisation
einen zweiten Schriftsteller, welcher einige Decennien später im
Namen desselben Pls das Wort nimmt, in 3 SchriftsstĂĽcken (1 und
2 Tim, Tit) beschäftigt.
Mit der Erinnerung an den alten Streit wich aber auch das Bewusstsein
um die nur halbfreundliche Stellung, welche man in urapostolischen Kreisen dem
späteren Lebenswerk des Apostels gegenüber eingenommen hatte. Je höher
vielmehr die populäre Vorstellung von der Würdestellung der Apostel stieg, je
unbedingter die Kirche ihre Lehre und ihre Einrichtungen auf die apostolische
Ueberlieferung grĂĽndete, um so weniger konnte sie bezweifeln, dass die Apostel
in allen Stücken durchaus einstimmig gewesen seien. So gewöhnte man sich
allmählig, sie alle zu einer unterschiedslosen Einheit zusammenzufassen, und es
bildete sich die Vorstellung von der Einerleiheit und solidarischen Einheit der
gesammten apostolischen Lehrbildung. In diesem Sinne ist Eph 3, 5 von den
„heiligen Aposteln" die Rede und feiert die Apostelgeschichte den Petrus als
den Begründer der Heidenmission, während andererseits Pls seine Heilsbotschaft
zunächst den Juden anbietet, so dass beide im Grunde Universalapostel werden.
Neben diesem bereits mit der Greschichtc des Kanons im Zusammenhang stehen-
den Sprachgebrauch, demzufolge nur die Zwölfe und Pls Apostel heissen (so
zuerst Clemens, Ignatius und Polycarp), kennt nun aber Pls selbst (1 Cor 12,
28. 15, 7. 2 Cor 8, 23. Rm 16, 7. 1 The 2, 6, vgl. Apc 2, 2. Act 14, 4. 14)
und kennen zahlreiche Schriftsteller der nachapostolischen Zeit (l^esonders
Hermas und AtSa/vi) einen weiteren, demzufolge von Gott selbst berufene, der
ganzen Kirche angehĂ–rigc Missionare so heissen. Weil ihr Beruf im Unter-
schiede von den in einer ähnlichen Stellung sich befindenden Propheten und
Lehrern zumeist auf GrĂĽndung neuer Gemeinden, auf Ausbreitung des Christen-
thums, auf Evangelisation der Hcidcnwelt geht, heissen sie auch zha-^^tXio'toLi
(Eph 4, 11, vgl. 2 Tim 4, 5. Act 21, 8 und Euseb. KG IH, 37, 2. V, 10, 2).
Ohne Zweifel verdankte die Christenheit diesen von Gemeinde zu Gemeinde
ziehenden Wanderlehrern dasjenige Maass von Einheitlichkeit einer kirchlichen
1Q8 Geschichte des Kanons.
Entwicklung, in welchem sich bereits die Generationen der nachapostolischen
Zeit zusammenfanden. Von Belang ist endlich noch die Thatsache, dass ent-
sprechend den schon in Apc erhobenen AnsprĂĽchen, Eph 5, 14 ein christlicher
Prophetenspruch mit Xi-^si eingefĂĽhrt wird.
Der in ihrem ökumenischen Charakter an die urapostoHsche
Function sich anschliessenden Thätigkeit späterer „Apostel, Pro-
pheten und Lehrer" entspricht auf literarischem Gebiete genau die
gleichfalls schon secundäre, andererseits aber durch eine mehr oder
minder grosse Allgemeinheit der Adresse gegen die Plsbriefe ab-
gegrenzte Literaturgattung der sog. kathol. Briefe ^). Dieselben
stellen eine durchaus eigenartige Classe fĂĽr sich dar. Briefe der
'Form nach, reden sie die ganze Christenheit oder doch weite Kreise
derselben im Namen alter Autoritäten an. Und zwar nehmen zuerst
die Gal 2, 9 aufgeführten „Säulenapostel" das Wort, ihnen schliesst
sich noch an, nachdem die apostolischen Namen verbraucht sind,
Judas, als „Bruder des Jakobus". Aber die bestimmt ausge-
sprochenen Positionen, welche die geschichtUchen Träger der be-
treffenden Namen eingenommen haben, sind aus den Briefen kaum
wieder zu erkennen. Vielmehr ist es eine spätere Zeit, in die sie
bestimmend und abwehrend eingreifen. Nicht mehr sind Parteien
in gegenseitiger Auseinandersetzung begriffen, sondern die Fusion
ist bereits vollzogen, so dass, wer die weitläufig verwickelten litera-
rischen Verwandtschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse dieser Briefe
sammt den zahlreichen sonstigen Spuren jĂĽngerer Abkunft nicht be-
merkt, sich gleichsam auf den neutralen Ausgangspunkt der ganzen
Bewegung zurĂĽckversetzt glaubt. So vertritt namentlich 1 Pe mit
einer bis auf's Wort sich erstreckenden Genauigkeit des Anschlusses
gewisse leitende Gedanken des Paulinismus, während er andererseits
in seiner praktisch-moraHschen Auffassung des Christenthums sich
mit Jac, und zwar abermals bis aufs Wort, berĂĽhrt. Doch auch
der Verfasser von Jac 1, 25 („das vollkommene Gesetz der Frei-
heit") reicht ĂĽber den Widerstreit des Glaubens und der Werke
hinaus dem Pls die Hand und bekennt seine Abhängigkeit von ihm
schon im Gebrauche der pauHnischen Formel. Wenn ferner bereits
1 Pe 5, 12 den paulinischen Gemeinden bezeugt wird, dass sie in
der rechten Gnade Gottes stehen, so bleibt nur noch ĂĽbrig, dass
der Felsenapostel, auf den die Kirche nach Mt 16, 18 gegrĂĽndet
war, seinem „Heben Bruder" und Mitapostel Pls selbst ein öffent-
liches Zeugniss über dessen Rechtgläubigkeit ausstellt und sämmt-
*) Vgl. A. Harnack (und von Gebhardt), Texte und Untersuchungen zur
Geschichte dar altchristlichen Literatur II, 2, S 105 f.
I. Kap.: Die neutestamentliche Literatur. 109
liehe Irrungen einer früheren Zeit aus böswilligem Missverständniss
der freilich mitunter etwas schwierigen und dunkeln Ausdrucks-
weise des Heidenapostels herleitet (2 Pe 3, 15. 16). So formulirt
sich in einem Spätling der NTlichen Literatur der Trost, kraft
dessen sich die auf beide apostolische Titel, Petrus und Paulus,
Anspruch erhebende Kirche über das Gedächtniss an die Krisen
und Kämpfe ihrer Jugend, soweit solches ihr noch dämmerte, hin-
weg gesetzt hat.
Aber mit diesem selben Briefe, welcher nicht blos urapostolisch, sondern
eben desshalb auch bereits kanonisch sein will, stehen wir auch schon mitten
in der Geschichte des Kanons, sofern die Plsbriefe als gesammelt, ja als ein
Theil der „Schrift" (3, 16 xal xäc, Xonzäc, YP«<f «?) vorausgesetzt und prophetische
und apostolische Autoritäten coordinirt werden (3, 2 ätco tmv ä-^iiuv irpocpyjttüv
xal z9i<; xwv 6ctcoot6X(ov ĂĽfxcĂĽv svtoX^(;). Mit der Sammlung der Plsbriefe, zu
welcher die einzelnen Gemeinden, die im Besitze solcher waren, beitragen
mussten, war zugleich schon ein sehr wirksames Motiv zur Vervielfältigung durch
Abschriften gegeben. In den späteren Theilen des NT sehen wir daher die
Plsbriefe fast durchweg vorausgesetzt, zunächst in Hbr nur die alten und echten,
in den kath. und in den Pastoralbriefen auch die aus der Gefangenschaft
stammenden, im 4. Evglm so ziemlich alle. In der Stelle 1 Tim 5, 18 wird
Lc 10, 7 wenn nicht in aller Form als YP^^^*h citirt, so doch unmittelbar an ein
alttest. Citat angereiht, so dass immer die Versuchung bestehen wird, auch die
6cvaYVĂĽ)at(; 1 Tim 4, 13 nicht auf das Vorlesen blos alttest. Schriften zu be-
schränken^). Dann aber wäre man, zunächst allein an der Hand des NT selbst
fortschreitend, bereits an einem Punkte der Entwickelung angelangt, den wir,
wenn wir uns nun an der ausserkanonischen Literatur ĂĽber die Geschichte des
Kanons zu orientiren suchen, frĂĽhestens erst um die Mitte des 2. Jahrh. erreicht
sehen werden. Wer dagegen 1 Tim und 2 Pe fĂĽr echte Producte des apostolischen
Zeitalters nimmt, kann allerdings am SchlĂĽsse desselben die Kanonisation des
NT als vollzogen setzen*).
Anhang. Für die Geschichte des christlichen Kanons kämen um ihrer
zahlreichen BerĂĽhrungen mit neutest. Schriften willen auch mehrere, in der
alten Kirche fleissig gelesene und auch mannigfach nachgeahmte, alttest. Pseud-
epigraphen in Betracht, wofern nur 1) das Abhängigkeitsverhältniss, an dessen
Realität oft kein Zweifel ist, nicht entgegengesetzter Deutung fähig wäre, 2) die
eigene Abfassungszeit jener Apokalypsen vollkommen sicher gestellt erschiene.
Mit zunehmender Uebereinstimmung erkennt man ĂĽbrigens in den 3 zuletzt zu
nennenden Werken bereits Spuren der Reaction gegen das Christenthum, wahrend
diesem das erste auch in seinen späteren Bestandtheilen noch voranzugehen
scheint.
1) Das Buch Henoch; aus einer Ansammlung verschiedener Schichten,
seinem Grundstock (1 — 3ß. 72 — 105) nach etwa 100 v. Chr. entstanden, ur-
sprünglich aramäisch, aber nur äthiopisch erhalten, herausgeg. von Dillmann
») Vgl. VON Hofmann, Die heil. Schrift NT V, S 23. H. Holtzmann, Die
Pastoralbriefe S 118, 250, 266, 353.
») So z. B. Warfield, Bibliotheca sacra XXII, 1885, S 545 f, 548.
wo Geschichte des Kanons.
1851, in deutscher Uebersetzung 1853; es bietet auffällige Berührungen mit
S3mopt. Evglien (die „Bilderreden" 37 — 71 bringen den Menschensohn-Messias),
Apc und paulinischem Lehrbegriff, liegt Hbr 11, 4. 5. 1 Pe 3, 19. 20. 2 Pe 2,
4. .Tud 6. 13 zu Grunde und wird Jud 14. 15 und Barn 4, 3. 16, 5 förmlich citirt.
2) Die Himmelfahrt des Moses, avaXYj']^'.; MtouoEtoc:, nachweisbar seitOri-
genes (De princ. III, 2, 1), enthält in ihrem ersten, noch allein in grösserem
Zusammenhang vorliegenden, Theile Weissagungen des Moses bis auf die
zwischen Herodes dem Grossen und der Zerstörung Jerusalems liegende Gegen-
wart des Verfassers; in lateinischer Uebersetzung aus dem Griechischen 1861
aufgefunden, zuletzt herausgegeben von Hilgenfeld (NT extra can. rec. I), bietet
es einige BerĂĽhrungen mit Pls (Moses als arbiter, julsoitt]? Gal 3, 19), Hbr, Apc,
Mt 24 = Mr 13 und liegt Jud 9 zu Grunde.
3) Das 4. Buch Esra, bei Clem. AI. Str. III, 16, 100 "Eoopa; b irpocp-fiiY]?,
nur noch fragmentarisch im griechischen Original, dagegen mit christl. Zusätzen
und Interpolationen in Vulg. aufgenommen, ausserdem auch, und zwar reiner,
syrisch, arabisch, äthiopisch und armenisch vorhanden , zuletzt herausgegeben von
VoLKMAR (Handbuch der Einl. in die Apokryphen II, 1863), Hilgenfeld (Messias
Judaeorum 1869), 0. F. Fritzsche (Libri apocryphi Vet. Test. 1871); der jĂĽdische
Kern, aus den Zeiten Domitian's bietet auffällige Berührungen mit Mt, Apc,
1 The 4, 15 — 17. Vorausgesetzt ist das Werk ohne Zweifel schon 1 Pe 5, 8
(= 4 Esr 11, 37), 2 Pe 1, 19 (= 4 Esr 12, 42) und im Barnabasbrief.
4) Die Apokalypse des Baruch, ursprĂĽnglich griechisch, hat sich nur
syrisch erhalten; herausgegeben von Ceriani (Monumenta sacra et profana
bibliothecae Ambrosianae V, 2, 1871; latein. Uebers. ebendas. I, 2, 1866 und
bei Fritzsche), berĂĽhrt es sich mit 4 Esr und Apc, nur in sehr zweifelhafter
Weise mit Mt, Lc und Um.
Zweites Kapitel: Die VorgescMclite des Kanons.
1. Die älteren apostolischen Väter ^).
Noch gleichzeitig mit den späteren Theilen des NT sind die der
Reihe nach wohl sämmtlich in Rom entstandenen Schriften des
Clemens, Barnahas und Hermas. Der Erstgenannte, welcher frĂĽhe-
stens 93, spätestens etwa 125 geschrieben hat, stellt sich in dem
im Namen der römischen Kirche nach Korinth gerichteten Send-
schreiben bereits als pedisequus Pauh, so gut er ihn versteht, jeden-
falls als fleissigen Leser seiner Briefe, insonderheit Bm, ausserdem
auch Hbr, dar. Gleichwohl wird nicht blos letzteres SchriftstĂĽck,
wie schon Eusebius (KG III, 38, 1) sah, noch mit auffälliger Frei-
heit des Ausdrucks ausgeschrieben, sondern auch ĂĽberhaupt nur
ein einziges Mal ausdrĂĽcklich Bezug genommen auf einen Plsbrief
*) Opera patrum apostolicorum werden durchweg citirt nach 0. VON
Gerhardt, A. Harnack und Th. Zahn I, 1 und 2, 2. Asg 1876—78; IT, 1876;
m, 1877.
n. Kap. : Die Vorgeschichte des Kanons. 1. Die älteren apostol. Väter. Hl
(1 Cor): avaXaßcTs ttjv sTitcjToXYjv toö [laxapiot) IlaoXoo to5 aTuoaTÖXop
(47, 1). Sind apostolische Briefe ohne Zweifel zunächst nur so
lange verlesen worden, bis ihr Zweck erreicht, d. h. die betreffende
Gemeinde mit ihrem Inhalte bekannt war, so begegnet hier die erste
Spur fortgesetzter Benutzung, insofern ein wichtiges Datum, als mit
der Anagnose christl. Schriften neben den ATUchen das treibende
Motiv fĂĽr Bildung eines NTlichen Kanons gegeben war ^). Im
Uebrigen wird man stets darüber streiten können, ob und wie viele
sonstige Plsbriefe Clem. voraussetzt, und insonderheit, wie man ge-
wisse BerĂĽhrungen mit 1 Pe und Jac zu beurtheilen habe. Seine
Ghristologie hebt den Verfasser bereits über Pls weg zu der Höhe
des Alexandrinismus. Aber eben dass er die Gedankengänge von
Hbr so emsig verfolgt, beweist, dass ihm die johanneische Sprosse
der Leiter noch unerreichbar, weil unbekannt, gebheben ist ^).
Auch der zwischen 96 und 125 abgefasste Barnabasbrief, der
ganz zur kath. Briefgattung gehört, steht unter dem entscheidenden
EinflĂĽsse der pauUnischen Literatur und benĂĽtzt namentlich Em und
2 Cor, während er sich bezüglich der evang. Geschichte durchaus
an den synopt. Typus hält und zwar speciell an denjenigen von Mt,
wiewohl er gelegentlich (15, 9) auch ganz unbefangen die Tradition
Mt 28, 10. 16—20. Act 1, 3 hinter der Lc 24, 51. Mr 16, 14 f.
zu Tage tretenden zurĂĽckstellt ^).
Hermas — geschrieben um 140 — stellt eine entgegengesetzte
Richtung auch in der Geschichte des Kanons dar. Ohne ein ein-
ziges bibhsches Citat zu bieten, kennt er doch, vom AT abgesehen
(Sim. y, 3, 7 ra YSYpa[^[^ÂŁva ?) ganz besonders Jac, setzt von den
Plsbriefen mit Sicherheit wenigstens 1 Cor und Eph voraus, ausser-
dem wahrscheinlich Hbr und 1 Pe ; die synopt. Literatur hat er vor-
nehmlich in der Gestalt von Mr vor sich. Zweifelhaft sind seine
BerĂĽhrungen mit Job und Act; von The, Gal, Phl, Col begegnet
nicht die geringste Spur ^).
Alle drei SchriftstĂĽcke kennen noch eine allgemeine Geistes-
ausgiessung (Clem. 2, 2. 46, 6. Bani. 19, 7. Herm. Mand. 3, 2
u. 4), ein Wohnen des Herrn (Mand. 3, 1) als des prophetischen
Princips (Barn. 16, 9) in den Gläubigen ^)y so dass hier noch wesent-
') Weizsäcker JdTh 1876, S 493. Th. Harnack, Praktische Theologie
I, S 419.
2) HoLTZMANN ZwTli 1877, S 387 f, 393 f.
«) IIOLTZMANN ZwTli 1871, S 336 f.
*) Th. Zahn, Der Hirt des Herinas S. 396 f.
^) Sollte Sta toö 6L'(ioo twvs6(AatO(; Clem. 63, 2 zum Vorhergehenden 6<f/'
112 Geschichte des Kanons.
liehe Voraussetzungen des Begriffes der Kanonicität fehlen, welchem
bei Clem. und Barn, ohnedies gesteigerte Vorstellungen von der
einzigartigen Heiligkeit des ATlichen Schriftbuchstabens (LXX)
störend im Wege standen, während der Prophet Hermas sich christ-
lichen Autoren, soweit er solche ĂĽberhaupt kannte, wohl als eben-
bĂĽrtig dachte.
Charakteristisch ist das Verhalten aller drei Schriftsteller zu den Christus-
sprĂĽchen (gesammelt bei Westcott S 54f, 60). Schon wie Clem. solche citirt,
stehen sie alle in den Synoptikern oder synoptikerartigen Apokryphen, aber
ohne dass darum die Evglien selbst irgendwie genannt, angefĂĽhrt, berĂĽcksichtigt
wĂĽrden. Nichts fĂĽhrt ĂĽber die Annahme einer freien, auf Reniiniscenzen be-
ruhenden Benutzung von Mt, vielleicht auch von Lc hinaus. Nur die Form, in
welcher 15, 2 die Stelle Jes 29, 13 citirt wird, verrath wohl LeetĂĽre von Mr
7, 6 '). Ebenso sind die ChristussprĂĽche, welche Barn, in der Form von Mt
anfĂĽhrt, immer in die eigene Rede des Verfassers aufgenommen. Eine Ausnahme
machen nur zwei Stellen. Aber die erste (4, 9 sicut dicit filius Dei), worin
FrĂĽhere ein \6^(io^ a^pacpov fanden, hat sich nach Entdeckung des griechischen
Textes in einen Schreibfehler verflüchtigt (sicut decet filios dei — «>? itplirsi
lilolc, d-Boh). Die zweite (4, 14 TCpoasy(u|xev jjlyjtcots tlx; •'(i'^^oLnxai uoXXol v-Xy^xai,
ökv^oi hh exXexTol eups^&fjisv) bildet fortwährend einen Controverspunkt, sofern
nach den Einen ein unbekanntes Apokryph oder 4 Esr 8, 3 multi quidem creati
sunt, pauci autem salvabuntur (indess hier wie 9, 15 fehlt gerade v.Xyjtoi), nach
den Andern Mt 22, 14 citirt wird^). Unter letzterer Voraussetzung wĂĽrde er-
hellen, dass zur Zeit unseres Briefstellers bereits gottesdienstliche Lectioneu
aus Mt stattfanden. Aber auch so wĂĽrde der Fall einzig dastehen, insofern das
Ansehen der Evglien bis auf die Zeiten Justin's zwar immer entschiedener hervor-
tritt, zunächst aber eben noch nicht in ihrer Eigenschaft als fP^^^'f^, sondern
lediglich, weil sie die von Christus gesprochenen Worte referiren. Ueberdies
macht, ja Barn, selbst keinen Grebrauch von der vorausgesetzten Kanonicität des
Mt (S 111), während er dafür 12, 1 neben Ez als aXXo? upocp-riiY]? 4 Esr 5, 5
citirt. Bezeichnender fĂĽr die wirkliche Sachlage als jene mindestens der Ent-
wickelung vorgreifende Formel in Barn, sind die Thatsachen, dass Clem. Jesus-
•JjpLüiv '^z^fiait.ii.ivoK; gehören, so würde der Verfasser für sich selbst in Anspruch
nehmen, was der kirchl. Theorie zufolge den neutest. Schriftstellern vorbehalten
werden muss ; dafür spricht allerdings 59, 1 tolc, 6tc' autoü (seil. Xptaxoö) hC 'tjjjkLv
sipY]}j.ÂŁvot<;. Doch handelt es sich in diesem SchriftstĂĽck speciell um das
souveräne Bewusstsein der römischen Gemeinde.
^) Schölten (Zeugnisse, S 5 ; Paul. Ev S 1 f) leugnet. Schanz (Com. über
Lc S 8) behauptet BerĂĽcksichtigung auch des Lc.
*'*) FĂĽr Esra Orelli, Selecta patrum eccl. capita 1820, S 5. Strauss,
Leben Jesu 1865, S. 55. Schölten, Zeugnisse S 9 f . Volkmar, Das 4. Bucli
Esra 1863, S 221, 290; Monumentum ineditum S 16; Ursprung unserer Evglien
S 110 f, 119. Für eine unbekannte Quelle Eichhorn 1, S 127. Weizsäcker,
Zur Kritik des Barnabasbriefes S 33 f. Supern. Rel. 1879, I, S 244. FĂĽr eines
oder das Andere Schmiedel S 322. FĂĽr Mt die Meisten, Keim, Mangold,
HiLOENFELD S 38, 70. Bamabae ep. 2. Asg S 82. Zweifelhaft bleibt doch aber
selbst Westcott S. 51 f, 60. Vgl auch A. Harnack, Dogmengeschichte I, S 273.
n. Kap. : Die Vorgeschichte des Kanons. 1. Die älteren apostol. Väter. 113
Worte nur mit el^sv an Stellen citirt, in deren Umgebung das AT mit •^k-^pr/.Kxai,
Xi'(ti TÖ TCV£ö[i.a tö äy-O'-') ^"O^-^ ^ äy.oi; \6-(0(; eingeführt wird (16, 2. 46, 8) ; dass
ferner, nachdem Rm 1, 32 dem Gedanken und Ausdruck nach reproducirt war
(Clem. 35, 5. 6), sofort mit Alys'. Y«p ^ YP^^T"^ ^^ ^0, 16—23 angeführt wird
(ein späterer Katholiker hätte hier eben Rm 1, 32 selbst als Dictum probans
für seine Meinung citirt); dass 13, 1 unter der Flagge Xrp^ xö 7cysö|ULa xb a-^iov
Jer 9, 23 f in extenso erscheint, wobei ĂĽbrigens Erinnerung an 1 Cor 1, 31
und 2 Cor 10, 17 mit unterläuft; dass endlich 49, 5 ein ähnliches Verfahren
gegenüber 1 Cor 13, 4. 7. 1 Pe 4, 8 beobachtet wird. Aehnhch verhält es sich
mit Hermas, wenn er fast ermüdende Umschreibungen von Jac 1, 6 — 8 (Mand. 9)
und Jac 4, 7 — 12 (Mand. 12, 2 — 6) gibt, ohne dass es ihm in den Sinn käme,
die betreffenden Stellen selbst zu citiren. Das einzige Citat, welches Herm.
ĂĽberhaupt gibt, gilt einem apokryphischen Werke (Vis. 2, 3 (u? '(i-^poLizxoLi iv xu)
'EXoaS xal MuiO'-j.x), ähnlich wie Clem. mit Xk-(zi 4] yP^^?*^ einen auch aus 2 Clem.
11, 2-4 bekannten Prophetenspruch (23, 3. 4), Barn, mit derselben Formel das
Buch Henoch citirt (16, 5).
Die Ai§a'/7j zopioo 5ta twv SwSsxa aTroaiöXwv, welche sich direct
an die älteren apostolischen Väter anschliesst und zu Barn, und
Herm. in schriftstellerisch vermitteltem Verhältnisse steht, wäre als
Zusammenstellung der apostolisch ĂĽberlieferten Herrnlehre gar nicht
möghch gewesen, wenn es schon einen NTlichen Kanon gegeben
hätte. Die Autoritäten, auf welche sie sich beruft, sind das AT
(förmhch citirt 14, 3, und 16, 7; dort Mal 1, 11. 14, wie Justin.
Dial. 28. 41. 116. 117, hier Sach 14, 5) und 6 %6pw<;, von welchem
SprĂĽche und "Weisungen fast in jedem Capitel mitgetheilt werden,
meist (etwa 20 mal) in der Form des Mt , zuweilen (4 mal) mehr
in der des Lc. Entweder liegt völlig freie, auch eigene Zuthaten
nicht scheuende Citation vor oder aber eine Combination beider
Texte von der Art, wie sie auch die Evglienharmonie des Tatian
bietet. Johanneisch klingt Manches in Cap. 9 und 10, aber niemals
erscheint derartiges als vom zopio? herrĂĽhrend oder enthalten iv up
süaYYsXtq) (toö xopiou), welche Formel 3 mal (8, 2. 15, 3. 4; vgl.
11, 3 TÖ 8dY{j.a toö soaYYsXwo) begegnet, so dass man auch AT und
TÖ euaYYsX'.ov als die Autoritäten der Ai^ayri bezeichnen kann. Ueber-
dies wird 1, 6 mit slf/^Tai ein räthselhafter Spruch mitgetheilt, dessen
Herkunft unbekannt ist (Erklärung seines Sinnes Const. H, 27, 4.
ni, 4, 2). Daneben wird niemals Epistolisches citirt, und doch sind
dem Verfasser wohl einige Plsbriefe^ bekannt gewesen (Ruf zur Ar-
beit 12, 3 -- 1 The 5, 22. 2 The 3, 8—12; Eschatologisches 16,
4. 6 ^- 1 The 4, 13—17. 2 The 2, 3—12; Abendmahl als pneu-
matische Speise 10, 3 = 1 Cor 10, 3. 4; Maranatha 10, 6 -= 1 Cor
16, 22; Standespflichten 4, 9—11 ^- Eph 6, 4—9; „Wachen für
etwas" 5, 2 - Eph 6, 18; „das irdische Geheimniss der Kirche"
Ho 1 tz m an n, Einleitung. 2. Auflage. o
114 Geschichte des Kanons.
11, 11 = Eph 5, 22 — 33). Wenn aber Pls SiaTCpLasic Ttvsofiditov
fordert (1 Cor 12, 10. 14, 29), so nimmt unser Verfasser keinen
Anstand, dieselben vielmehr mit furchtbarer Strafandrohung zu ver-
bieten (11, 7). Wenig nur wollen besagen die BerĂĽhrungen mit Act
(6 ;üaic 'Itjcjoöc 9, 2. 3. 10, 2. 3 = Act 3, 13. 4, 27; 00% ipsig i'Sta
sivat 4, 8 =-^ Act 4, 32) und mit Petrus (Enthaltung von fleisch-
lichen LĂĽsten 1, 4 --- 1 Pe 2, 11, aber auch Tit 2, 12. Clem. 2 Cor.
17, 3; 6 xpövo? r^c: ttlotsodc 16, 2 = 1 Pe 1, 17. 4, 2. 3; keinen
Feind haben 1, 3 = 1 Pe 2, 15. 3, 13) ').
2. Papias''^).
Der etwa 70 — 90 geborene, 161 — 163 verstorbene Papias, Bischof
von Hierapolis in Kleinphrygien hat um die Mitte des 2. Jahrb. ^)
aĂĽYTpa[X{JLaTa tusvts a xai kizqs'^paLTLzoLi XoYtwv xopiazwv s^T^YTJastg (Euseb.
KGr III, 39, 1) geschrieben, d. h. Auslegungen oder Erläuterungen
von AussprĂĽchen Jesu (Hieron. Cat. 18 explanatio sermonum domini).
Aus dem Werke sind durch Eusebius und einige Spätere gerade
genug E-este erhalten worden, um die Stellung dieses apyaXoc, avTJp
in der Geschichte des Kanons einigermaassen aufzuhellen. Jeden-
falls können die von Papias als Quellen aufgeführten Bücher nur
solche sein, welche XöYta xoptavta enthielten, also irgendwie evangehen-
artige Werke. Aber nur ihrer zwei erwähnt er, von welchen das
eine in seinem hebräischen Original auf den Apostel Matthäus
zurückgeführt wurde, das andere den Gewährsmann für seinen Bericht
in dem Apostel Petrus finden sollte (39, 14 — 17). Mag nun sein
Zeugniss direct unsern beiden ältesten Evangelien ^), oder nur unser m
^) A. Harnack, Texte und Untersuch, II, 2, S. 65 f, 161, 164, 166. Ganz
ähnlich verhält sich zur Kanonbildung auch die sog. apostolische Kirchen-
ordnung in ihren ältesten erkennbaren Quellen, wo das AT mit ^k^^^aTzxai, da-
neben aber nur noch Herrnworte in synoptischer oder apokryphischer Form als
Autoritäten angeführt werden; bekannt sind auch Apc und einige Plsbriefe. Vgl.
Texte und Untersuch. II, 5, S 49 f.
^) Vgl. die Literatur Patres ap. I, 2, S 89 f. Darunter namentlich die
grundlegenden Schriften von Weiffenbach, Das Papiasfragment bei Eusebius
1874 ; Die Papiasfragmente ĂĽber Mr und Mt 1878. Dazu JprTh 1877, S 323 f,
406 f. Ausserdem Lightfoot, Contemporary Review 1875, 2, S 377 f, 828 f.
") Nach Wieseler (Zur (xescliichte der neutest. Schrift und des Ur-
chri8tenthumsl880, S 119, 135) 98—110 ; nach Salmon (S 108) vor 130; nach Rettig,
Thiersoh, Weiffenbach (Das Papiasfragment S 24 f, 95 f) 130-140; nach
Wertcott (S 70) 140—150; nach Lipsius (JprTh 1885, S 174) und Schmiedel
(S 320) 150 -160, nach Volkmar (Ursprung S 59 f; Evglien S 548 f) 160-167.
'') Volkmar, Geschichtstreue Theologie S 47; Ursprung unserer Evglien
S 61, 134. Tischendorf S. 107. Zahn StKr 1866, S 690 f. Langen S 11 f, 32.
11. Kap.: Die Vorgeschichte des Kanons. 2. Papias. 115
Mr, daneben aber einem Urmatthäus (sei es Hebräerevglm , sei
es Spruchsammliing) ^), oder zwar unserm Mt, daneben aber einem
Urmarcus '^) , oder endlich sowohl einem Urmatthäus als einem Ur-
marcus gelten ^) : sicher ist, dass Alles , was Papias ĂĽber den Ur-
sprung des einen wie des anderen Werkes mitzutheilen weiss, ganz
von der Art ist, wie man von menschlicher Schriftstellerei spricht.
Einerseits zwar legithniren ihre Entstehungsverhältnisse diese Werke
als Urkunden ĂĽber das christliche Urdatum (darum kommen beide
BĂĽcher fĂĽr das eigene Unternehmen des Papias in Betracht), anderer-
seits aber leitet Papias aus eben diesen Entstehungsverhältnissen
eine relative Unvollkommenheit beider Urkunden ab, fremde Sprache
hier, Mangel an Ordnung dort. Folglich sind ihm beide Werke
auf keinen Fall als kanonische Schriften, d. h. unter dem bevorzugten
Gesichtspunkt der Inspiration entgegengetreten. Eben darum scheint
dem Papias auch in demselben Proömium, in welchem er die be-
sprochenen Mittheilungen macht, „das der lebenden und bleibenden
Stimme zu Entnehmende" nutzbringender als „das aus den Büchern",
d. h. er zieht der schriftlichen noch die mĂĽndliche Tradition vor,
als deren eifrigen Freund und Sammler er sich selbst einfĂĽhrt
(Euseb. III, 39, 4 oo Y^p ra k% zm ß'.ßXuov ToaoöTÖv \ls w'fsXsiv i)Z£Xa{x-
ßoLvov oaov la :üapa Cwa'/jc «pwv'^c '/tal {isvoügyjc). Yon solchen Büchern
muss schon in dem Context vor Beginn unseres Fragmentes die
Rede gewesen sein *), da er im 1. Satze einer bestehenden höheren
Taxirung derselben gegenüber fast nur verschämt mit seinen Tradi-
tionen herausrückt ^). AVas in seiner Jugend noch zeitgemäss er-
scheinen konnte, war es in seinem Alter nicht mehr in gleichem
Maasse^): das bedeutet die entschuldigende Wendung, „er wolle
Leimbach, Das Papiasfragment S 124 f. Westcott S 73 f. Keim, Aus dem Ur-
christenthum S 221 f. Wetzel, Die synopt. Evglien S 68 f, 74. Lipsius JprTh
1885, S 174.
') Hilgenfeld (zuletzt ZwTh 1886, S. 257 f), Godet, Grau, Resch, Das
Formalprincip des Protestantismus 1876, S44f. Meyer- Weiss, Mt, 7. AflSUf.
H. Wendt, Die Lehre Jesu I, 1886, S 37 f, 44 f.
'0 ScHWEGLER, Zeller, Baur, Dlo Evglicn S 536 f, 580 f.
") Schleiermacher, Credner, Köstlin, Schölten, Beyschlag, Nösgen,
A. Revhj.e, Reuss, Ewald, Renan, Hanson, Weiffenbach, Die Fragmeute S 104 f,
124 f. Jacobsen .IprTh 1885, S 167 f. Mangold bei Bleek, S 249 f.
") So mit Recht die meisten Ausleger, z. B. Steitz StKr 1868, S 66;
JdTh 1869, S 145. Mangold ])ei Bleek S 113. H. LĂĽdemann .Ti)rTli 1879,
S 369 f. Wetzel S 70 f. Wold. Schmidt S 454.
'') H. LĂĽdemann S 370, 379.
") Falsch schliesst Wktzkl S 71 f aus dem Ă–KsXajiĂźavov, dass Papias selbst
an dem mittlerweile eingetretenen UmschwĂĽnge betheiligt gewesen und seine Vor-
8*
116 Geschichte des Kanons.
nicht anstehen, auch alles dasjenige, was er dereinst von den Aelte-
sten gut gelernt und trefflich dem Gedächtniss eingeprägt habe, mit
unter die spfAYjvsLai einzureihen" (nach der Lesart Gvt^xazaxd^ai) oder
wahrscheinlicher „mit den (entsprechenden, dazu gehörigen) Aus-
legungen (zu einem Ganzen, einem a6vTaY[j.a) zusammenzustellen,
indem er die Wahrheit davon verbĂĽrge" (39, 3 ooz oTtvTJaw Ss aot
xal oaa Tioxk Tuapa twv TupsaßoTSpcov ^aXw? e[ia^ov v.cd xaXw? IpTjjiövsoaa
aovTdJai latc sp{iY]VÂŁiai(; S'.aĂźsĂźaioĂĽiJisvoc oTusp aotwv aX'/j^siav) ^). Im
weiteren Fort gange des Fragments versichert Papias bei seiner Aus-
beutung der Tradition die erforderliche Sorgfalt angewandt und sich
nicht zufrieden gegeben zu haben bei denjenigen, welchen der grosse
Haufen zufällt, weil sie einen entsprechenden Haufen von Mitthei-
lungen zu machen haben, auch nicht bei denen, welche fremdartige,
sondern nur bei denen, welche die von dem Herrn seinen Gläubigen
gegebenen und von der Wahrheit selbst stammenden Gebote be-
richten (ou Y^p TOic Toc TuoXXa Xsyo'^^tv s'/aipov waTisp ot ttoXXol, aXXa
Toi<; zakrid-fi SiSdcj7,ooaiv , ouds zoIq idc dXXorpiac hzo\ä<; [j.vYj[iovs6ooaiv,
aXXa zol(; Tdc Tüapd toö vjopioD z'q nlazsi §£So[JL£vac: xal aTu' aoT-^g :rapa-
7ÂŁvo[jiva(; Tfj(; dXYj^ÂŁia(;). Je mehr also das, was ihm zukam, durch
die Persönlichkeiten der Berichterstatter und ihrer Gewährsmänner ^)
empfohlen und verbĂĽrgt war, desto mehr reizte es seinen Forscher-
und Sammlertrieb. Die Kirche wollte freilich später nicht mehr
jeden so gewonnenen Fund des wegen seines Chiliasmus (39, 12) als
a{j.ap6(; töv voöv Geltenden (39, 13) werthvoll und glücklich preisen.
Eusebius bezeichnet die von Papias aufgetriebenen Anekdoten bald
als TiapdSo^a bald als {iD^tz(bTÂŁpa (39, 8. 11) und unter dem Banne
dieses Eindrucks ist vielleicht sogar hier und da einmal eine origi-
nelle Notiz unbeachtei^ gebheben ^) — kein befremdliches Loos für
einen Schriftsteller, der noch so wenig um das Kanonische Bescheid
liebe fĂĽr die Tradition aufgegeben habe ; vielmehr bezeichnet es die Gleichzeitig-
keit der inneren Motivirung mit sj^atpov, avlxpivov, und alle drei Imperfecta
drĂĽcken die anhaltende Vorbereitung des Werkes aus; vgl. Weiffenbach,
Das Papiasfragment S 130, 187 f. Hilgenfeld ZwTh 1886, S 271.
^) Die Fassung des xai vor oaa als Correlat zu dem v.ai in dem später
folgenden Satze (et Se tzou xai u. s. w.), wie Weiffenbach sie im Interesse seiner
Hypothese durchführen will (S 20 f), ist von Lipsius, Härtens, Lüdemann,
Hilgenfeld, Leimbach, Kattenbusch und Wetzel (S 71) verworfen und vom
Urheber selbst als „Härte" bezeichnet worden (JprTh 1877, S 337).
*) Beide Subjecte fallen auseinander nach der III, 39, 4 folgenden Erklä-
rung et ok Koh xat Tzrxo'qv.o'koud^v.iiic, ziq xol? TrpsoßuTspotc; eXi^oi xob(; täv TCpsoßuTepcuv
avixptvov Xo^oD?.
") Zyro, Neue Beleuchtung der Papiasstelle 1869, S 19 f.
n. Kap.: Die Vorgeschichte des Kanons. 2. Papias. 117
weiss, dass er über den Tod des Verräthers Judas sich einer Kunde
erfreut, die weder mit Mt 27, 5 noch mit Act 1, 18 stimmt ^).
Und doch hat er sicher unsere synopt. EvgHen gekannt, wenn auch
noch nicht ^unter ihren jetzigen Titeln; Lc wegen der augenschein-
Hchen Nachahmung von Lc 1, 1 — 4 in seinem Proömium ^), Mt um
des von ihm fĂĽr die Beurtheilung des Mr entnommenen Maass-
stabes willen ^). Man konnte mithin zur Zeit des Papias noch die
AussprĂĽche des Messias als GottessprĂĽche schlechthin betrachten,
ohne darum an EvgHenschriften andere Anforderungen zu stellen,
als dass sie diese Xo^ia TCDpiazd in zuverlässiger Weise reproduciren
müssen; die darin erzählten Thatsachen schätzte man als das Neben-
sächHche.
FĂĽr des Papias Stellung ist schon der Titel seiner Schrift bezeichnend, so-
fern die Xö^irx xop'.axa, deren Erklärung sie gewidmet ist, für ihn allein normative
Autorität sind. Um so weniger ist der Terminus \6-(t.o\i nach dem späteren patri-
stischen Sprachgebrauch zu verstehen vom Inhalte neutest. Schriften, insonder-
heit der Evglien (so noch Salmon S 117 f). Eben diese charakterisirt er ja,
wie gezeigt, in einer Weise, die deutlich macht, wie wenig sie ihm unter der
Kategorie des Orakels, des inspirirten Wortes, also eben des Xo-^iov erschienen
sind*). Andernfalls wäre die Gleichstellung des NT mit dem AT schon hier voll-
zogen. Denn wie Rm 3, 2. 1 Pe, 4, 11. Hbr 5, 12. Act 7, 38 xa Xo^ta Gottes-
sprĂĽche, und zwar alttest. sind, so bezeichnet auch noch Clem. Rom. damit den
Inhalt des AT. Die letzteres lesenden Korinther heissen h(v.tv.ii<^6xsq el<; xa
Xo^KA xr^c, KaiozioLc, xoö d-Boö (62, 3). Wo Jes 66, 2 xou? Xo^oo? |j-oü steht, setzt er
dafür xa Xöy.rx (13,4). Letztere erscheinen daher parallel mit al bpalYpacpai (53, 1)
und die alttest. Frommen heissen xaxaSs^aiJ-svoi xa X6-(ia a5xo5 (19, 1). In eine
diesem alttest. Gotteswort ebenbĂĽrtige Stellung rĂĽcken sonach die Reden des
Messias vor (vgl. auch S 119 über Justin, S 122 über Clem.), während Erzäh-
lungen von diesem Xö'(ia erst heissen konnten, seitdem sie als Bestandtheile
kanonischer Schriften selbst EfFata Spiritus Sancti geworden waren, also etwa
bei Irenäus. Pia kommt nicht vor, es müsste denn Papias die benannte Grösse
zu den bei Irenäus (V, 5, 1. 36, 2) 1 Cor 15, 25—28. 2 Cor 12, 4 citirenden Presbytern
sein*). Gegentheils scheint gerade dies dem Eusebius aufgefallen zu sein, dass
im Proömium zwar 7 Urapostel namentlich aufgeführt werden (III, 39, 4), des
im örtlichen Bereiche des Papias wirksam gewesenen Pls aber keine Erwähnung
1) Gegen Zahn StKr 1866, S 687. Vgl. Overbeck ZwTh 1867, S 39 f.
Steitz StKr 1868, S 87 f. Hilgenfeld ZwTh 1875, S 264 f. Supernat. rel.
III, S 19.
') RiöGENBACH JdTh 1868 , S 323. Weiffenbach S 16. Hilgenfeld S 58.
«) H. HoLTZMANN ZwTh 1880, S 69 f.
*) Schleiermacher StKr 1832, S 738. Steitz abend. 1868, S 68 f. Weiffen-
bach S 80 f. Dagegen Wetzel S 65: „Woher weiss man denn, dass zur Zeit
des Papias die Evglien noch nicht fĂĽr inspirirt galten?" Antwort: Aus Papias
selbst, dessen Schrift, von Obigem abgesehen, sonst auf ihrem Titel auch den
Artikel nicht vermissen liesse.
') Lightfoot S 846 f. A. Haknack, Patr. ap. I, 2, S 113 f.
118 Geschichte des Kanons.
geschieht. Für diese getäuschte Erwartung dürfte sich Eusebius entschädigen,
wenn er es als einen Fund betrachtet, die Hauptbriefe von 2 Aposteln durch
Papias benutzt zu sehen (39, 17)^). Nur wenn das • nicht blos bedeuten sollte,
dass Eusebius Anklänge an den Inhalt von 1 Pe und 1 Joh entdeckt hat, wenn
vielmehr dem Papias diese SchriftstĂĽcke geradezu als Werke der beiden Apostel
gegolten hätten, würde dessen Kanon, sofern von einem solchen die Eede sein
kann, aus den Schriften von 3 Uraposteln bestanden haben. Wenn endlich
unter den öcTcoaxoXtv.al hri^(ri<jBiq , auf deren Missverstand Eusebius (39, 12) den
Chiliasmus des Papias zurückführt, Apc gemeint ist — das Prädicat „apostolisch"
wird doch wohl mit Bleek (Vorlesungen ĂĽber Apc S 16; Einl S 783) gegen
HiLGENFELD (S. 60, 64) auf Rechnung des Eusebius zu setzen sein — und der
kappadocische Andreas mit Recht auf Erläuterungen des Papias zu Apc 12, 7
recurrirt, mit Recht auch Apc von Papias als ein inspirirtes Buch behandelt
sieht ^), was bei dem Chiliasten allerdings von vornherein wahrscheinlich ist, so
wĂĽrde in einer solchen Werthung des Visionenbuches ein positives Moment fĂĽr
die Entstehungsgeschichte des neutest. Kanons gegeben sein, d. h. es wĂĽrde
auch von Papias gelten, was ungefähr von seinem Zeitgenossen Justin gilt^).
3. Justin der Märtyrer*).
Von der griechischen Philosophie herkommend und um 14ĂĽ
bekehrt, schrieb Justin im Laufe der nächsten 20 Jahre seine bei-
den an das antoninische Kaiserpaar gerichteten Apologien, welchen
*) HiLGENFELD S 58 f, 61 f. Da Eusebius den Gebrauch beider Briefe
auch bei Irenäus bemerkt (V, 8, 7), schieben ihm Ewald (Joh Schriften II,
S 398 f) und Steitz (JdTh 1869, S 150) ein gegen die syrische Kirche gerich-
tetes apologetisches Motiv unter. Aber wir werden erst nach seinen Zeiten un-
sicheren Spuren davon begegnen, dass dort auch 1 Pe und 1 Joh in Misscredit
kamen. In den Angaben ĂĽber Polycarp (IV, 14, 9) hat Eusebius 1 Joh ver-
gessen. Sonst ist seine Aufmerksamkeit unter den kath. Briefen besonders auf
Jud gerichtet (11, 23, 25. VI, 13, 6. 14, 1), und doch bestand ein apologetisches
BedĂĽrfniss nicht minder auch bezĂĽglich Jac, 2 Pe, 2 und 3 Joh.
2) Patr. ap. I, 2, S 94 f.
') Gegen Steitz, der dem Papias Kenntniss der meisten neutest. Schriften
beimisst (StKr 1868, S 83), freilich aber zugleich leugnet, dass sie fĂĽr ihn kano-
nischen Charakter besessen hätten (JdTh 1869, S 142). Noch grössere Erobe-
rungen meinten Riggenbach, Tischendorf, Leimbach, Zahn bei Papias zu machen,
und Wold. Schmidt glaubte wenigstens „ein Recht zu der Behauptung zu haben,
dass unsere 4 Evglien nicht ausserhalb seines Gesichtskreises und seiner Benutzung
lagen" (S 455).
*) J. C. Th. Otto ZhTh 1841, 2, S 77 f. 1842, 2, S 41 f. 1843, 1,
S 34 f. G. VoLKMAR, Ueber Justin den Märtyrer und sein Verhältniss zu unsern
EvgUen 1853. A. Hilgenfeld, Kritische Untersuchungen ĂĽber die Evglien Justin's,
der clementinischen Homilien und Marcion's 1850. H. D. Tjeenk-Willink,
Justinus Martyr in zijne verhouding tot Paulus 1867. F. Overbeck ZwTh 1872,
S 305 f. A. Thoma ebend. 1875, S 383 f, 490 f. M. v. Engelhardt, Das
Christenthum Justin's des Märtyrers 1878, S 327 f. Schölten, Bijdragen S 99 f.
Wofern ĂĽbrigens als Grundlage der Altercatio Simonis et Theophili (nach 400)
n. Kap.: Die Vorgeschichte des Kanons. 3. Justin der Märtyrer. 119
der Dialog mit dem Juden Tryphon folgte. Hier erzählt er (7),
wie ihn der Greis, welchem er seine Bekehrung verdankte, einst auf
die Schriften der Propheten (nicht etwa der Apostel) verwiesen
habe. AVas er seither ĂĽber Person und "Werk seines Logos-Christus
zu lehren hat, belegt er demgemäss stets aus der alttest. Schrift,
die er ganz wie ein Orakelbuch verehrt und gebraucht ^). Durch
die Propheten hat der heilige Geist Alles geweissagt, was Jesus
betrifft (Apol. I, 61). Im Nachweis dieser Uebereinstimmung der
ErfĂĽllung mit der Weissagung findet der Apologet seine Hauptauf-
gabe (z. B. Apol. I, 30. 53. Dial. 32. 40. 53). So sehr ist das AT
heilige und inspirirte Autorität schlechthin, dass eigentliche Eben-
bĂĽrtigkeit irgendwelcher neutest. Schriften von vornherein ausge-
schlossen ist. Nie werden andere als alttest. Schriften als inspirirt
behandelt und mit Formeln wie Xs^st lö aytov TcvsöjJLa citirt ; sie allein
auch stets mit ihren Buch- und Autornamen. Letztere Ehre wider-
fährt unter christl. Büchern nur Apc, und zwar einmalig Dial. 81 ;
ausserdem leitet er Apol. I, 28 die Apc 12, 9. 20, 2 vorfindHchen
Teufelsnamen h% twv r^fisTspcov aoYYpa{i[i.ar(j)v ab. Demgemäss erscheint
bei ihm dieses Werk einerseits als Fortsetzung und Ergänzung der
alttest. Prophetie (ähnliches gilt von der Sibylle und Hystaspes Apol.
I, 20. 44), andererseits als Vorposten einer im Anzug begriffenen
neutest. Sammlung, w^elche bereits Gegenstand kirchl. Lectionen,
wenngleich nur in zweiter Ordnung geworden ist, sofern am Sonntag
cjovsXsoaic YivsTai %al la a7:opYj[AOV£6|jLaTa twv aTToaiöXcöv t) la ao^yp«!^-
[lara im Tipo^'/jTwv avaYivwaxsmi (Apoll, 67): dies die erste Nach-
richt von der Vorlesung der EvgHen in den Gemeindeversammlungen.
Aber nur erst als Complement der alttest. Offenbarung, d. h. sofern
sie die ErfĂĽllung des Prophetenwortes veranschaulichen und nach-
weisen, nicht aber als eine neue Offenbarung und selbstständige Dictate
des Logos, besitzen sie ihren immerhin schon eigenartigen Werth.
Als selbst allem Prophetenwort ĂĽberlegener Gipfel der Offenbarung
gelten jedenfalls noch allein Xo-^ia xopioo. Da Tryphon „das von
unserem Erlöser Gelehrte" (ra otu' Ixetvoo toö ator^po«; %wv diday^-
^svra) gelesen hat, will Justin (Dial. 18) auch einige seiner kurzen
SprĂĽche den prophetischen Citaten beiordnen (xal Ăźpa^^a twv sxsivoo
XÖYia Tupöc tote Tüpo'fTjTLXoic l;ri|xvY]a^£t<;). Coordinirt hier Justin Aus-
wirkhch die vorjustinische Altercatio Jasonis et Papisci anzunehmen wäre
(A. Harnack, Texte und Unters. I, 3, S 1 f, 115 f), so hätte sich eine Geschichte
des Kanons vorher noch mit den spärlichen Beziehungen dieses Schriftstückes
auf neutest. Literatur abzufinden (Harnack S 89 f).
*) L. DiESTBL, Geschichte des AT in der christl. Kirche S 20.
120 GeschicMe des Kanons.
SprĂĽche wie Mt 23, 13. 16. 23. 27. Lc 19, 46 der alttest. Propheten-
rede, so doch keineswegs die Schriftwerke, aus welchen er sie kennen
gelernt hat^). Vielmehr glaubt er dem Zeugniss letzterer z. B.
über die jungfräuhche Geburt ledigKch, weil auch Jesaja (7, 14,
ĂĽbrigens citirt nach Mt 1, 23 gegen LXX) dieselbe schon geweis-
sagt hat (Apol. I, 33 Jx; ot a7:o[iV7]{iov£6oavT£<; Tzd^za m Tcspl toö owT^pog
ri\iMV 'Itjooö Xptaroö sSi§a|av oic s;riaT£Daa{j.£v sizsidri ^^^ ^^^ 'Haatoo toö
7rpo8£S7jX(0[j.^voo rö Trpo^TjTLXOv :rv£Ö[jLa toöto y£V7j(3Ö[jl£vov s'^ yj). Dem also
glauben die Christen, was die Propheten vorausgesagt und Christus
gelehrt hat (Dial. 48 zolq diä zm {laxapLoov 7rpo<p7jTcoy xrjpo)(^£iat %cd
St' aüTOö didcLyß-sioi). Andererseits aber citirt Justin nicht mehr das
Wort Jesu als solches, sondern als ein in den Evglien aufgeschrie-
benes ; der Uebergang von der (pwvT] Cwaa des Papias zu der selbst-
ständigen Stellung, welche der officielle Gebrauch dem schriftlichen
Worte verleihen musste, ist vollzogen ^). Die mĂĽndliche Tradition
gilt als fixirt in den Evglien, die ihm, wenn nicht in einer Har-
monie ^), so doch in einer Sammlung vorlagen. Das erste und wich-
tigste derselben wird sogar bereits einmal wenigstens mit xal 7ÂŁYpa7r-
zai citirt (Dial. 49 = Mt 17, 13). Genannt aber wird sein Verfasser
so wenig wie der Name des 2. oder 3. Evangelisten. Die Schrift-
werke selbst fĂĽhrt Justin siebenmal als a^o{JLVY][iovÂŁ6[JLaTa twv aTroard-
Xoöv ein, und dass er damit mehr als etwa nur Eine, auf die Er-
innerungen der Apostel zurĂĽckgehende, Schrift meint, geht hervor
aus Dial. 103 iv ^ap toic a:ro|xv7][JLOV£Ö[iaaiv a (pyi\Li otuö zm aTToaiöXwv
aoToö xal im £X£ivoic TrapaxoXoD^Tjadvrwv aDVT£Td)(^ai und Apol. I, 66
Ol Y^p aTTĂ–aioXot iv toiq YÂŁVO[jivoi<; otĂĽ' aorwv d7co[JLVY][iovÂŁĂ–[JLaatv a xaXÂŁi-
xai ÂŁoaYYÂŁXia. So also, Evglien, scheinen diese Berichte damals
schon bei den Christen genannt worden zu sein, während die frühere
Bezeichnung als §nrjY'^^^^<^ und der von Justin mit Rücksicht auf das
Verständniss literarisch gebildeter Nichtchristen gebrauchte Titel
a7ro|xv'ir]{j.ovÂŁĂĽ[JLara zurĂĽcktreten. Auch das weist auf die anhebende
eigenthĂĽmliche Wertlmng apostolischer Berichte ĂĽber Person und
Werk Jesu, da von einer autoritativen Literatur die Vorstellungen
^) Falsches hierĂĽber bei Semisch, Die apostolischen DenkwĂĽrdigkeiten des
Märtyrers Justinus 1848, S 62. Tischendorf S 37 f. Riggenbach JdTh 1868,
S 322. Hofstede S 42 f. Luthardt S 58. Salmoh S 77 f. Theilweise Rich-
tigeres bei v. Engelhardt S 332 f, 366 f.
^) Weizsäcker, Zur Kritik des Barnabasbriefes 1863, S 35.
') Gegen Sanday S 136 f. Auch v. Engelhardt S 345 f nimmt einen
aus Mt und Lc gemischten, mit Zuthaten aus der Tradition bereicherten Text als
Grundlage der Oitate Justin's an.
I
II. Kap.: Die Vorgeschichte des Kanons. 3. Justin der Märtyrer. 121
des Zufälligen, welche mit dem Titel „Denkwürdigkeiten, Erinne-
rungen" verbunden sind, ausgeschlossen werden mussten. So sehr
aber bilden sie in ihrer Einheit bereits eine feststehende Grösse,
dass sich sowohl in Justin's (Dial. 100) als in seines Gegners Mund
(Dial. 10) die Citationsformel sv rtp soaYYsXicp findet, entsprechend
dem gleichen Ausdrucke der ^i^ayri und dem suaYYS^^ov bei 2 Clem.
8, 5 und Theophilus ad Aut. 3, 14.
Gleichwohl stehen diese dem AT in der kirchlichen Vorlesung an die
Seite rĂĽckenden Evglien noch nicht in ihrer kanonisch abgeschlossenen Vierzahl
einer gleichgearteten Literatur gegenĂĽber, wie ebensowohl aus der unbefangen und
reichlich geübten Ausbeutung eines in die Familie der Hebräerevglien gehörigen
Seitengängers der Synoptiker, als aus dem nur höchst seltenen und vorsichtigen
Gebrauche des 4. Evglms erhellt. Zu bemerken ist noch wahrscheinliche Be-
kanntschaft mit Act und merkliche Beeinflussung durch Hbr und Barnabasbrief,
auch wohl 1 Pe und 1 Joh. Soweit gehört Justin der schon durch Papias
gekennzeichneten Linie der Kanonbildung an, nur dass dieselbe etwas weiter
fortgefĂĽhrt erscheint. Wie bei Papias, so fehlt auch bei ihm der Beitrag, welchen
der Paulinismus zur Bildung der kath. Kirche und ihres Kanons zu leisten be-
rufen war. Nur 12 Apostel kennt er, und diesen, den von Jerusalem ausge-
gangenen JĂĽngern Jesu, schreibt er nicht blos eine bestimmte LehrtĂĽchtigkeit
(Apol. I, 39. 40), vermöge welcher Gottes Stimme durch sie redet (Dial. 119),
sondern auch in ausschliesslich zu nehmendem Sinne den Charakter als Univer-
salapostel und Instrumente der Heidenmission zu (Apol. I, 42. 45. 49. 50. Dial.
42. 53. 109. 110). Darin liegt um so mehr System und Methode, als zugleich
der Name Pls niemals genannt wird, wiewohl die Hauptbriefe (Rm, Cor, Gal,
Eph, Phl, Col, The) fragelos bekannt sind. Zweifellos hat der Weitgereiste sie
da und dort vorlesen hören. Gleichwohl vermeidet er jeden förmlichen Anschluss
an diese Literatur, gibt die Sätze des Pls nur in wunderlicher Verschrobenheit
wieder, rationalisirt auch gelegentlich ihre Gedanken, stumpft ihre Pointen ab,
wofern er nicht geradezu eine halb oppositionelle Stellung dazu einnimmt.
Wenigstens scheinbar geschieht Letzteres, wenn die Behauptung, dass der Genuss
von e'.owXoO-oxa dem Christen erlaubt sei, mit einem Seiteublick auf <\isoBaK6zxoXot,
welche eine Masse von Gläubigen verführen (nach Mt 24, 11. 24), als gottlose
Irrlehre verworfen wird (Dial 35)^). Ist es somit der Begriff der AVeissagung,
welcher die Apc als Ergänzung und die Evglien als Erfüllungsnachweis des alt-
test. Prophetenwortes zu einem Doppelkeinie der Kanonbildung zusammenwachsen
lässt"), so beweist doch schon die gelegenthch der Anführung von Apc zu Tage
tretende Voraussetzung, dass die Christenheit bis auf die Gegenwart des Schrift-
stellers herab mit dem prophetischen Geiste begabt sei (Dial. 82, vgl. 88), zum
Ueberflusse, dass es fĂĽr Justin eine im Princip abgeschlossene Sammlung urchristl.
Schriften, einen Kanon des NT noch gar nicht geben kann, wiewohl ihm die
meisten Schriften desselben bereits bekannt sind.
^) Nur auf diesem Punkte dĂĽrfte v. Engelhardt (S 362) gegenĂĽber der
von Tjeenk -WiLLiNK, HiLGENFELD, OvERBECK, Thoma u. A. Vertretenen Beur-
theilung des Verhältnisses zu Pls im Rechte sein. Das Uebrige (S 359 f) kann
gegen die oben erwähnten Leistungen weniger aufkommen.
") A. Haänack ZKG IU, 1879, S 371. W. Schmidt S 456.
122 Geschichte des Kanons.
4. Die späteren apostolischen Väter.
In der aus der Mitte des 2. Jahrh. stammenden Homilie,
welche missverständlicher Weise als 2. Brief des römischen Clemens
überliefert und citirt wird, treten als Autoritäten la ßißXta %al ol
aizoGvokoi auf (14, 2), d. h. das AT und diejenigen Schriften, welche
dem Verfasser als apostolisch gelten ^). In letzterer Beziehung be-
zeichnend ist, dass zum Belege dafür, wie man müsse ttolsiv tö d-s-
XYj{ia Toö ;uaTpöc (10, 1) und ^oXdaasiv ra? IvroXa? toö xopioo (8, 4),
trotz naheHegender Johann eischer Parallelen fĂĽr johanneische Aus-
drĂĽcke doch Lc 16, 10 = Mt 25, 21 und zwar in einer apokryphi-
schen Eedaction mit der Formel XsYst ydp 6 xopio? Iv T(p sDay^eXitj)
citirt wird (8, 5), so dass der Begriff des soaYYsXtov hier noch mit
der synoptikerartigen Literatur zusammenzufallen scheint. Genauer
besehen zeigt gerade diese Stelle, dass zunächst die Herrnsprüche
einfach als solche Autoritäten sind. Aus dem Munde der Christen
vernehmen die Völker m Xö^ia zob ^soö (13, 3). Als ein solches
Gotteswort wird sofort Lc 6, 32 — 35 angeführt, aber doch nur wie
aus dem Gedächtnisse (13, 4), ausdrückhch als ^pcf-^rj dagegen Mt
9, 13 == Lc 5, 32 (2, 4). Daneben macht der Verfasser aber doch
sehr ausgedehnten Gebrauch von einem apokryphischen, ja selbst
häretischen Evglm, wahrscheinlich demjenigen xat' AIyotttioo?. Zu
Pls steht er wie Hermas.
WesentHch anders verhält es sich mit der ignatianischen Litera-
tur, und zwar mit den 3 syrischen Briefen, welchen man heute
freilich keinerlei Priorität mehr zuschreiben darf, so gut wie mit
den 7 griechischen (um 170, spätestens 180)^). Der Nachdruck
fällt durchaus auf die Plsbriefe und zwar einschhessUch Tit, 1 und
2. Tim^). Ignatius steht insofern im charakteristischen Gegensatze
zu Papias und Justin, bei welchen Pls im gleichen Maasse zurĂĽck-
tritt, wie Apc im Vordergrunde steht. Letztere kennt unser Brief-
steller nicht ^). Den Pls dagegen nennt er wiederholt, und seinen
Briefen entnimmt er ganze Wortverbindungen und Stilwendungen,
ja er plündert sie förmlich. Ausserdem kennt er kaum noch weitere
apostolische Briefe^), wie auch neben Mt (Vorgeschichte Eph 18, 2.
1) A. Harnack ZKG I, S 360 f. III, S 366. Patr. ap. I, 1, S LXXII.
2) H. HoLTZMANN ZwTh 1877, S 187 f.
3) H. HoLTZMANN, Die Pastoralbriefe S 259 f. Vgl. auch Kritik der
Epheser- und Kolosserbriefe S 277 f.
•*) Zahn, Ignatius S 609. Anders Patr. ap. 11, S 20 unter Hinweis auf
Eph 15, 3 = Apc 21, 3 (vielmehr 2 Cor 6, 16).
^) Unsichere Spuren von 1 Pe und Hbr bei Zahn, Ign. S 614 f.
IL Kap.: Die Vorgeschichte des Kanons. 4. Die späteren apost. Väter. 123
19, 2; HerrnsprĂĽche wie Mt 10, 16 - Polyc. 2, 2 oder Mt 12, 33
== Eph. 14, 2) kaum noch einen Synoptiker, während Joh zuweilen
auftaucht. Spuren von Lc insonderheit sind trotz des auffälUgen
Anklanges Smyrn. 3, 3 an Lc 24, 41 — 43. Act 10, 41 mit vöUiger
Sicherheit nicht zu verfolgen ^). Unmittelbar vorher (Smyrn. 3, 2)
wird ein Herrnwort angeführt, welches sich mit Lc 24, 36 — 40.
Joh 20, 20. 27 berĂĽhrt, aber in seiner bestimmt fixirten Form erst
dem Hebräerevglm angehört (Hieron. Cat. 16), so dass ein Gleiches
wohl von dem ganzen Zusammenhang gelten wird ^). Bezeichnender
Weise treten auch die Spuren der Benutzung von Clem. Eom. und
Herm. fast ebenso deutlich hervor, wie die des Mt und der Plsbriefe,
aus welchen beiden Elementen der Kanon dieses richtigen Vertreters
der Katholicität bestehen würde, wenn bei ihm von einer festbegrenz-
ten Sammlung die Eede sein könnte.
Ob letzteres der Fall ist, hängt von der noch immer zweifelhaften Aus-
legung von Stellen ab, wie Philad. 5, 1, wo der Briefsteller sich zum Evglm
flĂĽchtet als zum Fleische Christi und zu den Aposteln als zum Presbyterium
der Kirche, um sofort weiter zu fahren (5, 2): xal xohq TCpocprjXa? Ss ä-^aTzGiiitv
oiä x6 xal ahzobc, tlc, xb sbay^iXiov v.av(]'^^t\v.hM xal üc, aoxov eXTt'lCfiv. Entweder
bedeutet das Evglm hier kein geschriebenes Buch, sondern die neutest. Heils-
botschaft selbst, ganz abgesehen von ihrer Form'). DafĂĽr steht die Parallele
Smyrn. 5, 1 zu Gebote, wo Boay^kXiov vor Tta^Yj/xaxa eine Sache, freilich aber
auch hinter iwpo^pYjxsIai und v6|X0(; Mcuüaecu? ein Buch bedeuten könnte. Oder
aber „die Apostel" werden als die zweite Hemisphäre des neutest. Kosmos dem
„Evglm" coordinirt und bei dieser Grelegenheit auch die Propheten als Vertreter
der ailtest. Autorität erwähnt*). Darauf führen theils der Fortgang Philad. 5, 2
ÂŁv xĂĽ) cĂĽaYYeXi(i> xT^c, xotvYj? IXtcioo?, theils die Parallelen Smyrn. 7, 2 izpooi-/ti\i
xol^ TrpocpYjXocic:, e^aiplxux; Se xö) thay^zXiiü ev tp x6 TrdO-oi; •f](JLiv SsBYjXioxai und
Philad. 8, 2, wo der Irrlehrer sich auf den Satz steift eav jjiy] ev xolq äp/stot?
Eupw, ev x(I) e5aYY£X''«> oh Titaxsüto. Wenn darauf Ignatius entgegnet, seine An-
sicht sei eben die schriftgemässe (oxi ^(i'^paizxrxi), so antwortet Jener: irpoxeixat,
d. h. das eben ist Gregenstand der Verhandlung, soll also nunmehr untersucht
werden^). Darauf fährt Ignatius fort: e|JLol hl ap^eia (and. Lesart ap^aia) eaxtv
'Iy]coÖ(; XpiQxrjq, xa aO".xxa apysla (and. Lesart apyaloi.) 6 oxaopbq aüxoö xal 6
yiwaxoq xal -rj avdoxao'.i; ahxob, womit aber nicht etwa der persönliche Christus
Archiven oder Schriftdenkmälern, ja Evglien, worauf sich die Gegner berufen
hätten, gegenübergestellt^), sondern solchen, welche ihre Heterodoxie aus den
») Zahn, Ign. S 600; Patr. ap. II, S 83, 86.
^) Schölten, Aelteste Zeugnisse S 52-, Das paulinische Evglm S 2.
«) Zahn, Ignatius S 431; Patr. ap. H, S 75. Reüss U, S 11. W. Schmidt
S 452. SCHMIEDEL S 321.
■*) Diese besonders durch Clericüs verbreitete Erklärung vertreten Hil-
GENFELD, Einl. S 72. Tischendorf S 39. Schölten, Zeugnisse S 52. West-
COTT S 58 f.
") Zahn, Ign. S 377 f; Patr. ap. U, S 79.
«) Zahn, Ign. S 375 f, 378; Patr. ap. n, S 78 f.
124 Geschichte des Kanons.
Propheten rechtfertigen wollten, die Antithese geboten wird, die rechten Alter-
thĂĽmer seien Jesus Christus und sein im Evglm. bezeugtes Sterbqn und Aufer-
stehen; vgl. 9, 2, wonach i^aipsxov xi tyzi xö shw^^kXiov, nämlich tyjv uapoootav
Toö aü>XY]po<;, zb kü^oc, auxoö xal xy]v ocvaaxaaiv, während ol cc^rxKrixoi Ttpocfrjxai
blos xaxYjYYstXav tlq rxhxov, xö 8s söa^Ys^tov aTCdpxtafxd eaxiv 6ccp'9'apa'.a(;^). Sonach
ruft Ignatius auch in diesem Falle mit y^TP^''^'^^'' nicht ein Evglm, sondern, wie
er auch sonst thut, die alttest. Autorität an^j.
Wichtiger als die unsicheren Ergebnisse zweideutiger Stellen
ist die Thatsache, dass auch Ignatius, freilich bereits als Bischof
gedacht, „mit Gottes Stimme" redet (Philad. 7, 1) und mit dem der
Gemeinde immanenten Gott (Eph. 15, 3) auch eine gemeinchristl.
Inspiration anerkennt, die ĂĽber die Grenzen apostolischer Schriften
hinausreicht. Der Strich, den er zwischen seiner und der apostoh-
schen Autorität zu ziehen scheint (Trall. 3, 3. Rom. 4, 3), theilt, ge-
nauer besehen, zwischen Diesseits und Jenseits. Ganz dem Col 4, 16
vorliegenden Falle entsprechend, erbittet sich die Gemeinde zu Phi-
hppi von der zu Smyrna die hier befindlichen Briefe des Ignatius
(Polyc. ad Phil. 13, 2). Hermas soll die ihm zu Theil gewordenen
Offenbarungen an einheimische und auswärtige Gemeinden versenden
lassen (Vis. II, 4, 2. 3). Demgemäss wurden auch noch zu Korinth
römische Gemeindebriefe (darunter Clem. Rom.) sonntäglich öffentlich
vorgelesen (Euseb. KG IV, 23, 11). um so weniger kann ein Zweifel
darĂĽber bestehen, dass Gemeinden, wie die zu Philippi und zu Ko-
rintli, damals vor AUem auch den an sie adressirten Plsbriefen die
gleiche Ehre erwiesen haben werden.
In demjenigen Theile des Briefes des Polykarp von Smyrna an
die Gemeinde zu Philippi^), welchen wir nur in lateinischer Ueber-
setzung besitzen, wird nicht blos 11, 2 an 1 Cor 6, 2 mit sicut Paulus
docet erinnert, sondern auch 12, 1 (aber nicht ganz sicher, weil der
Uebersetzer schon 2, 3 willkĂĽrlich ein quod dictum est eingetragen
hat) mit ut bis scripturis dictum est neben und nach Ps 4, 5 bereits
Eph 4, 26 angefĂĽhrt. Freihch fallen beide Stellen in den Zusammen-
hang der früher angenommenen Interpolationen, während die zahl-
reichen Reminiscenzen der vorhergehenden Capitel ohne alle Citations-
formeln eingefiochten werden ^). Zu einer ungemein starken BerĂĽck-
sichtigung der pauhnischen Literatur (Rm, Gal, Cor, Phl, Eph, The,
Tim, Tit, aber auch Act, 1 Pe, 1 Job) ^) kommt das ausdrĂĽckliche
^) Herkömmliche Erklärung, auch W. Schmidt S 452.
2) HiLGENFELD ZwTh 1874, S 116.
») Vgl. H. HoLTZMANN ZwTh 1877, S 205 f.
*) RiTscHL, Altkath. Kirche, S 593. Mangold bei Bleek S 502. Schölten S 43 f.
") Hofmann V, S 28 f, 32 f. H. Holtzmann, Pastoralbricfe S 261 f.
II. Kap. : Die Vorgeschichte des Kanons. 4. Die späteren apost. Väter. 125
Bekenntniss zur Rechtfertigungslehre (1, 3). Auch werden die Phi-
hpper ähnlich wie die Korinther des Clem. Rom. auf Schriftliches
verwiesen, das sie von Pls erhalten haben (3, 2). Das hängt damit
zusammen, dass der Brief bereits das katholische BedĂĽrfniss kennt,
TTjV [laTatĂ–TYjTa twv tcoXXwv xai Ta<; (jjso^oĂ–LĂ–aaxaXiac zu verlassen und
TÖv £^ ^PX'')'^ %t;v TüapaSo^svTa Xöyov endgültig zu behaupten (7, 2).
Worte Jesu, wie er solche dreimal anführt, weisen das herkömmliche
Uebergewicht von Mt auf, wobei jedoch auch Lc mitanklingt. Ein-
mal (2, 3) tritt eine solche Combination in einer Form auf (afpiers
xal a/LBd-rpsxoLi o[itv, iXsäis Iva sXsYj^fjis), welche nur indirect auf Lc
6, 36. 37 = Mt 7, 1, direct aber auf Clem. Rom. 13, 2 (sXsäis tva
IXsYjö-f^TS, arpiBZB, iva a^psd-'q ()[xlv) zurückweist ^), wie denn durchgehende
Abhängigkeit von diesem Schriftstück ausser Zweifel steht ^); selbst
den Hermas scheint unser Briefsteller gekannt zu haben ^). Er steht
mit Einem Worte zum Kanon gerade so wie der Verfasser der
Ignatianen-, alle Differenzen sind zufölliger und unwesentlicher Na-
tur, und daran ändert auch die Stellung zu Job nichts.
Anhangsweise sind den späteren apostoHschen Vätern die Testamente der
12 Patriarchen und die Fragmente Hegesipp's beizuordnen. Aber jene — ein
ursprünghch jüdisches Buch — bieten die zahlreichen Anklänge an Plsbriefe
(mit Einschluss von 2 The und 1 Tim), auch wohl an Jac, Hbr und Apc, nur
in der katholischen Interpolation, welcher ohne Zweifel auch die im vaticanischen
Codex und in der armenischen Uebersetzung fehlende Stelle Ăźenj. 11 an-
gehört, wo Pls als SV ßtßXoti; xulc, ä'(laiq avaYpoKpojxsvo«;, d. h. die Apostel-
geschichte kanonisirt erscheint"*). Hegesippus, welcher zur Zeit des römischen
Bischofs Eleutherus (175 — 189) 5 Bücher ü7ro]jLVYjjjia'ca geschrieben hat, reiste um
155 aus seiner morgenländischen Heimath nach Rom und spürte dabei in allen
Gemeinden, die er berührte, der unverfälschten Tradition nach. Er fand, dass
Ev kv.ä'zx'Q Zia^jO'jrJj xrxl £v exaar/^ tcoXsi oütux; zjs', ux; o v6^o<; XYjpucjasi xal ol Kpo-
cpYjtai v.a\ b xopioi; (Euseb. KG IV, 22, 3). Coordinirt also erscheinen noch das
AT (6 vofxo«; y.al ol TcpocpTjtat wie Mt 7, 12. Rm 3, 21) und „der Herr". Die-
selben Autoritäten, auf welchen der von Hegesipp in Korinth gesuchte und
auch gefundene opö-o? \ö'(o<; beruhte (Euseb. KG IV, 22, 2), begegneten uns
schon bei Clemens, dessen Brief Hegesipp in Korinth kennen lernte (IV, 22, 1).
Auch die Art, wie er vom Ispo? xuiv ocTrooxoXuiv /opo? spricht, vorausgesetzt, dass
die Worte ihm und nicht erst dem Eusebius (KG HI, 32, 8) angehören, ist im
') Zahn S 603 f; vgl. Schölten, Das paul. Evglm S 2.
'') Harnack, Patr. ap. I, 1, S XXIV f. Zahn, Ign. S 616 f.
»j Zahn S 620 f.
") VoRSTMANN, De testamentorum XII patriarcharum origine et pretio 1857,
S 113 f. Sinker, Tostamenta XII patriarcharum. Appendix 1879, S 7, 27, 59;
dazu A. Harnack, ThLz 1879, S 515. F. Schnapp, Die Testamente der 12 Patri-
archen 1884; dazu Vorstmann Th T 1885, S 426 f. Schürkr, Geschichte de»
jĂĽdischen Volkes II, 1886, S 666.
126 Geschichte des Kanons.
Geiste der kath. Kirche (ĂĽberdies neben Eph 3, 5 verfrĂĽhtes Beispiel der erst
seit dem 3. Jahrh. üblicher werdenden Bezeichnung der Apostel als „Heihger";
vorher sind sie „die guten" oder auch „die seligen Apostel"). Einer weiteren
Grundanschauung der Kirche entspricht in jenen Formeln der Gedanke der
Continuität alt- und neutest. Offenbarung, wie hier auch jüdische und christliche
Häresien eine zusammenhängende Kette bilden (IV, 22, 7)^). Euseb's Angaben,
dass Hegesipp ein geborener Jude aus Palästina gewesen, Mittheilungen ex zob
v-o-d"' eßpaiOD(; süaY^s^ioo ^«^ 'coö ooptavioö, wozu zhrx^'^sXioo zu ergänzen^), ge-
macht und e4 '.ooSa'.x'T]!; «Ypa^oo Tzapahoostuc. geschöpft habe (IV, 22, 8), kenn-
zeichnen ihn speciell als einen „katholisirenden Judenchristen" ^J. Im Uebrigen
spricht 6 xopio? auch fĂĽr ihn schon aus den Evglien. Und zwar hat er zweifels-
ohne Mt und Lc gekannt, welchen er die vaterlose Erzeugung Jesu, die Herodes-
geschichte (Euseb. KG III, 20, 1), das dem Jakobus geliehene Wort Lc 23, 34
(KG II, 23, 16) und den Spruch jJLaxap'.oi ol öcpö-aXfiol 6ji,äjv ot ^XiizovxsQ v.al xä
Sixa ĂĽfxĂĽiv xa av.oDovta (^= Mt 13, 16, nicht Lc 10, 23) entnimmt. So wie
Stephanus Gobarus dieses Wort im 5. Buche des Hegesippus gelesen haben will
(Phot. Bibl. 232), kehrt es allerdings seine Spitze gegen 1 Cor 2, 9 ä otpt^aXjxo?
ohv. siSev v.aX oo? ohv. â– ^xooaev*). Daher auch schon Eusebius eine lola yvwjjlyj
bei Hegesipp gefunden hat (IV, 22, 1), wie bei Papias eine eigene So^oc (m, 39,
13)°). Der Sachverhalt ist ähnlich wie bei Justinus. Auch bei Hegesipp findet
sich Aneignung einzelner AusdrĂĽcke aus Plsbriefen, zumal aus den Pastoral-
briefen*). Gleichwohl sind sie ihm so wenig Autorität, dass er gelegentlich
jenes 1 Cor 2, 9 vorfindliche Wort mit |j,axv]v elp-yj^O-ai xaöxa abweisen kann.
Ebensowenig stimmt es mit den späteren Begriffen vom Kanon, wenn er von
dem Hebräerevglm, wahrscheinlich in seiner aramäischen Gestalt, unbefangenen
und nicht seltenen Gebrauch machte').
Aus der Stellung, welche die apostolischen Väter in der Ge-
schichte des Kanons einnehmen, erhellt, dass sie zwar in einer mit
der fortschreitenden Zeit steigenden Anzahl von Fällen sich mit
NTlichen Schriften berĂĽhren, dies aber in einer an die dogmatische
Weise der späteren Kirche erinnernden Form nur in dem Maasse
thun, als sie selbst in die eigentHche IdrchHche Aera hineinragen.
So durchaus verläuft die Entstehung des Kanons parallel mit der
^) HiLGENFELD, Die Ketzergeschichte des Urchristenthums 1884, S 30 f, 84 f
2) HiLGENFELD ZwTh 1878, S 304. Zahn I, S 348.
^) So vermittelt Keim (Aus dem Urchristenthum S 49) den Streit, ob
Hegesipp Heidenchrist (Ritschl S 266 f, 302 f. A. Harnack, Dogmeng. I, S 224)
oder Judenchrist (Hilgenfeld ZwTh 1876, S 297 f, 309 f j gewesen ist.
*) Versuche, der unmissverständlichen Verwunderung des Berichterstatters
ĂĽber diesen Befund (o5y. ol8' 2xc v.a\ na^cuv) einen anderen Sinn unterzulegen,
bei Tischendorf S 19 f. Nösgen ZKG II, S 229 f. Weizsäcker RE, 2. Afl V,
1879, S 699: es handle sich um die Lehre einer gnostischen Partei (xou? xaöxa
«pafxevou?). Das Richtige bei Baur, Paulus I, S 253 f. Hilgenfeld ZwTh 1876.
S 203 f; Ketzergeschichte S 33 f. "
^) Hilgenfeld ZwTh 1878, S 309, 320.
®) H. Holtzmann, Die Pastoralbriefe S 263.
') Hilgenfeld S 304 f.
n. Kap. : Die Vorgeschichte des Kanons. 4. Die späteren apost. Väter. 127
Entstehung der kathol. Kirche; sobald diese consolidirt ist, aber
nicht früher, lässt sich auch der Kern unseres NTlichen Kanons
nachweisen. Vorher waren die Ansätze zur Bildung eines solchen
an verschiedenen Orten verschieden, und wir dĂĽrfen auch in der
werdenden Kirche keineswegs sofort das Bestehen und allmähge
Anwachsen einer einzigen Sammlung voraussetzen. Nur die An-
nahme einer ursprĂĽnghchen Mannigfaltigkeit von Versuchen, welche
aber allmälig eine gewisse Gleichmässigkeit erkennen lassen, ent-
spricht der ganzen Geschichte der damahgen Kirche und insbesondere
dem Verhältnisse der Sonderketten, an welchen bald pauHnische,
bald judenchristKche, bald sonstwie eigenthĂĽmhch geartete Gemein-
den angereiht waren, untereinander ^). Am häufigsten citirt werden
daher Stellen aus den synopt. Evglien, zumal Mt, einerseits und den
Plsbriefen andererseits. Aber theils die lokale Trennung der Ge-
meinden und Personen, theils auch die sich widerstrebenden Inter-
essen der Parteien machten es unmöglich, dass die aus der Urzeit
erhaltenen Schriften sofort zu einer Sammlung sich zusammenfanden.
Dazu kam noch , dass die einzelnen Volksldrchen sich zunächst in
zu grosser Unabhängigkeit gegenüber standen, um es rasch zu einem
einheitUchen Kanon zu bringen. Die ganze weitere Geschichte wird
den Beweis dafĂĽr liefern. Die Zweifel der Folgezeit an der Echt-
heit so vieler Bestandtheile des Kanons, die weitgehenden Differenzen
der ersten Ansätze zum Kanon, die in irgend welchem Maasse von
der Kritik anerkannten Fälle von Unterschiebungen — Alles wäre
eine einzige Unmöglichkeit gewesen, wenn die an die apostolische
Zeit angrenzende Epoche bereits einen festen Bestand von aposto-
Hscher Literatur gekannt hätte. Für eine der Bildung der kathol.
Kirche sich erst noch entgegenbewegende Christenheit war vielmehr
(las AT, mit dessen Inhalt man sich auf dem Wege der allegori-
schen Interpretation zurechtfand, die oberste dogmatische Autorität,
das ausschliessHch apologetische Beweismittel. Ihm reihte sich zu-
nächst das mündlich überHeferte Hermwort an. Er selbst ist per-
sönlich die neue Autorität, welche den alttest. Schriften ergänzend
und vollendend zur Seite tritt. Daher die Eolle , welche die XöYia
xoptaxd bei Papias spielen, daher Berufung auf ta Xo'^ia (toö) xopioo
bei Polykarp (7, 1) und Irenäus (I, praef.); daher ol toö awrfjpoc
Yjjxwv X6'(oi noch bei Ptolemäus (Epiph. Haer. 33, 3); daher die
(Koordination von Propheten und Aposteln (2 Pe 3, 2) bei Justin
V) C. Weizsäcker JdTh 1868, S 525. Westcott S 3 f. H. Holtzmann,
Die Pastoralbriefe S 279.
128 Geschichte des Kanons.
(Apol. I, 67) und Ignatius (Philad. 9, 1); daher die Norm xa^w?
aoTÖ? svBX£ikoLzo %al Ol Bmy(Bki(5a.\L£voi TjjJLä? aizooioXoi -/.cd ol jupo^-^iat
bei Polykarp (6, 3) mit ihrer Kehrseite bei Irenäus (I, 8, 1 odts
Tzpoff^T'Xi sxTJpo^av , ooTS 6 %bpiOQ s§t§a|sv, ' 0üT£ a.'KO'^zokoi 7rap£5a)y.av) ;
daher die Nebeneinanderstellung von 6 v6\).o<; %al ol Tupo'ffjTai v.aX 6
xupioc bei Hegesipp (Euseb. KG IV, 22, 3; vgl. auch Stephanus
Gobarus bei Photius, Bit)l. 232 twv ts ^eiwv Ypa'fwv xal toö xuptoo
XsYovTog). Eben dieses aoröc s'fa, welches gleichsam das Formal-
princip der ältesten Christenheit bildete, Hess den Herrn und Meister
derselben um so mehr im Lichte eines neuen Gesetzgebers erscheinen,
da er zugleich dem alttest. vöfioc; als gleichartige, wiewohl überlegene
Autorität zur Seite trat; daher bei Hermas der Ausdruck 6 vöjxoc;
^sob 6 SoO-eic sk oXov töv zöa|xov synonym mit 6 mbc toö -O-soö (Sim.
"Vlli, 3, 2), sofern dieser vorbildlicher Knecht Gottes ist (Sim. V,
2, 2 f.) ; daher bei Justin die Bezeichnung Christi als xaivöc; vö|iO(;,
ja als aicövioc xal TsXsoraioc vö{xo<; (Dial. 11. 43). In ähnlichem Sinne
ist er bei Ignatius (Eph. 3, 2) die Willensmeinung des Vaters
(Yva){iy] TOÖ TraTpöc), und auch der Ausdruck X6^o<; d-sob (Magn. 8, 2)
hat zuerst in dieser Richtung populäres Verständniss gefunden
(Apc 19, 13). So heisst er in der Praedicatio Petri (nach Clem.
Str. I, 29, 182. H, 15, 68) vö[iO(; xai Xöyoc, und das am Ende der
Tage von Zion ausgehende Gesetz deutet auch noch der alexandri-
nische Clemens (Str. VH, 3, 16; vgl. auch Ecl. pr. 58) auf den
persönlichen Christus. Nun war aber der in Christus persönlich
vorhandene \6^(oq und ^^oiloq der Kirche in Gestalt vieler einzelner
Worte von ihm ĂĽberliefert worden; von diesen ist jedes wieder fĂĽr
sich ein vöjio^ xai 'kQ^(0(; so sehr, dass namentlich auch die als Herrn-
sprüche überlieferten christl. Sittenregeln (SiSaY|xaTa toö XpicjToö) unter
den Begriif einer von Christus gegebenen Kirchenordnung fallen,
als xavövsc sxxXvjcjLacjTaoi aufgefasst werden (vgl. ^idayri 1 — 6). üeber-
liefert und verbĂĽrgt aber sind sie durch die Apostel (SiSa^Tj xoptoo
§ta Twv tß' otTrooTöXcov) so gut wie die übrigen Erinnerungen an
Christus (toc a7ro{jLVY]{xov£6|xaTa twv aTuoaTöXwv). Auch die obigen For-
meln lassen ihm nicht blos die „Propheten" als Vertreter der voran-
gehenden alttest. Offenbarung, sondern auch die nachfolgenden
Apostel zur Seite treten. Nunmehr brauchte eine solche ITeber-
lieferung und VerbĂĽrgung nur noch, um ihre Sicherheit und Zu-
verlässigkeit festzustellen, als schriftlich durch die Apostel, die be-
rufenen Augenzeugen, erfolgt vorgestellt zu werden, um sofort das
Ansehen der X6^(iOL auch auf die Schriften, darin sie verzeichnet sind,
zu ĂĽl)ertragen, selbst wenn sie wie Mr und Lc ausnahmsweise nicht
II. Kap.: Die Vorgeschichte des Kanons. 5. Die späteren Apologeten. 129
als direct von Aposteln herrĂĽhrend galten. In diesem Sinne setzt
erstmalig Dionysius von Korinth (bei Euseb. KG IV, 23, 12) xop'.a-
zai Ypa'fat aller anderweitigen Literatur (raic ou zoiabzcnK;) entgegen,
und bald darauf erscheint derselbe Ausdruck bei Irenäus (11, 35, 4.
V, 20, 2 scripturae dominicae) und beim alexandrinischen Clemens
(Str. Vn, 1 und 16) — also noch die alte Position, aber durchweg
„Herrnschriften" statt „Herrnsprüche". Ja der Ausdruck Xö-jfta
xoptaxa selbst bezeichnet scbon bei Irenäus (I, 8, 1) prophetische
me apostolische Schriftworte, sowie später Eusebius (Vita Const.
4, 34) xa ^sÖTüvsoata XöYta kennt und beispielsweise die erzählende
SteUe Act 12, 23 als ein Xö^tov einführt (KGH, 10, 1)').
6. Die späteren Apologeten.
Noch mit Justin in Rom zusammen war Tatian, der, gleich
jenem durch Lesung alttest. Schriften , in denen er OrakelsprĂĽche
verehrt (Or. 12, 6. 15, 11), zum Christenthum bekehrt (29, 2), um
150 — 160 seine Apologie (Xoyoc 7:^0? ^'EXkrfjac;) abfasste, worin er
Paulinisches nur ganz leise und unbestimmt (11. 6. 20, 6. 27, 1 =
Rm 7, 14. 1 Cor 15, 53. 54. Tit 1, 12), Synoptisches deuthcher
streift (30, 3. 32, 4 = Mt 13, 44. Lc 6, 25), während der jolian-
neische Prolog schon als Autorität citirt wird (5, 1. 13, 2. 19, 11).
Synoptisches und Paulinisches (incl. Tit) bieten auch die Fragmente
aus seiner Hinterlassenschaft. Der Periode des erst werdenden
Kanons gehört er aber schon desshalb an, weil er einerseits die
Plsbriefe durch stilistische NachhĂĽlfe lesbarer zu machen versuchte
(S 28), andererseits die Evghen, deren Urheber er ĂĽbrigens niemals
mit Namen citirt, in ein neues Werk (soaYYsXiov Sia Tsaaapwv) zu-
sammenarbeitete, dabei mit grosser Unbefangenheit veränderte, ver-
kürzte und zuweilen auch mit fremdartigen Zusätzen erweitei*te, wie
aus dem 360 — 370 verfassten Commentar des Ephraem zu der
syrischen Uebersetzung des Diatessaron, welcher sich annenisch er-
halten hat, hervorgeht ^).
Melito von Sardes, welcher ĂĽbrigens in der kathol. Kirche noch
als Prophet galt (Hieron. Cat. 24), stellt um 170 einen Katalog
alttest. Schriften fĂĽr einen gewissen Onesimus auf, welchem die
*) Vgl. Harnack, Dogmengeschichte I, S. 108 f.
*'') Evangelii concordantis exjxjsitio facta a S. Epliraemo doctore Syro, in
latiiium translata a Aucher, cujus vcrsioneni eniendavit Mösinger 1876; vgl. dazu
Zahn, Forschungen 1. A. Harnack, Texte und Untersuch. I, 1 und 2, S 196 f,
213 f. HiLGENFELD ZwTh 1883, S 112 f; Ketzergeschichte S 386 f, 393 f.
Dräseke, Der Brief an Diognetos S 102 f (JprTh 1881, S 445 f).
Holtzmsnn, Einleitang. 2. Auflago. ^
;[30 Geschichte des Kanons.
sxXoYal £X Toö vöjioo %at twv Tupo^pYjTwv Tuepl toö awr-^poc >cal TzdariQ
zfiQ TĂĽbrewc fj{JLĂĽ)v, wie sie Melito in 6 BĂĽchern zusammenstellte, noch
als schriftliche E-eKgionsunterlage genĂĽgt zu haben scheinen (Euseb.
KGr IV, 26, 13). Dass Melito aber sie xd nakaioL ĂźiĂźXia oder
(26, 14) td T-^c TraXaiä? §ia^rjZ7]C ßtßXia nennt, sieht allerdings so
aus, als ob ihm der entsprechende Begriff einer neutest. Sammlung
auch bereits erschwinglich gewesen wäre. Mit Bestimmtheit ist ihm,
dem Ohiliasten, wenigstens Bekanntschaft mit Apc, worĂĽber er sogar
geschrieben hat, zuzuschreiben (26, 2). Noch 20 Jahre später
redet ein antimontanistischer Schriftsteller bei Eusebius (KGY, 17, 3)
von alten und neuen Propheten, indem er zu letzteren Agabus,
Judas, Silas, die Philippustöchter, Ammia und Quadratus rechnet.
So lange ungefähr vermochte sich also das die Bildung eines neu-
test. Kanons aufhaltende, angeblich urapostolische, Dogma zu er-
erhalten Ssiv slvai tö Trpo^Tj'cixov )(dpia[i.a Iv Tcdaij] t*^ sxvtXyjato^ l^^X?^
zf^Q TsXsiac Trapooaia? (17, 4). Von jetzt ab wird dagegen immer
ausschliesshcher Alles, was als christlich gelten darf, auf Apostolicität
im Sinne eines historischen ĂĽrtheils zurĂĽckgefĂĽhrt. In demselben
Maasse, wie der Prozess der damit zusammenhängenden Kanonbildung
voranschritt, mussten daher alle AnsprĂĽche, welche sich etwa noch
aus einer allgemeinen Geistesbegabung herleiteten, erlöschen. Daher
der kirchliche Sprachgebrauch bald nur noch Propheten des AT
kennt, welche mit den Aposteln (jetzt auch nur noch in dem enge-
ren Sinne) des NT die inspirirten Urheber kanonischer Schriften
bilden.
Den Uebergang illustrirt Athenagoras (177), wenn er, gleich
Justin, als neutest. Wahrheit nur gelten lässt, was aus dem AT zu
erweisen ist (Leg. 7), gleichwohl aber neben einigen Sentenzen aus
der Bergpredigt im Gegensatze zu Justin verschiedene Plsstellen
citirt und insonderheit 1 Cor 15 als apostolisches Document werthet
(De resurr. 4. 12. 16. 18. 19). Uebrigens nennt auch er bei seinen
Evghencitaten weder Schrifttitel noch Autornamen, so dass als Sub-
ject seiner Formel 'frpi Christus selbst gedacht werden kann ').
Dagegen betrachtet ApoUinaris von Hierapolis (um 180) die einzel-
nen Evglien bereits als ein solidarisches Ganzes, darin Mt und Joh
nicht miteinander in Streit liegen dĂĽrfen (Chron. pasch, ed. Dindorf
I, S 14).
Wenn die von ihm bekämpfte Partei die Gewähr für ihre
Passahpraxis bei Mt suchte, so nennt dafĂĽr Theophilus von An-
') Dräseke, Der Brief an Diognetos S 104 f.
II. Kap. : Die Vorgeschichte des Kanons. 5. Die späteren Apologeten. 131
tiochia den Apostel Johannes als Verfasser des 4. Evglms (ad
Autol. 2, 22) — das erste Beispiel namentlicher Aufführung eines
EvangeKsten. Ueberhaupt Uefert dieser 180 — 81 schreibende Apolo-
get erstmahg ein direktes Zeugniss fĂĽr das Ansehen neutest. BĂĽcher,
wiewohl die Benutzung der letzteren im Vergleiche mit der Menge
alttest. Citate auffallend spärlich erscheint ^). Auch der mit -O-sta
Ypa^Tj (2, 10. 18), tepa Ypd{j.{i.aTa (3, 26) gleichwerthige Ausdruck
aYLai Ypa^at gilt gelegentlich (2, 22) noch dem AT ausschhessHch.
DafĂĽr citirt er mit der Formel 6 d-eloQ X6^o<; xeXeusL (3, 14) neben
Jes 66, 5 auch Mt 5, 44. 46. 6, 3. Em 13, 7. 8 (1 Tim 2, 1 f).
Tit 3, 1, und die EvangeHsten sind nicht minder 7rv£0[j.aTo^^öpoi als
die Propheten (2, 9. 22. 3, 12); '^ soaYYsXio? «pwvyj ist ein a-^ioQ
Xo-^OQ (3, 13). Ausserdem hat er gegen Hermogenes von Apc Ge-
brauch gemacht (Euseb. KG IV, 24, 1) und wenigstens nach Hie-
ronymus (Cat. 25) commentarii in Evangelium, d. h. eine Erklärung
der kirchl. Evgliensammlung in einem einheitlichen Werke, verfasst
(Epist. 121 ad Algasiam: quatuor evangelistarum in unum opus
dicta compingens) ^).
Der Brief an Diognet lässt die paulinische Gedankenwelt mehr
als irgend eine andere apologetische Schrift hervortreten. PauU-
iiische und johanneische Elemente begegnen am häufigsten^'). Aber
eine wirkhche Gleichstellung der Evghen (er kennt Mt und Joh) und
der Briefe (Rm, Phl, 2 Cor, 1 Tim, 1 Pe, 1 Joh) mit Gesetz und
Propheten begegnet erst in den beiden beigefĂĽgten Schlusskapiteln
(11 und 12). Was vorhergeht dĂĽrfte dem Briefe auch nach seiner
Stellung zur Geschichte des Kanons eine Entstehungszeit etwa um
180 anweisen*). Zweifelhaft bleibt auch die Zeit des mit einem
paulinischen Citat beginnenden AiaaopjJLĂ–g des Hermias.
^) Dräseke S 106 f. A. Harnack, Dogmengesch. I, S 285, erkennt ihm
den neutest. Kanon sogar uocli ab wegen des mangelnden Kriteriums der Apo-
stolicität.
*) Zahn II, S 86 f. III, S 198 f will eine Uebersetzung dieses Evglien-
Commentars in einer theils unter dem Namen eines alexandrinischen Theophilus,
theils anonym ĂĽberlieferten Compilation aus lateinischen Exegeten wie Hilarius,
Aml)rosius, Hieronymus wieder entdeckt hal)en, worin er Nachfolge fand bei Pitra.
Analecta sacra spicilegio Solesmensi parata U, 1884, S 624 f. Vgl. dagegen A.
Harnack, Texte und Unters. I, 4, S 97 f.
») Otto ZhTh 1841, 2, S 80 f. 1842, 2, S 54 f. 1843, 1, S 43 f.
Dräseke S 2. Doch vgl. Luthardt, Der johanneische Ursprung S 37: „Wie
selten in Form des eigentlichen Citats!"
*) HiLGEN^'ELi), Hase, Schölten, Keim, Lipsiüs, Gass, Dräseke S 99 f,
116 f. Vgl. A. Harnack, Patr ap I, 2, S 151 f.
9*
132 Geschichte des Kanons.
Minucius Felix vermeidet ĂĽberhaupt wirkliche Bibelcitate, ver-
räth übrigens Kenntniss von Act, Pls- und Petrusbriefen. Verhält-
nissmässig stärkste Benutzung erfahren die dem Verfasser zeitlich
und örtlich nächstgelegenen Schriften — also gerade solche, die zu
den jüngeren und jüngsten in der neutest. Sammlung gehören, aber
wahrscheinlich in Rom entstanden sind^).
Spätere Apologeten, zumal Origenes, haben es hauptsächlich
mit dem gi'ossen Christenfeind Celsus zu thun, welcher um 176 — 180
schrieb^). Sehie Angriffe auf das Christenthum (im 'AXTj^Yjt; ^öyog)
basiren theils auf mĂĽndlichem Bericht, welchem er sogar nicht wenige
pauKnische Schlagworte, die sich bei ihm finden, entnommen haben
könnte, theils aber und vorzugsweise auf seiner Leetüre christhcher
Schriften (Orig. Geis. 2, 74). Unter diesen erwähnt er ausdrücklich
Erzählungen und Erdichtungen der Schüler Jesu (1, 68. 2, 13. 56),
welche sich freilich mehrfach widersprechen sollen (5, 52). Die
Christen hätten „das Evglm" vierfach und vielfach umgebildet").
Diese ganze Literatur beruht ihm auf freier Variation einer TcpwTYj
YpatpiQ, wobei er die kanonisch gewordenen Evglien noch nicht von
den stammverwandten apokryphischen unterscheidet, wie fĂĽr ihn
ĂĽberhaupt keine officieUe Literatur der Kirche, kein neutest. Kanon
neben dem AT existirt. Aber fast Alles, was er von historischem
Stoffe berĂĽhrt, findet sich, wie schon Origenes sah (1, 40. 70), in
unseren Evglien, zumal den synoptischen. Bei der Taufe aber erschallt
die Stimme Ps 2, 7 (1, 48), was mit dem 4. Evglm des Justin
(Dial 88. 108) stimmt. Werden aber auch gnostische und jĂĽdische
Schriften benutzt ^)y so doch bei Weitem nicht in dem Umfange der
kanonischen ^).
Aus der Acten- und Märtyrerliteratur können die Acta Pilati, welche
sämmtliche Evglien (incl. Mr 16, 9 — 20) zu einem Ganzen zusammenarbeiten®),
») Dräseke S 107 f. 115.
^) Spätere Datirung bei Volkmar, Ursprung S 80. Supern, rel. 6 Asg
II, S 235 f, Vgl. dagegen Keim, Celsus wahres Wort S 275 f. lieber des Celsus
Stellung zum Kanon ĂĽberhaupt ebend. S 219 f; Geschichte Jesu, 3. Bearbtg
2. Afl, S 375 f. AĂĽBE, Les persecutions de l'eglise. La polemique paienne S 208,
216 f, 221 f, 236 f.
^) Die Ausdrücke |i~xa/apaTt£tv, [texa^XaTtsiv erklärt Keim S 225 aus der
Fabrikarbeit der Gnostiker, Westcott S 405 aus Bekanntschaft mit dem eben
zur Vierzahl aufsteigenden Cyklus anerkannter Evglienschriften. Etwas schwie-
riger liegt die Sache bezĂĽglich Joh, und ganz unsicher sind Spuren von Act und
Apc. Vgl. Keim S 225. Aube S 237.
*) AuBii: S 231 f.
") Keim S 227, 230 f.
«) Lipsiüs, Die Pilatus-Acten 2. AU 1886, S 3.
n. Kap.: Die Vorgeschichte des Kanons. 6, Die Grnostiker. 133
trotz der Citate bei Justin Apol I, 35. 48 nicht in Betracht kommen, weil ihr
jetziger Text erst dem 4. oder 5. Jahrh. angehört; die Passio Polycarpi mit
ihren häufigen Berufungen auf Plsbriefe und Anklängen an Apc, Col, Hbr
darum nicht, weil sie wohl in die Mitte des 3. Jahrh. weist i). Dagegen citirt
das 177 entstandene Schreiben der Gemeinden von Lugdunum und Vienna
(Euseb. KG V, 1 und 2) bereits zahlreiche Stellen aus Pls, Lc, Act und wendet
förmHche Citationsformeln au bei Joh 16, 2 (als Herrn wort V, 1, 15) und Apc
22, 11 (iva ^1 YP^^'f**! ^^"^Ipw^Tj V, 1, 58). Die Acta martyrum Scillitanorum (ed.
Usener 1881) endlich bieten in der am 17. Juli 180 gehaltenen Rede des Spe-
ratus die Formel at xaO-' Tj|xä<; ß'lßXo'. y.al vi Tirpö? Ik\ zoozoiq sicioToXal [laöXoo
ZOO öo'lou ävi5p6?, was die lateinische Umarbeitung wohl sachlich richtig auf
Evglien und Plsbriefe deutet, ohne jedoch die im griechischen Ausdrucke liegende
Neuheit des Hinzutrittes der letzteren wiederzugeben^).
6. Di e Gnostiker.
Die bisher beschriebene Entwicklung mĂĽndet aber wie in der Kirche, so
andererseits in der Häresie der Gnosis aus. Letztere ist an der Bildungsgeschichte
des Kanons um so mehr betheiligt, als sie schon ein Moment in der Entstehungs-
geschichte der neutest. Literatur selbst darstellt. In dieser wiegt zwar noch
das schöpferisch religiöse Element allenthalben vor, daneben aber machen sich in
steigender Anzahl Elemente eines Begriffsapparates geltend, wie er die Theologie
imd Metaphysik der Zeit kennzeichnet. Daher schon in den Plsbriefen eine mit
Mitteln rabbinischer Dialektik und Schriftgelehrsamkeit auferbaute Gnosis vom
Sohne Gottes, der nach dem Fleisch am Kreuze als SĂĽhnopfer stirbt, um nach
dem Geiste zum Abbilde der Herrlichkeit Gottes in verklärter Menschengestalt
aufzuleben und die Herrschaft über eine aus allen Völkern gesammelte Gemeinde
anzutreten. Hilfsbegriffe, die aus Philo's Schule stammen, leiten in Hbr ver-
wandte Ideengänge einem ähnlichen Ziele entgegen. Aber schon die alexandri-
nische Weisheit selbst, die sich in diesem Briefe und im 4. Evglm erstmalig
dem Christenthume unter- und einordnet, beruhte auf der gleichen Combination
griechischer Reflexion und orientalischer Intuition, auf der gleichen Verbindung
europäischer Philosophie und asiatischer Mythologie, wie auch die spätere Gnosis.
Denn bei dieser war die phantasiemässige Einkleidung das semitische Element,
l)ezogen aus Judenthum und Urchristenthum. Der metaphysische Kern selbst, die
Auffassung der Wirklichkeit als eines Abfalls von der Idee, der Materie als einer
widergöttlichen Existenz, der Leiblichkeit als eines Kerkers der Seele, die Schei-
dung der Menschen in Fleisches-, Seelen- und Geistesmensche i und Aehnliches
stammt direkt aus der griechischen Pliilosophie. Wie aber die Verbindung der
letzteren mit orientalischer Cultusweisheit im Geiste jener Zeit ĂĽberhaupt lag,
so hätten sich auch die gnostischen Systeme nie zu einem solchen bunt schillern-
den Reichthum unĂĽbersehbarer Variationen entfaltet, wenn nicht neben der plato-
nischen Idcenlchre, dem stoischen Pantheismus und der pythagoreischen Zahlen-
weit auch die mehr oder weniger dualistisch gefärbte Theosophie der vorder-
asiatischen, syrischen und selbst persischen Religionssystemo mit gewissen
religiösen Motiven uud Gedanken des Christenthums Verbindung gesucht hätten.
Alle diese verschiedenartigen Schulen fcjlgten nun aber nicht minder dem eigenen
>) H. HOLTZMANN ZwTh 1877, S 209 f, 214.
«) A. Harnack ThLz 1882, S 3. Hilgenfeld ZwTh 1881, S 383. F.
GÖRRES JprTh 1884, S 25» f.
134 Geschichte des Kanons.
Geschmack und Instinkt, als auch der Theorie und Mode der ganzen Zeit, wenn
sie die phantastisch-tiefsinnigen Auslegungen des Welträthsels , darin sie sich
gegenseitig überboten, zugleich als Deutungen höiHger Ueberlieferungen und
Schriften einfĂĽhrten. Da aber bei ihnen das AT bald ganz, bald theilweise als
ein Werk des untergeordneten Demiurgen galt, konnten es nur neuere, christ-
liche Autoritäten sein, als deren Dollmetscher die gnostischen Schulhäupter auf-
traten. Hier war freilich die Auswahl nicht schwer, sofern die neutest. Schrift-
steller späteren Datums selbst schon Stellung zur Gnosis nehmen. Mit Bewusst-
sein thut dies zuerst der Autor ad Ephesios, indem er zugleich das gnostische
Element im Paulinismus weiter bildet und dem gesteigerten BedĂĽrfniss nach
solcher Wissenschaft entgegenkommt. Einfach und energisch abwehrend verfahren
dagegen die Pastoralbriefe wider die '{vöiaic, (];eo8a)Vü[i-0(; (1 Tim 6, 20); ihnen
schliessen sich Jud, 2 Pe und 1 Joh an, während das gleichfalls hierhergehörige
4. Evglm mehr die Linie von Eph einhält. Der johanneische Prolog hat mit
der Gnosis wenigstens dies gemein, dass er eine Lösung des Räthsels des Daseins
andeuten, das Geheimniss der Entstehung aller Dinge beleuchten, namentlich
aber auch die Aufgabe und Stellung des Menschen in der Welt erklären will.
Beide Schriften (Eph und Joh) sind jedenfalls schon ganz durch die Zeitnähe
der Gnosis bedingt. Die falsche Gnosis, wie sie Idee (Christus) und Geschichte
(Jesus) auseinanderriss und durch Beschränkung der Erlösung auf die Pneu-
matiker den Gemeindeglauben zersetzte, wollen jene christl. Schriften in dop-
pelter Weise unschädlich machen: einmal dadurch, dass aus der gnostischen
Gedankenwelt Aufnahme findet, was sich mit jenem Gemeinglauben verträgt, was
ihm zur UnterstĂĽtzung und Empfehlung gereicht; zweitens aber auch dadurch,
dass die Gnosis aus der Sphäre unfruchtbarer, über der Geschichte schwebender
Speculation und müssiger Träumerei auf den Boden der Religion, der Heils-
geschichte und des thätigen Christenthums herabgezogen wird. Bei aller Abwehr
gegen die erst im Anzug begriffene volle Machtentfaltung der Gnosis konnte es
daher doch geschehen, dass die gefeiertsten Häupter der letzteren gerade die in
Eph und Joh gepflegte Begriffswelt mit Vorliebe weiterfĂĽhrten und sich ihrer
Terminologie bedienten.
Einer neuen Sammlung heiliger Schriften bedurfte man da, wo
das AT als Offenbarungsurkunde abgelehnt wurde, noch dringhcher
als da, wo es in Geltung stand. Thatsache ist, dass eine der kirch-
lichen Kanonbildung parallele Erscheinung auf haretisch-gnostischem
Boden auftritt und jener wenigstens auf dem ersten Stadium der
Entwickelung sogar einen Vorsprung abgewinnt. Deuthch erhellt das
formale Princip der Kanonbildung, wie es uns sofort auf kath. Boden
begegnen wird, schon aus den BemĂĽhungen der Gnostiker, ihren Syste-
men apostohsche Sanction zu verschaffen (Tert. Praescr. 23). So wenn
Basilides sei es direct mit Matthias (Philos. 7, 20, vgl. Clem. Str. YII, 17,
108), sei es durch Glaukias mit Petrus, Valentin durch Theodas mit Pls
(Clem. Str. VII, 17, 106), die Ophiten durch Mariamne mit Jakobus
(Philos. 5, 7. 10, 9) sich berühren wollen und Ptolemäus im Briefe an
Flora die apostolischeUeberheferung fĂĽr sich in Anspruch nimmt (Epiph.
Haer. 33, 7 zr^Q aTcoaioXtXTjc TcapaSöaswc v]v sx SiaSo/'^c ^al rj[i3i<; jrapsL-
n. Kap.: Die Vorgeschichte des Kanons. 6. Die Gnostiker. 135
Xvj'f auLÂŁv). Ein Gnostiker ist es aber auch, welchem die erste uns bekannt
gewordene Zusammenstellung neutest. Schriften zugeschrieben wird.
In den ersten Jahren des Bischofs Pius (140 — 155) kam nach
Rom Marcion aus Pontus, um bald Haupt einer dualistischen Schule
zu werden, die kurz vorher Cerdo (Kerdon) daselbst gestiftet hatte (Iren.
I, 27, 1. 2). Während dieser nach Theodoret (Haeret. fab. 1, 24)
Mt 5, 38 — 40. 43. 44 als Gebote des guten Gottes proclamirt haben
soll, lässt ihn Pseudo-Tertulhan (Praescr. haer. 51 == Adv. omn.
haer. 6) einen unvollständigen Lc und Plsbriefe (jedoch neque omnes
neque totas) gebrauchen, Act aber und Apc verwerfen — Angaben,
die allerdings aussehen, wie wenn der Kanon des SchĂĽlers, der sonst
ĂĽber den Meister hinausgeschritten ist, auf Letzteren ĂĽbertragen
wäre. Marcion selbst, dessen Kanon wir aus dem 4. und 5. der
von TertuUian um 205 gegen ihn gerichteten BĂĽcher, aus dem (pseudo-
origenistischen) Dialoge ^pl tf^? d<; ^söv op^-f^c mairsöx; und aus
Epiphanius (Haer. 42) kennen, wies auf Grund von Gal 2 eine
DifFerentia praedicationis zwischen Pls und den Uraposteln nach
(Tert. Marc. 1, 20. 4, 3. 5, 3. Praescr. 23), erachtete es fĂĽr seine
Aufgabe, das von den Letzteren judaisirte Evglm Christi wieder her-
zustellen (Iren. HI, 2, 2. 11, 7. 9. 12, 12) und bediente sich zu
diesem Zwecke theils der Plsbriefe (nach Epiph. 42, 9 in der Ord-
nung Gal, Cor, Rm, The, Laodicener = Eph, Col, Plmi, Phl; Ter-
tuUian stellt die beiden letzten um) mit Ausschluss von Tim, Tit
und Hbr, theils des, in seiner pauhnischen Art gewĂĽrdigten, Lc
(6 aTröoToXo? xai lö soaYYsXiov). Beide Theile seines Kanons emen-
dirte er nach eigenem Ermessen (Iren. I, 27, 2), die Briefe, sofern
i. pseudapostoU nostri et judaici evangelizatores de suo intulerint
(Tert. 5, 19), das Evglm ut interpolatum a protectoribus Judaismi
(4, 4). Demgemäss behaupteten die Schüler, Marcionem non tarn
innovasse regulam separatione legis et evangelii, quam retro adul-
teratam recurasse (Tert. 1, 20), während ihm seit Irenäus (HI, 12, 12)
die Kjrchenväter vorwarfen, die neutest. Schriften theils verfälscht,
theils ignorirt zu haben (vgl. S 29). Zu den in letzterer AVeise
l behandelten Büchern (Tert. De carne Chr. 3) gehört wenigstens das
1. Evglm, da ihm Mt 9, 17 bekannt war (Epiph. Haer. 42, 2).
' Sein SchĂĽler Apelles setzt nach Origenes (Epist. ad charos suos in
Alex.) das purgirende Verfahren seines Meisters fort, indem er aus
; Evglm und Apostel Taapd'^xovra aon]) atpÂŁtxat(Philos. 7, 38); dabei scheint
er bereits einen etwas erweiterten Kanon (Joh ?) zu gebrauchen *).
A. Harnack, De Apelli« j^iiosi monarchica 1874, S 75. Deäseke S 125 f.
HiLGENFELD ZwTh 1875, S 73 f; Ketzergeschichte S 531 f.
136 Geschichte des Kanons.
Der an diesem Beispiele nachweisbare Fortschritt der Kanon-
bildung in häretischen Kreisen ist auch in anderen Fällen, wo
bestimmte Nachrichten nur hinsichtHch späterer Uebung zu Gebote
stehen, mit WahrscheinHchkeit anzunehmen. So schreiben die um
222 entstandenen Philo sophumena (7, 20 — 27. 10, 14) dem Basiüdes
d. h. den occidentalischen Fortbildnern seines Systems ^), eine Menge
von Citaten, wie aus alttest. Schriften, so auch, und zwar mit den-
selben Formeln (xa^üx; '^s'^paizzaij wc Xsys'. i] Tpafpvj, toötö lau zb
eipYjixsvov) eingefĂĽhrt, aus Lc, Job, Rm, Cor, Eph zu. Das entspricht
der gleichzeitigen Praxis der Kirche, während der 100 Jahre früher
blĂĽhende Basihdes selbst nach Agrippa Castor (bei Euseb. KG
IV, 7, 7) sich noch auf die Propheten Barkabbas und Barkoph be-
ruft. Sein Sohn Isidorus hat nach Clemens (Strm. VI, 6, 53) den
Propheten Parchor commentirt. Er selbst scheint bereits (120 — 140)
eine Auslegung zu einem oder einigen der Synoptiker geschrieben,
dagegen Hbr, Tim und Tit verworfen zu haben (nach Hieron. Praef.
in Tit). Ausserdem fĂĽhren Clemens (Str. HI, 1, 1. 2. IV, 12,
81—83), Origenes (in Rm T. V, 5), Epiphanius (Haer. 24, 5) und
die Acta Archelai et Manetis (55) Erklärungen des Basilides,
des Isidorus und der SchĂĽler an, welche Mt 5, 21 f. 27 f. 43 f. 7,
6. 19, 11, 12. Lc 16, 20 f. Rm 7, 7—11. 1 Cor 7, 9 und wohl
auch 1 Pe 4, 14—16 betreffen 2).
Valentinus (später als Basihdes und gleichzeitig mit Marcion)
hat seine Gnosis auf einen angeblichen SchĂĽler des Pls zurĂĽck-
gefĂĽhrt (Clem. Str. VII, 27, 106), also die Schriften des Letzteren
wohl anerkannt, wie sie von seinen SchĂĽlern denn auch in den Philo -
sophumena (6, 29 — 35) fleissig und zwar in correctester Form
(6, 34 Toöiö loTt zb Y£Ypa[i[jL£vov sv z-^ Tpa^p'J mit Bezug auf Eph 3,
14. 16 — 18) citirt werden. Erhaltene Fragmente Valentin' s argu-
menth-en auch aus Mt ^). Die Notiz des Can. Mur. Valentini nihil
in totum recipimus weist ĂĽberdies auf eigene Schulschriften, wie
*) Dass das cpYjOtv, womit die Citate des Basilides und des Valentinus
eingetührt werden, nichts für die Stifter der Schulen selbst beweist (npAtov tj'eöSo?
von TiacHENDORP, HoFSTEDE, Westcott, Hort u. A.), erhellt schon daraus, dass
es mit Pluralen wechselt, als deren Subject der jeweils Betreffende und seine
Schule bezeichnet werden (z. B. gleich 6, 29), und dass dasselbe cpYjaiv auch in
den Abschnitten ĂĽber Secten wie die Naassener und Beraten wiederkehrt. Bei-
spielsweise wird die noch zu erwähnende ocitocpaot? jxsy«^*^ der späteren Simo-
nianer mit Xi^ti U 6 Stjxwv oder (p-rjoi angefĂĽhrt. Anerkannt von Luthardt
S 85 f, 89. Salmon S 69 f, 73.
») HiLGENFELD, Kctzergeschichtc S 207, 213 f.
») HiLGENFELD S 293 f, 296 f; Vgl. auch ZwTh 1881, S 229.
n. Kap. : Die Vorgeschichte des Kanons, 6. Die Gnostiker. 137
Tertullian solche anfĂĽhrt, als Sophia (Adv. Valent. 2) und Psalmi
(De carne Chr. 17. 20; vgl. Philos. 6, 37). In einer Homilie Trspi
'fiXwv (Clem Str VI, 6, 52) scheint er jedwede äussere Schrift-
autorität zu Gunsten eines innerlichen Gesetzes (Rm 2, 15) ab-
gelehnt zu haben : TzokXa twv '^Byp'x\L\LByw^ Iv rat? §Tj{xoaiai<; ßißXotc;
soptaxeiai y*TP^[^I^v^ ^^ ^Xi s'^^^^X'/jaic^ xoö O-eoö, m yap xeva (xotva?)
raötd eoTt ra aizb TcapSiag pTJixara, yö{JLO(; 6 YpaTTTÖ«; sv zapöio^ i). Aber
schon dem Irenäus repräsentirt sich der Valentinianismus vornehm-
hch in den Zeitgenossen Marcus und Ptolemäus, und die gegen ihn
erhobenen Beschuldigungen betreffen, abgesehen von der gelegent-
hchen Erwähnung vieler Apokryphen (I, 20, 1), zumal einer Ver-
mehrung der Evglien durch ein selbsterfundenes Evangelium veritatis
(m, 11, 9), nur falsche Auslegung der Schrift (HI, 12, 12). Die
56 neutest. Citate, welche sich in des alexandrinischen Clemens Aus-
zĂĽgen aus den Schriften der ihm gleichzeitigen anatolischen Schule
Valentin's finden, beweisen wirklich, wie eifrig und allseitig damals
das NT von der Gnosis studirt (Mt, Lc, Job, Em, 1 Cor, Gal,
Eph, Phl, Col) 2), aber auch mit welcher selbstherrlichen Freiheit
seine Textform behandelt, sein Gedankengehalt ausgebeutet wurde.
Andererseits benutzen Vertreter der italischen Schule wie Ptolemäus
(Epiph. Haer. 33, 3; vgl. Iren. I, 8, 2. 5) und Herakleon, von
dessen Johannes-Commentar Clemens und Origenes BruchstĂĽcke be-
wahrt haben ^), bereits das 4. Evglm mit Auszeichnung (Iren. IH,
11, 7). Daher Tertullian's Votum ĂĽber Valentin: integro instrumento
uti videtur (Praescr. haer. 38; vgl. 17). Wenn den Valentinianern
die kath. Briefe (mit Ausnahme von 1 Job), die kleineren Plsbriefe
(The, Phm, 1 Tim) und Apc unbekannt geblieben zu sein scheinen,
so steht ja um 200 auch der kirclil. Kanon auf seiner Peripherie
noch nicht fest. Eine Differenz zwischen den Kirchenlehrern dort,
den Schulhäuptern hier bezüglich des neutest. Kanons bestand somit
je länger, desto weniger ^).
Nach demselben Maassstabe ist zu beurtheilen, was die Philosophumena
von den Naassencrn (5, 7—9), d. h. einer späteren Form des Ophitismus (Aus-
nutzunjT der Plsbriefe, besonders Eph, und der EvgHen, besonders Joh; 8 ein
förmliches Citat von 2 Cor 12, 2—4), von den Peraten (5, 12—17. 10, 10) als
einer zweiten ophitischen Secte (Plsbriefe, zumal Col 1, 19. 2, 9. 1 Cor 11, 32;
EvgHen, zumal Joh 1, 3. 4. 3, 17. 8, 44) und von den Sethiancrn (6, 19. 10, 11),
^) HiLGENFELD, Ketzergeschichte S 301.
^) G. Heinrici, Die valentinianische (Inosis in der heil. Schrift 1871,
S 116. Sogar 78 Citate Hofstede S 30 f, 102; vgl. Hu^genfeld S 505 f.
') HiLGENFELD S 473 f; Vgl. auch S 469.
*) Heinrici S 181 f; vgl. auch S 57, 85. A. Harnack S 187 f.
138 Greschichte des Kanons.
welche ĂĽber eine phantastische Auslegung von Phil 2, 6. 7 verfĂĽgten, zu be-
richten wissen. Auch diese Secten fĂĽhren die betreffenden Schriftstellen mit
den Formeln der Autorität an (stpYjxat, ^k^^aTzxai^-Xk^ti 4] -(pa^r[). Derselben
Quelle (Philos. 6, 9. 10. 14. 16) zufolge haben die Simonianer Mt, Lc, 1 Cor
imd 1 Pe benutzt. Die Karpokratianer endlich besitzen eigene Erklärungen
zu Mt 5, 25. Lc 12, 58 (Iren. I, 25, 4) und Rm 5, 20. 7, 7 (Clem. Str. IH, 2, 7).
Der Regel, dass die jeweils späteren Gnostiker in Bezug auf
Werthung und Umfang des neutest. Kanons correcter d. h. mit
der katholischen Uebung ĂĽbereinstimmender erscheinen, entspricht
die Thatsache, dass nicht Basilides und Yalentinus, sondern erst
die im letzten Menschenalter des 2. Jahrh. blühenden Ptolemäus
und Herakleon für den kirchl. Kanon angerufen werden können.
Auch die gnostischen Johannes- und Andr eas- Akten , von welchen
wenigstens die erster en in die 2. Hälfte des 2. Jahrh. hinaufreichen,
machen zwar nicht von der apostolischen Literatur des NT, dafĂĽr
aber von den Evglien (insonderheit auch Job) bereits reichHchen
Gebrauch ^). Die Entwicklung des Kanons vollzieht sich beiderseits
in chronologisch parallelen Bahnen ^), wie ja erst die späteren Häre-
tiker, welche die Bildung des neutest. Kanons erlebt haben, daran
denken konnten, ihre Sondermeinungen mit den bei den kath. Ge-
sinnten anerkannten Schriften zu decken. Die frĂĽheren waren da-
gegen um so sorgloser im Gebrauche von nicht kanonischen, be-
ziehungsweise nicht kanonisch gewordenen Schriften ^).
Beispielshalber bezeugen die Philosophumena als gebrauchte Schriften bei
den Naassenern das Aegypter- und das Thomas-Evglm (5, 7), bei den Peraten
die irpoaaxeioi (5, 14), bei den Sethianern die di.Tzov.akü^sic, xoö 'ASajji, xal xoö
'AĂźpadfi, auch die Trapacppdost? S-fi^- (5, 22; vgl. Epiph. Haer. 26, 8. 39, 5), bei
den Justinianern ein Buch Baruch (5, 24), bei den Simonianern die iie^äXri
änotfaoiq (6, 11). Die Excerpte aus Theodot betreffen auch das ägyptische (67)
*) LipsiĂĽs, Die apokryphischen Apostelgeschichten I, S 31, 515, 615.
^) Nach F. NiTZSCH (Grundriss der christl. Dogmengeschichte I, 1870,
S 250) und Westcott (S 272 f ) hätten die Grnostiker ein rein eklektisches Ver-
fahren beobachtet, nur an einzelne Theile des Kanons sich gehalten, andere
nach Bedürfniss verfälscht oder für untergeschoben erklärt. Aber die Kirche
ist z. B. bei Auswahl der Evglien nicht wesentlich anders verfahren als die
Ebjoniten und Marcioniten, wenn sie sich auf Mt oder Lc beschränkten. Nur
die bei der Wahl leitenden Motive bedingen die Differenz des Ausfalls.
') HoFSTEDE tröstet sich über die Thatsache, „dass unter den ältesten
Katholiken sich nur wenige befinden, die BĂĽcher des NT als einen Theil der
Schrift anfĂĽhren" (S 39; vgl. S 36 f), damit, dass dafĂĽr die Gnostiker um so
frĂĽher ihre Schuldigkeit thun (S 53 f, 76 f, 79 f) und unter 167 gnostischen
Citaten nur ganz ausnahmsweise apokryphische Stellen auftauchen. Aber eben
dcsswegen gehören seine Citate, die ja meist den Philosophumena entnommen
sind, erst späteren Formen der Guosis an. Vgl. Hilüenfeld ZwTh 1868, S 222.
n. Kap.: Die Vorgeschichte des Kanons. 6. Die Grnostiker. 139
und ein anderes apokryphisches Evglm (2). Den Kainiten aber, welchen Irenäus
ein Evglm des VeiTäthers Judas zuzuschreiben scheint (I, 31, 1), bezeugt Epi-
phanius wenigstens Gebrauch eines öcvaßattxöv flaoXou (Haer. 38, 2), den Seve-
rianern (Enkratiten) aber den der Acta des Andreas, Johannes und Thomas
(Haer. 47, 1). Nach TertulUan (Marc. 1, 19) genossen die Antithesen Marcion's
in seiner Schule kanonisches Ansehen. Für noch viel weniger correct im späteren
Sinne muss vollends die judenchristhche Häresie gelten. Die Cerinthianer,
l (Epiph. Haer. 28, 5), die Ebjoniten Iren. I, 26, 2. III, 11, 7. Orig. Cels. 5, 65.
â– Theodoret, Haer. feb. 2, 1), die Elksaiten (Orig. in Ps 82 = Euseb. KG
VI, 38. Theodoret 2, 7), die Sampsäer (Epiph. 53, 1), die Severianer (Euseb.
KG IV, 29, 5) verwarfen den Pls als Apostaten und hielten sich ausschliesslich
entweder wie Cerinth an einen unvollständigen Mt (ohne Geburtsgeschichte, wie
auch Karpokrates nach Epiph. 30, 14) oder an irgend eine Form des Hebräer-
evglnis, vielfach auch an das zu Ergänzung des Evglms dienende OfFenbarungs-
buch Elxai (Epiph. 19, 1. 53, 1. Philos. 9, 13). Sogar diejem'gen Nazarener,
welche gegen die Person des Pls eine anerkemiende Stellung einnahmen, haben
seine, freilich in einer ihnen unverständlichen Sprache abgefassten, Briefe bei
Seite liegen lassen. Ihre Stellung zu Pls bekunden die Ebjoniten, welche ĂĽbrigens
auch den Aposteln Jakobus, Matthäus und Johannes Schriften untergeschoben
haben sollen (Epiph. 30, 23), vor Allem durch den Gebrauch von v.fipo'fiiaxa
und TcepioSot DeTpou, in welchen Petrus ebenso sehr im hellsten Lichte strahlt,
wie auf Pls z. B. in den avaßaö-fxol -laxtußGü die schwärzesten Schatten fallen
(Epiph. 30, 16. 25). In den auf Grund dieser Schriften erwachsenen Recogni-
tionen und Homilien (Pseudo-Clemens Romanus) ist neben unseren kanonischen
Evglien, Mt voran, wieder jenes Hebräerevglm benutzt, welches in seinen ver-
schiedenen Formen die „heilige Schrift" des gesammten Judenchristenthums
repräsentirt.
Die bedeutendste Erscheinung in der späteren Apokryphen-Literatur bildet
die Sammlung apostolischer Acta, die dem Lcucius zugeschrieben wurde. Die-
selbe trat nebst zahlreichen anderen heiligen Schriften bei den Manichäern an
die Stelle, bei den Priscilhanisten an die Seite des kirchl. Kanons^). Ausserdem
gebrauchten die letzteren eine Memoria apostolorum^).
Von grösserer Bedeutung als die Frage nach der eigenen
Stellung der Gnostiker zu Begriff und Umfang des neutest. Kanons
ist die Thatsache, dass die Bildung des letzteren durch das Auf-
treten jener mitbedingt war. Der seit Justin unausgesetzt gefĂĽhrte
Kampf wider die Gnosis Hess ein schon bestehendes BedĂĽrfniss, die
in katholischen Gemeinden vorlesbaren und vorzulesenden Bestand-
theile der apostohschen Hinterlassenschaft in ein Verzeichniss zu
bringen, nur noch lebhafter empfinden. In einem solchen den siche-
ren Maassstab fĂĽr die theologische BegrĂĽndung des Clu-istenthums
zu suchen, dazu forderte auch die Gefahr auf, von der Unzahl
gnostischer Apokryphen und Sondertraditionen ĂĽberfiuthet zu werden.
Gleichzeitig musste sich die Kirche im Kampfe wider den Monta-
') Lipsius I, S 76.
') Zahn, Acta loannis S 210.
140 Greschiclite des Kanons.
nismus des enthusiastischen Elementes entledigen, welches ihr von
Haus aus eigen gewesen war. Angesichts einer mit Autorität um-
kleideten Sammlung aller Produkte der Inspiration wäre das Auf-
kommen des Montanismus eine Unmöglichkeit gewesen. Nachdem
er einmal da war, bedeutete die jetzt erfolgende Constituirung des
Kanons „die Aussonderung einer Offenbarungsepoche und demgemäss
einer classischen Zeit des Christen thums, unerreichbar fĂĽr die Epi-
gonen" *), und eben damit ein Princip der kirchhchen Rechtsordnung,
welches neue Produkte angebUch fortdauernder Inspiration ausschloss.
Uebrigens stĂĽtzte sich der Montanismus auch seinerseits auf aposto-
lische Literatur, namentlich auf die johanneische *^), und in Vertretern
wie Tertullian wusste er sich auch mit dem Kanon abzufinden. Nur
zu einer Zeit, da der letztere ĂĽberhaupt erst im Werden begrifien
war, könnten die Montanisten geschriebene Weissagungen der neuen
Propheten als Urkunden einer ĂĽber Jesus und die Apostel hinaus-
fĂĽhrenden Offenbarung geltend gemacht haben ^). Jedenfalls gibt
ApoUonius dem Themison (bei Euseb KG Y, 18, 5) und Cajus
den Montanisten ĂĽberhaupt Schuld, dass sie heilige Schriften nach
eigenem Ermessen verfertigt hätten (VI, 20, 3) ^). Dagegen setzen
die christologischen Häretiker, und zwar an ihrer Spitze schon Theo-
dotus, den Kanon bereits voraus ^).
Drittes Kapitel: Der ältere Kanon.
1. Der Kanon und die katholische Kirche.
Es ist keineswegs zufällig geschehen, wenn um dieselbe Zeit,
da zur Reahtät der svotXyjaLa zaa-oXiXTJ sich der Name hinzufindet —
erstmaUg bei Ignatius Smyrn. 8, 2, dem antimontanistischen Ano-
nymus bei Eusebius (KG V, 16, 9 tj vcaO-' oXovi sx/A'^ata), dem Frag-
mente Muratori's (Zeile 61, 66, 69), dem Martyrium des Polykarpus
(5mal), auch bei dem alexandrinischen Clemens (Str. VH, 17. 106.
107), direct nicht bei Irenäus, desto mehr bei Tertullian — auch
die Schriften, auf welche diese Kirche ihren Lehr- und Verfassungs-
*) A. Harnack, Dogmengeschichte I, S 330.
«) HiLGENFELD, Kctzergeschichtc S 563 f, 571 f, 599 f. A. Harnack S 323.
») Zahn S 142.
•*) Vgl. über das Verhältniss des Montanismus zur Kauonbildung A. Har-
nack ZKĂś III, 1879, S 358 f, 369 f, 405 f ; Dogmengeschichte I, S 326. Over-
BECK S 73. BONWETSCH, Gcschichte des Montanismus 1882, S 128 f. Schmiedel
S 324.
') A. Harnack S 575.
m. Kap.: Der ältere Kanon. 1. Der Kanon und die kath. Kirche. 141
bestand stĂĽtzte, denen des AT ebenbĂĽrtig zur Seite, also Begriff
und Unifang eines neutest. Kanons deutlich in Sicht treten (etwa
170 — 190). Es war dies das einfache Ergebniss der ganzen Lage,
in welcher sich die werdende Kirche theils den Gnostikem, theils
den Montanisten gegenĂĽber befand. Das antignostische , speciell
antimarcionitische Dogma von der Identität des Gottesgeistes, welcher
erst durch die Propheten, dann durch die Apostel geredet hat, fĂĽhrte
auf Gleichstellung des A und NT. Wie auf jenes, so wird das w<;
YSYpaTCTat daher jetzt auch auf dieses angewandt. Neue Offenbarungen
aber werden im Gegensatze zum Montanismus abgelehnt ; die Reihe
der Offenbarungsträger gilt als abgeschlossen ^), und unter Rückgang
auf die Autorität ihres geschriebenen Wortes vollzieht sich die Aus-
scheidung des Ebjonitischen wie des Antinomistischen , des Gnosti-
schen wie des Montanistischen.
Damit hat zunächst die Stellung zur mündlichen Ueberlieferung eine gründ-
liche Veränderung erfahren. Die drei um die Wende des 2. Jahrh. wirkenden
Kirchenschriftsteller Irenäus, Clemens und Tertullian sind die Letzten, welche
zuweilen noch wenigstens pro forma von der Tradition im historischen Sinn
(als Trägerin des in der Erinnerung älterer Zeitgenossen lebenden, aber mit
diesen immer mehr zurĂĽcktretenden Bildes Jesu und der Apostel) reden. So
zweifelhaft schon seit Justin's Zeiten Bedeutung und Werth einer solchen Ueber-
lieferung geworden war, so beruft sich doch Irenäus nachdrücklichst noch auf
die lebendige Predigt, die in der Kirche ĂĽberall, wohin sie sich verbreitet, aus
dem Munde der Apostel und ihrer Jünger gehört wird (I, 10, 1. 2. III, 2, 1.
4, 1. 2. 24, 1. IV, 26, 5. V, 20). So schreibt er an einen Jugendfreund, welcher
der Ketzerei verfallen war (bei Euseb. KG V, 20, 4 — 7) : „Diese Lehren, o Flo-
rinus, entstammen, um nichts Schlimmeres zu sagen, nicht der rechten Aus-
legungsweise. Sie stimmen nicht mit der Kirche ĂĽberein ; sie sind nicht
von den Aeltesten, die vor uns lebten und JĂĽnger der Apostel waren. Dir ĂĽber-
liefert worden. Denn ich habe, als ich noch ein JĂĽngling in Niederasien bei
Polykarpus war. Dich gesehen, wie Du in Ehren warst am kaiserlichen Hofe
und Dich beeifertest, die Zufriedenheit des Polykarpus zu erlangen. Denn was
damals geschehen, habe ich besser im Gedächtnisse, als was sich wohl unlängst
zugetragen. Was wir in der Jugend in uns aufnehmen, das verwächst ja gleich-
sam mit uns selbst und haftet uns fest an. Und so wĂĽrde ich Dir sogar den
Ort angeben können, wo der selige Polykarpus sass, und sein Aus- und Ein-
gehen, seine Art und Weise, sein Aeusseres, seine Reden zum Volke und was
er erzählte von Johannes und den übrigen Männern, die den Herrn gesehen,
und wie er deren Reden anfĂĽhrte und was er von ihnen ĂĽber den Herrn
^) A. Harnack, Dogmengcschichtc I, S 282: „Das NT hat, wenn auch
nicht mit einem Schlage, dem Zustande ein Ende gemacht, dass ein beliebiger
Christ, vom Geiste inspirirt, maas8gel)ende AufschlĂĽsse und Anordnungen geben
und dass seine Phantasie die Geschichte der Vergangenheit in glau])wĂĽrdiger
Weise bereichem, die Ereignisse der Zukunft in ebenso glaubwĂĽrdiger Weise
voraussagen konnte."
142 Geschichte des Kanons.
gehört hatte. Seine Thaten und Lehren erzählte er, wie er sie von den Augen-
zeugen des Wortes des Lebens vernommen, in Allem ĂĽbereinstimmend mit den
heiligen Schriften (tcocvtä o6|j.tf)(ova xal? ^^ai^alc,). • Diese Dinge habe ich damals
in Folge der göttlichen Barmherzigkeit fleissig gehört und sie nicht auf Papier,
sondern in meinem Herzen verzeichnet und erinnere mich ihrer durch Gottes
Gnade fortwährend."
Aehnlich erzählt selbst der etwa ein Menschenalter nach Irenäus geborene
Clemens (Str. I, 1, 11. 12), dass er gesammelt habe, was er von seinen Lehrern
vernommen hatte, von denen Einer aus lonien, ein Anderer aus Coelesyrien, ein
Dritter aus Aegypten, noch Einer aus Assyrien (Tatian?) und endlich Einer
aus Palästina stammte. „Diese, welche die wahre Ueberlieferung der seligen
Lehre bewahrten, die sie unmittelbar von den heiligen Aposteln Petrus, Jakobus
Johannes und Pls, der Sohn vom Vater, empfangen hatten, sind durch den
Geist Gottes bis auf unsere Zeit gekommen, um das Samenkorn der apostolischen
Lehre in uns zu pflanzen." Bezeichnend fĂĽr den Einschnitt, welchen Clemens
in der christl. Literaturgeschichte ĂĽberhaupt bildet (S 94), ist die Anschauung,
dass diese seine Lehrer, die sog. Presbyter, grundsatzmässig noch nicht schrift-
stellerisch thätig gewesen seien, sondern solches Geschäft vielmehr ihm selbst
und seinen Zeitgenossen überlassen haben (Str. I, 11 — 14. Ecl. 27).
Eine charakteristisch verschiedene Stellung nimmt bereits Irenäus ein,
welcher neben jener persönlichen Tradition, die auf Polykarp und die übrigen
Presbyter zurückgeht, sowohl für die römische (III, 3, 3) wie für die klein-
asiatischen Gemeinden (III, 3, 4), ja fĂĽr die ganze Kirche (III, 3, 1. IV, 33, 8)
untrüglichen Wahrheitsbesitz kraft ihres eigenen Begriffes als „Ausprägung des
Leibes Christi" und kraft der „Folge der Bischöfe, welchen die Apostel die
Kirche an jeglichem Orte ĂĽbergeben haben", in Anspruch nimmt. Noch ent-
schiedener vertritt diesen Standpunkt Tertullian, dessen bekannter Präscriptions-
beweis gegen die Häretiker nur der Form nach historisch ist, der Sache nach
bereits auf der dogmatischen Voraussetzung eines der Kirche als solcher stets
zu Gebote stehenden Wahrheitsschatzes beruht. In summa si constat id verius
quod prius, id prius quod ab initio, ab initio, quod ab apostolis : pariter utique
constabit, id esse ab apostolis traditum, quod apud ecclesias apostolorum fuerit
sacrosanctum (Marc. 4, 5; vgl. Praescr. 20. 32). Das ist nicht mehr die cpwvYj
C<üaa des Papias, des Polykarp, des Hegesipp, ja auch noch des Irenäus und
Clemens, das ist die Stimme der lehrenden Kirche, das durch alle Zeiten hin-
durchgehende Erkenntnissprincip des kath. Glaubens, durch welches nicht blos
kĂĽnftighin die richtige Auslegung der Schrift, sondern schon jetzt der Umfang
dessen bestimmt wurde, was als auszulegende Schrift gelten solle. Gerade so
wie aus einer Menge von bisher nebeneinander herlaufenden Richtungen die
verträglicheren und zielbewussteren sich zum kath. Kirchenverband zusammen-
schlössen, 80 wurden aus einer grösseren Anzahl von alterthümlichen Schriften
die von apostolischen Männern herrührenden zu einem besonderen Grade von
Ansehen erhoben und damit der tiefen Verehrung, welche man den Personen
des apostolischen Zeitalters, so wenig Sicheres man auch von ihnen wusste,
doch aus apriorischen GrĂĽnden (S 130) widmete. GenĂĽge geleistet. Bei Serapiou,
Irenäus und Tertullian werden wir diese Zusammenlegung der Begriffe Apostolisch
und Kanonisch vollzogen finden, und um dieselbe Zeit betrachtet es ApoUonius
als ein Privilegium der Apostel, katholische Briefe zu schreiben (Euseb. KG V,
18, 5). Aber nicht lediglich das urapostolische, sondern das gesammtapostolische
m. Kap.: Der ältere Kanon. 1. Der Kanon und die kath. Kirche. 143
Wort ist schliesslich der Gegenstand einer derartigen theologischen WĂĽrdigung
geworden. Während die Schriften des Pls bei Hermas, Papias, Justin, Hegesipp
und 2 Clem. ad Cor. noch in völliger Verdunkelung verharren und auch da,
wo man sie innerhalb der grösseren Hälfte des 2. Jahrh. respectirt, nicht so
förmlich citirt werden wie bereits Stellen aus den Evglien, wird jetzt in dem-
selben Maasse, als der marcionitische Sturm sich brach, der Name des Pls
gleichsam wieder frei. Der Presbyter, welchen Irenäus (IV, 27 — 29) ausschreibt,
und die Ignatianen kennzeichnen diese Wendung. Um dieselbe Zeit wird auch
die kath. Ueberarbeitung der Testamente der 12 Patriarchen vorgenommen
worden sein mit ihren Anklängen an paulinische und johanneische Stellen und
mit ihrer Weissagung auf den Apostel (S 125). In dieser Schrift und im Briefe
an Diognet überwiegen die paulinischen Reminiscenzen. Irenäus pflegt gelehrte
i Untersuchungen ĂĽber Plsbriefe (III, 7, 1. 14, 1. IV, 26, 2), und Theophilus,
Tertullian, Clemens citiren sie gerade wie auch die Evglien. FreiUch trägt
solches Wiederaufleben des Paulinismus einen rein theoretischen Charakter,
d. h. Pls ist als Apostel anerkannt, so gut wie die Zwölfe; seine eigentlichen
Grundbegriffe aber bleiben begraben*). FĂĽr die Polemik gegen eine bereits nur
in veränderter Gestalt wiedergekehrte Gesetzlichkeit hatte die Kirche kein Ver-
ständniss ; sie legte sich den Inhalt von Gal, Cor, Rm einfach nach dem Maass-
stabe von Act zurecht*) und lebte von Haus aus des Glaubens : apostoli non
diversa inter se docuerunt (Tert. Praescr. 32), fita yj ttccvtcuv ^i^ovs xtĂĽv ^itootoXwv
oioTcsp S'.SaoxaXia o5x(ĂĽ(; Se xal y] TcapdSoot? (Clem. Str. VII, 17, 108).
Liegt demgemäss die treibende Ursache zur Kanonbildung in
der Consolidirung der kath. Kirche ^), so wird auch verständhch,
wesshalb es mit jener so rasch vorging. Der Prozess hätte einen
viel langsameren Verlauf genommen, wenn eine ĂĽbereinstimmende
Stellung der in die kath. Conföderation sich findenden Gremeinden
(Tert. Marc. 4, 5 ecclesiae quae apostolicis de societate sacramenti
confoederantur) auf dem "Wege allmäHger Abklärung und Verstän-
digung abgewartet werden musste ^). Aber statt der Gemeinden
handeln die Bischöfe; wie die kath. Kirche ohne Episkopat undenk-
bar wäre, so ist auch der Kanon Werk der Bischöfe. Wie sie ihre
Einsetzung auf Apostel zurĂĽckfĂĽhren , so werden auch die aposto-
») A. Harnack ZKG in, 1879, S 376 f, 382 f. S^hmiedel S 326.
") OvERBECK, lieber die Auffassung des Streits des Paulus und Petrus in
Antiochien bei den Kirchenvätern 1877, S 8.
') Treffend Mangold S 833: „Diese weiss sich als göttliche Schöpfung
Christi, fasst in einem mittleren Durchschnitt der Lehre aller Apostel den
Inhalt einer neuen, an sie ergangenen Offenbarung zusammen und beginnt dem-
gemäss mit Ausschluss von Parteischriften, welche die Linie des kath. Glaubens
nicht einhalten oder sich in Betrefl" ihrer Abkunft nicht hinlänglich legitimiren
können, die Documente dieser Offenbarung nach dem Kriterium ihres Ursprungs
von Aposteln und apostolischen Männern zum Kanon zu sammeln."
*) Gegen Tischkndorp, Hofstede, Thiersch (Versuch S 321), Bleek
(8 842) und Luthardt (Der johanneische Ursprung S 79), welclie behaupten, es
sei damals ĂĽber den Kanon nicht debattirt worden.
144 Geschichte des Kanons.
lischen Schriften maassgebend fĂĽr die Fixirung dessen, was katholisch
sei. Ein sprechendes Beispiel hefert Serapion, der zweite Nachfolger
des Theophilus auf dem Bischofstuhle in Antiochia (etwa 190 — 210).
Einer Partei in Rhossus, die sich auf ein Evglm des Petrus berief,
gestattete er dasselbe zunächst; sobald ihm aber der häretische
Charakter des Werkes und seiner Anhänger klar geworden war,
untersagte er es wieder (Euseb. KG VI, 12, 3 — 6), wobei er als
leitenden Grundsatz geltend machte, man nehme zwar die Apostel
auf wie den Herrn selbst, aber keineswegs die Fälschung unter
ihrem Namen in Umlauf gesetzter Schriften. Hier also fäUt ein
Streifen historischen Lichtes gerade auf den Punkt, da der (syrische)
Kanon in's Dasein tritt.
Aber auch wenn wir ohne bestimmte Nachrichten in dieser
Beziehung geblieben wären, so verstände sich unter den sonst be-
kannten Bedingungen, welche bei Ausgestaltung der kath. Kirche
wirksam waren, eine derartige Thätigkeit der Bischöfe von selbst ^).
Nur die Träger der Lehrautorität, welche das Erkenntnissprincijj
der Tradition handhabten, waren befugt, die BĂĽcher zu bestimmen,
welche als zur Vorlesung im öffentlichen Gemeindegottesdienst zu-
lässig erschienen. Das Bedürfniss nach einer anerkannten Auswahl
solcher Schriften musste mit den Ansprüchen des bischöflichen Amtes
zu einem und demselben Gesammteffect zusammentreffen ^). Als Ur-
heber oder vielmehr — denn sie glaubten nur zur Anerkennung zu
bringen, was von jeher existirt hatte (vgl. Euseb. KG VI, 12, 3
:rap£Xaßo(X£v) — Hüter des Kanons, besorgten sie sowohl das Geschäft
der Classificirung (so Melito von Sardes fĂĽr das AT) wie der Aus-
gleichung. In letzterer Beziehung kommen wohl für das Verhältniss
von Abendland (Italien) und Morgenland (Kleinasien) vorzugsweise
Polykarp und Irenäus in Betracht, deren sonstiges Verhalten zum
römischen Stuhl zugleich auf die steigende Bedeutung der Stellung
Roms auch in der Kanonfrage schliessen lässt. Die Periode Victor's
sah die römische Kirche bereits mit erhöhten Ansprüchen auftreten.
Um dieselbe Zeit stimmen die Autoritäten des Abendlandes (Irenäus
und TertuUian) mit denen des Morgenlandes (Theophilus und Cle-
mens), die lateinischen wie die syrischen Uebersetzungen ĂĽberein ni
der Anerkennung gewisser Grundbestandtheile des Kanons. Wie
aber der Verlauf der montanistischen und der paschalen Streitig-
keiten schon eine gewisse Hegemonie Rom's erkennen lassen, so
») HiLGKNFELD S 74 f. A. Harnack, Dogmengeschichte I, S 254, 275 f, 278.
*) LuTHARDT, S 40: „So hängt die Anagnose und also auch die Ueber-
lieferung mit der Institution des Episkopates zusammen".
rH. Kap.: Der ältere Kanon. 1. Der Kanon und die kath. Kirche. 145
weisen der Muratorische Kanon und Irenäus mit seinem abgekürzten
Beweisverfahren (III, 3, 2 quoniam valde longum est in hoc taU
volumine omnium ecclesiarum enumerare successiones , maximae et
antiquissimae et omnibus cognitae, gloriosissimis duobus apostolis
Petro et Paulo Romae fundatae et constitutae ecclesiae etc.) auf
einen maassgebenden Einfluss auch in dieser Richtung '). In Dunkel
gehüllt bleibt dabei freilich der nähere Hergang, wie auch nur Rück-
schlĂĽsse aus dem widerspruchsvollen Befunde der hterarischen Kritik
es sind, welche es wahrscheinlich machen, dass die Steine, aus
welchen die Kanon-Mauer gebildet wurde, zu diesem Behufe erst
einigermaassen behauen und zugerichtet werden mussten ^).
Mit Sicherheit kann wenigstens behauptet werden, dass die einzelnen
Schnften damals mit ihren seither ĂĽblichen Titeln versehen wurden. Denn dass
diese Titel selbst eine Sammlung voraussetzen, erhellt nicht blos aus den Ueber-
schriften der Briefe (S 25), um deren Beschaffung sich schon Marcion bemĂĽht
zu haben scheint^), sondern auch die Unterscheidung der Evglien durch das
•t.aia autoris, überhaupt ihre Zurückfuhrung auf bestimmte Persönlichkeiten des
apostolischen Zeitalters ist erst seit Irenäus und Clemens Alex, nachweisbar.
Chrysostomus erklärt ausdrücklich, Matthäus habe sein "Werk blos thrj.-^-^kXio^
genannt (Hom. I in Mt), ĂĽberhaupt kein Evangelist habe sich mit Namen ge-
nannt (Hom. I in Rm.) Wenn daher Marcion evangelio suo nulluni adscribit
auctorern (Marc. 4, 2) oder Eph. an die Laodicener adressirt, so beruft sich Ter-
tullian nicht etwa auf die Texte, sondern nur auf die Tradition und sagt im
Uebrigen: nihil autem de tituhs interest, cum ad omnes apostolus scripsit dum
ad quosdam (Marc. 5, 17). Die Wahrheit dieses Ausspruches bestätigen über-
dies auch die Abschreiber, indem sie die Ueberschriften nach Belieben variiren.
So heisst Act schon im Muratorischen Fragment unzutreffend Acta omnium
apostolorum, in B D, bei TertuUian und Clemens AI nur ^tpa^st? aT^oaxoXcuv, in
K und bei kirchlichen Schriftstellern seit Origenes blos itpd^st?; später -icpa^eK;
TiLv «Y-ltuv aiioaxoXoDV. Apc trägt wegen 1, 1 schon im Cau. Mur. (vgl. Just.
Dial. 81) diesen Namen. Der Verfasser aber wird bald einfach Johannes, bald
') Vgl. Hesse, Das Muratorische Fragment S 304. A. Harnack, Texte
und Unters. II, 2, S 105; Dogmengeschichte I, S. 363. Speciell nach Volkmar
(bei Credner S357 f, 399; Mose's Prophetie S4f, 94) wurden um 175 in Rom
etwa die Bücher, deren kanonische Bedeutung von Irenäus, TertuUian und
Clemens zugleich vertreten wird, kanonisirt und zur Empfehlung dieser Sammlung
2 Pe geschrieben, wozu um 190 noch Jud 2 und 3 Joh traten. Dazu stimmt
die Voranstellung von Rm in der Reihe der Plsbriefe.
^) Es handelt sich hauptsächlich um den Schluss von Mr, Joh und Rm
(Volkmar), um Anfang und Schluss von Hbr (0 verbeck), um 2 Cor (LipsiĂĽs),
um Anfang von Mr und Eph, Schluss von Lc und 1 Tim, Anfang und Schluss
von Apc und um die, die angebliche Verfasserschaft angebenden, Tlieile von
Jac, 1 Pe und Jud (A. Harnack, Texte und Unters. II, 2, S 10«; Dogmen-
geschichte I, S 279). Aber wie wäre in den meisten dieser Fälle die Möglichkeit
vorstellig zu machen, alle uugeänderten Handschriften zu unterdrücken?
*) H. HoLTZMANN, Kritik der Epheser- und Kolosserbriefe S 10.
Holtzmann, Einleitung. 2. Auflage. 2Q
146 Q-eschichte des Kanons.
Apostel, Evangelist, Theolog (= Evangelist wegen Joh 1, 1) genannt, ĂĽberhaupt
je länger desto mehr mit Epitheta ornantia versehen. So werden auch die
Ueberschriften der Evglien immer länger. Zuerst heisst z. B. das erste blos
xata MaTĂ–-aiov , secundum Matthaeum; zuletzt begegnen Titel wie x6 Sy^ov
^uay^Bkiov TOD xY]püY|Ji.«xoc; toö Max^aioD toö «7:00x6X00 u. s. w.
2. Das Muratorianum.
L. A. MuRATORi fand als Bibliothekar des ambrosianischeii
CoUegiums zu Mailand (1694 — 1700) in einem dem 8. oder 9. Jahrh.
angehörigen Sammelcodex einen Aufsatz ^), welcher bis auf die
neueste Zeit ^) Gegenstand der eingehendsten Untersuchungen im
Interesse der Kanongeschichte geworden ist. Das zu Anfang und
zu Ende verstĂĽmmelte, auch mangelhaft abgeschriebene^), in jeder
Beziehung anonyme Stück enthält ein Kanonverzeichniss der römi-
schen Kirche, das älteste, das wir überhaupt kennen, da es mit der
Notiz nuperrime temporibus nostris sedente cathedra urbis ecclesiae
Pio das Jahr 140 als Terminus a quo setzt. Da nuper einen
längeren Zwischenraum anzunehmen erlaubt, dürfte es dem letzten
Menschenalter des 2. Jahrh. angehören ^). Für speciell römischen
Ursprung sprechen die Angabe, dass vom Bruder des Bischofs Pius
der Hirt des Hermas geschrieben worden sein soll, die Notizen ĂĽber
passio Petri und profectio Pauh ab urbe ad Spaniam und die Nicht-
erwähnung von Hbr. Das barbarische Latein (Lingua rustica) wird
*) VeröflFentlicht in den Antiquitates italicae medii aevi (1738—42) III,
1740, S 853 f. Ein zuverlässiges Facsimile gibt Tregelles, Canon Muratorius
the earliest catalogue of the books of the NT 1867.
2) Aeltere Literatur bei Hesse, Das Muratorische Fragment 1873. Dazu
kommen, ausser den neueren Bearbeitungen der Geschichte des Kanons und
den S 147 angefĂĽhrten Schriften von A. Harnack, A. Hilgenfeld, Overbeck,
besonders Caspari, Quellen zur Geschichte des Taufsymbols III, 1875, S 151 f, 410.
Jacobus Schuurmans Stekhoven, Het fragment van Muratori 1877. Joseph Langen.
Geschichte der römischen Kirche 1881, S 160 f. Mangold bei ßleek S 833 f,
«) Nach Hesse S 15 f waren bei Anfertigung der Handschrift 2 Schotten-
mönche im Columban-Kloster zu Bobbio, woher sie stammt, thätig; der Dic-
tirende habe das Latein in britischer Weise ausgesprochen. Westcott S 521 f.
beleuchtet den sprachlichen Charakter des Fragments aus dem sich anschliessen-
den Ambrosiustext.
^) Um 160—170 Tischendorf S 9, 170. Um 170 Westcott S 212.
H. Ziegler, Irenäus S 94. Wieseler, Zur Geschichte der neutest. Schrift
S 139. Um 170—190 Credner, Zur Gesch. des K. S 93 ; Geschichte des K.
S 167 f. A. Harnack S 402 f. Um 190—200 Volkmar bei Credner S 168.
Unmittelbar vor dem Zeitalter des Irenäus Hesse S 40 f, 268. Gleichzeitig mit
Irenäus Hilgenfeld S 89. Gleichzeitig mit Cajus Salmon S 62. Gleichzeitig
mit Tertullian Keim, Urchristenthum S 116. Später als Tertulhan Overbeck
S 72, 96 f. Supern. Relig. 6 Afl II, S 246.
III. Kap. : Der ältere Kanon. 2. Das Muratorianum. 147
bald als Folge von stĂĽmperhafter Uebersetzung aus dem Griechi-
schen *) , bald als Symptom nordafrikanischen Ursprungs erklärt ^)
— Letzteres freilich keineswegs von allen, welche die Uebersetzungs-
hypothese ĂĽberhaupt verwerfen ^).
Streitig ist aber vor Allem, ob dieses SchriftstĂĽck uns Einblicke in die
für die Entstehung eines neutest. Kanons maassgebenden Grundsätze und Ten-
denzen liefert und in welcher Richtung dieselben laufen. Nach Hilgenfeld
befinden wir uns noch in der Werdezeit des Kanons*); auch nach A. Harnack
zeigt sich die Kirche als ihrer kanonbildenden Thätigkeit noch bewusst^); nach
OvERBECK ist die Betrachtung des Kanons bereits die gemeinkatholische; man
habe einfach die apostolische Literatur sammeln und über alles Spätere erheben
wollen*). Der Erste findet in der Erweiterung des urapostolischen Kanons zu
einem gesammt-apostolischen durch Aufiiahme der Plsbriefe einen letzten Act
der Aussöhnung der Parteien; der Zweite will von Nachwirkung solcher Ten-
denzen nichts wissen; der Dritte beurtheilt es vielmehr als Folge der gnostisch-
montanistischen StĂĽrme, wenn aller nichtapostoliche Ballast aus dem Schiff der
katholischen Kirche herausgeworfen wurde. Nach Harnack las man umgekehrt
aus den fĂĽr apostolisch gehaltenen Schriften diejenigen aus, die um ihres kath.
Inhaltes willen heilig zu sprechen waren. Dass der apostolische Ui"sprung die
Zugehörigkeit eines Buches zur neutest. Schriftensammlung bestimmte (Overbeck),
leugnen auch die beiden Anderen nicht. Nur tragen sie dem Umstände, dass
das vorliegende Kanonverzeichniss eine consequente DurchfĂĽhrung des aposto-
lischen Princips nicht darbietet, Rechnung ynd rĂĽcken als zugleich oder vorher
noch sich aufdrängenden Gesichtspunkt bald denjenigen der Katholicität (Harnack),
bald denjenigen der Orthodoxie (Hilgenfeld) in den Vordergrund, wobei der
Grundsatz der Apostolicität überdies durch die Rücksicht auf das kirchliche
Herkommen, welches ein Reihe von Schriften als gegeben bot, beschränkt
und durchbrochen worden sei, so dass aus dem Fragment weniger das Princip,
als die Principlosigkeit, womit bei der Kanonbildung vorgegangen wurde, er-
hellen wĂĽrde').
Das ursprĂĽnglich wahrscheinhch auch das AT umfassende ^)
Fragment beginnt mit dem SchlĂĽsse von Mittheilungen ĂĽber Marcus.
^) HuG, BĂĽnsen, Guericke, Nolte, P. de Lagarde, Loman, Thiersch, Tre-
gelles, Westcott, Volkmar, Mangold, besonders Hilgenfeld S 89 f; ZwTh
1872, S 560 f. 1874, S 251 f. 1881, S 139 f, 163, 157.
2) Credner ThJ 1857, S 300; Geschichte des Kanons S 142, 167 f.
Volkmar ebend. S 341 f. Vgl. jedoch Ursprung unserer Evglien S 28.
') SCHARLING, ReUSS, BlEEK, LAURENT, WiESELER, CrEDNER, A. HaRNAOK,
Stekhoven, Overbeck, Langen, Conely, W. Schmidt, Hesse S 25 f.
*) S 88 f. ZwTh 1872, S 560 f. 1874, S 214 f. 1878, S 25 f, 151 f. 1880
S 114 f. 1881, S 129 f. Aehnlich Schmiedkl S 324 f. Mangold bei BleekS841.
^) ZKG III. 1879, S 358 f, 595 f. Vgl. jedoch Dogmengeschichte I,
S 276 f, 283 f.
•) Zur Geschichte des Kanons 1880, S 71 f, 78 f, 94.
Schmiedel S 326. Aehnlich B. Weiss ThLZ 1881, S 234.
*) Van Gilsk, Volkmar, Hilgenfeld, Hesse S 12 f, 57 f.
10*
148 Greschichte des Kanons.
Von Lucas, „jenem Arzt" (Col 4, 14), welchen sich Paulus zum Be-
gleiter envählt (cum eum Paulus ut juris .studiosum secundum ad-
sumsisset), wird gesagt, dass er erst nach der Himmelfahrt geschrie-
ben habe *), und zwar nomine suo ex opinione, aber doch nicht nach
eigener Anschauung, sondern auf Grund von Studien und Ermitte-
lungen, die ihn dazu führten, auch schon die Greburt des Täufers
mit in seine Darstellung aufzunehmen. Vom 4. Evglm wird eine
ganze Entstehungsgeschichte mitgetheilt, wie um seinen erst neuer-
dings erfolgten Hinzutritt zum synoptischen Cyclus zu motiviren '^).
Neben diesen 4 kennt unser Fragment keine weiteren EvgHen mehr,
wenn auch die Yierzahl noch nicht gerade als an sich nothwendig
erscheint ^). Trotz der schriftstellerischen Selbstständigkeit ihrer Ver-
fasser gelten die Evglien ĂĽbrigens als in Bezug auf den Lehr-
inhalt (Geburt, Leiden, Auferstehung) uno ac principali spiritu de-
clarata *).
Das vom Evglm nicht ausdrĂĽckhch unterschiedene ^) Apostoh-
cum umfasst ausser Act 13 Plsbriefe, doch nicht ohne dass sich ein
Bedürfniss der Rechtfertigung ihrer Aufnahme verräth. Unterschieden
werden zunächst die grösseren, prolixius geschriebenen, worunter
Cor gegen Schismatiker, Gal gegen die Forderung der Beschneidung
gerichtet sind, Rm die Bedeutung des AT fĂĽr das Christenthum
feststellt ^), Dies Alles sei auch noch fĂĽr die Gegenwart wichtig,
um irrige Meinungen abzuwehren. Zwar habe Pls nicht an die
ganze Kirche geschrieben, wohl aber, dem Apc 1, 11 vorhegenden
Beispiele folgend, an 7 Gemeinden und insofern doch wieder öku-
menisch ^). Vermöge dieser, auf der Symbolik der Siebenzahl be-
ruhenden, HĂĽlfsconstruktion wurden also die Plsbriefe gegen den
Vorwurf, sie seien Privat- oder Gelegenheitshteratur, geschĂĽtzt und
^) Nach Hesse S 64 f im Gegensatz zu den beiden ersten Evglisten. Nach
HiLGENFELD ZwTh 1881 S 139 und Westcott S 534 bezieht sich die Zeitangabe
auf die JĂĽngerschaft des Lucas.
Hesse S 83 f, 97 f. Hilgenfeld S 102; ZwTh 1881, S 142 f. Mangold
bei Bleek S 836, 840.
8) Hilgenfeld ZwTh 1872. S 578, 582.
*) Hesse S 22. 301: Vom Geist durchhaucht. Harnack S 394 f: Vom
Geist selbst dargelegt.
^) Hesse S 21, 305. Vgl. jedoch Hilgenfeld S 103. Bleek-Mangold
S 748. ĂśVERBECK S 99 f.
«) Hesse S 152 f. Harnack S 377 f, 383 f.
') Harnack S 378 f. Hilgenfeld ZwTh 1881, S 148 f. Dabei findet es
Letzterer S 151 f, 159 bemerkenswerth, dass fĂĽr die Rechtfertigung der Plsbriefe
das Licht von einem Urapostel ausstrahlt.
m. Kap.: Der ältere Kanon. 2. Das Muratorianum. 149
zum Range einer fĂĽr die ganze Kirche bestimmten heiligen Literatur
erhoben. Und zwar habe Paulus der Reihe nach Cor, Eph, Phl,
Col, Gal, The, Rm geschrieben, an 2 Gemeinden sogar zweimal um
der Zurechtweisung willen (pro correptione), während die Briefe an
seine Freunde liebevoller Hochschätzung entsprungen sind (pro
affectu et dilectione). So ist der paulinische Kanon geschlossen,
und speciell im Abendlande erhält sich seither die Eintheilung in
7 oder 9 Gemeindebriefe und 4 zu der ursprĂĽngHchen Siebenzahl hin-
zugetretene Privatbriefe ^). Unter den letzteren treten als ein be-
sonderer Cyclus die Pastoralbriefe auf, welche trotz ihres von Haus
aus privaten Charakters bei der kathoHschen Kirche (wohl im Gegen-
satze zum Marcionitismus) in Ehren stehen (in honore ecclesiae ca-
thohcae) und vermöge ihres Gebrauches bei Feststellung und An-
ordnung des Kirchenwesens heilige Schriften geworden sind, also
ähnlich den kirchhchen Verfassungsbestand legitimiren , wie die
Evghen den Lehrbestand (in ordinatione ecclesiasticae discipHnae
sanctificatae sunt) ^). Dagegen werden zwei nach Alexandria oder
Laodicea gerichtete Briefe verworfen. Briefliches von zwei anderen
Aposteln aber als kirchhch recipirt erwähnt. Freihch erscheint
hier der Text ganz besonders verderbt : epistola sane Judae et super-
scriptio Johannis duas in catholica habentur et sapientia ab amicis
Salamonis in honorem ipsius scripta. Da superscriptio (eigentlich
superscrictio) keinen Sinn gibt , hat man bald superscripti, bald
superscriptae, bald superscripta daraus gemacht; duas wurde ge-
wöhnlich in duae verwandelt; also ein Brief des Judas und zwei
von Johannes'^). Eine unmittelbare apostoUsche Abfassung dieser
Briefe erschiene abgelehnt , wenn sie bei der Conjectur ut *) ent-
weder mit den Sprüchwörtern (Prv 25, 1) ^) oder mit dem alexan-
») Credner-Volkmar S 398. Hesse S 181 f, 201. Harnack S 386 f.
OVERBECK S 43.
2) Hesse S 195 f. Harnack S 398, 405. Mangold bei Bleek S 838.
Anders Hilgenfeld ZwTh 1881, S 153 f.
') Entweder 1 u. 2 Joh (W. Schmidt, Haussleiter, Mangold, Wieseler
S 140) oder, da 1 Joh schon bei Gelegenheit des 4. Evglms Erwähnung ge-
funden hatte, 2 u. 3 Joh (Credner, Bunsen, Schölten, Zeugnisse S 130 f. Hesse
S 235 f, 249. Hilgenfeld ZwTh 1881, S 155 f, 160 f. Langen S 161, 165.
Westcott S 219 0-
*) Credner, LĂĽcke, Bleek, van Gilse, Hilgenfeld, Langen, AVieseler
S 140. Verkehrt aber beziehen Letzterer und Braune (Die drei Briefe des
Johannes 1865, S 134) die Stelle durch Verbindung mit dem Folgenden auf
Apc. Nach LoMAN (ThT 1868, S 492 f) wäre ut vor et ausgefallen.
*) Credner, Wieseler, Volkäur, Mangold, Hilgenfeld S 42 ZwTh 1881,
S 166.
150 Geschichte des Kanons.
drinischen Apokryphum verglichen wären, welche von Freunden
Salomo's zu dessen Ehre geschrieben wurden *). Bei der vom ĂĽber-
lieferten Text gebotenen Lesart et^) wäre dagegen die betreffende
„Weisheit Salomo's" in das NT gerathen (wie bei Epiphanius Haer.
76, 5; vgl. auch Euseb. KG V, 26. VI, 13, 6).
Gar nicht erwähnt werden Jac und Pe; Hbr nur, wenn man
einen der verworfenen Briefe damit identificirt. Den Schluss machen
3 Apokalypsen von Johannes, Petrus und Hermas. Aber schon bei
der 2. wird theilweiser, bei der 3. als einem nicht mehr aus apo-
stolischer Zeit stammenden Werke gänzHcher Ausschluss vom Öffent-
lichen Kirchengebrauch notirt. Doch bleibt der bisher in Rom hoch
angesehene Hirte wenigstens der privaten LeetĂĽre empfohlen: ideo
legi eum quidem oportet, se pubHcare vero in ecclesia populo neque
inter prophetas, completo numero, neque inter apostolos in finem
temporum potest.
Dann reisst das Fragment ab mit schwer entzifferbarer Erwäh-
nung einiger häretischer Machwerke, die entschieden verworfen wer-
den: nihil in totum recipimus ^). Aus dieser Schlussbemerkung geht
jedenfalls hervor, dass das Fragment vor häretischen Beligionsbüchern
warnen und den Yalentinianern, Marcioniten und Montanisten gegen-
ĂĽber die Grundlage der rechten Lehre sicher stellen will. Den
wahren Glauben bezeugen können aber nur Schriften, die von Apo-
steln herrĂĽhren ; darum werden die Briefe nach Laodicea und Alexan-
dria als Pauli nomine fictae ausgeschlossen mit dem Bemerken: in
catholicam ecclesiam recipi non potest', fei enim cum melle misceri
non congruit — eine Phrase, die nach sonstigen Analogien auf
Scheidung göttlicher Wahrheit von häretischer Beimischung weist ^).
Der gleiche Grundsatz soll nun aber bei der Auswahl der Briefe
und der Apokalypsen maassgebend gewesen sein, und wirklich fällt
ihm Hermas zum Opfer ^) , während die Bemerkung über die Apo-
kalypse des Petrus (quam quidam ex nostris legi in ecclesia nolunt)
zeigt, wie für das Urtheil über die Apostolicität die Anerkennung
durch die Gemeinde präjudicirlich wird. Alles wirklich für aposto-
») Hesse S 48 f, 239 f. Äehnlich W. Schmidt S 461.
') Noch festgehalten von Schölten, A. Harnack, verbeck S 133 f.
») Darüber A. Harnack ZlTh 1874, S 275 f, 445 f. 1875, S 207 f ; ZwTh
1876, S 109 f ; Texte und Unters. I, 1 u. 2, S 215 f. Leimbach ZlTh 1875, S 461 f.
RöNSCH ZKG I, 1877, S 310 f. M. v. Engelhardt, Justin S 346. Vgl. dagegen
Zahn I, S 9. II, S 299.
*) Hilgenfeld ZwTh 1872, S 574. Hesse S 226.
») Hesse S 23, 248, 254 f, 264 f. Hilgenfeld 1881, S 149 f, 166 f.
III. Kap.: Der ältere Kanon. 3. Der Kanon des Irenäus ii. Tertullian. 151
Hsch Geltende wird aufgenommen, alles allgemein Aufgenommene
gilt aber auch fĂĽr apostolisch ^).
3. Der Kanon des Irenäus und des Tertullian.
In Bezug auf Benennung wie auf Umfang der neutest. Samm-
lung ist fĂĽr das Abendland die Stellung maassgebend, welche damals
der zwar von Kleinasien herkommende, aber kraft eigener Er-
klärung 2) die römische Tradition vertretende Irenäus als Keprä-
sentant der gallischen Kirche und TertuUian als Repräsentant des
proconsularischen Afrika einnahmen, wozu in mancher, aber nicht
in jeder Beziehung der alexandrinische Clemens als Dritter im Bunde
der Zeitgenossen tritt ^). Der Terminus Ypa^pyj war bisher, von ein-
zehien Stellen (1 Tim 5, 18. 2 Pe 3, 16. Polyc. 12, 1. 2 Clem. 2, 4)
abgesehen, solenne Bezeichnung der alttest. Schriften geblieben. So
lange man für die geschichthchen Entstehungsverhältnisse der neu-
test. Schriften noch einiges Verständniss besass, konnten dieselben
nicht einfach unter den bereits feststehenden Gesichtspunkt einer
Orakelsammlung gebracht werden *). Jetzt aber umfasst der darauf
deutende Name Ypa^ai das A und das NT zusammen. Wie Theo-
philus und der gegen Artemon schreibende Anonymus (Euseb. KG
V, 28, 13 Yf>a(pai ^siai oder «Yiat), so hebt in seinem gegen 190 ge-
schriebenen antignostischen Werke auch Irenäus Ausdrücke wie
^BloLi Ypa^al, XÖYta toö O-eoö (I, 8, 1. II, 27, 1. V, 20, 2)^). Speciell
bedeutet aber soaYY^^'-ov (III, 11, 8) oder m eaaYYs^txa den 1. Theil
des NT im Gegensatze zu ra ajroaToXtxd (I, 3, 6) ^) — eine Zwei-
') SCHMIEDEL S 324 f.
2) Ziegler, Irenäus, der Bischof von Lyon 1871, S 94 f. Lipsrcs, Histo-
rische Zeitschrift, 1872, Bd 28, S 263 f.
') Für alle 3 Schriftsteller umfasst das „Evglm" unsere 4 kanonischen
Werke, während der Umfang des apostolischen Theils nicht durchaus identisch
ist. Uebereinstimmend werden aufgenommen : Act, 13 Plsbriefc, 1 Pc, 1 Joh,
Apc, schwankend bleiben die ĂĽbrigen kath. Briefe und Hbr.
*) A. Harnack ZKG III, S 364 f. Daher die paradoxe Erscheinung,
dass in der alten Kirche das NT allmählig auf das Niveau des AT. erhoben
wird, während die neuere Theologie umgekehrt von der absoluten Autorität des NT
aus eine relative Autorität des AT zu begründen unternimmt; vgl. Schmiedel S 322.
^) Es begrĂĽndet keinen principiellen Unterschied, wenn III, 3, 3 Clem. Rom.
nur Yf^'f'l <5der IV, 20, 2 (Euseb. KG V, 8, 7) Hermas blos 4j YP'^^'h heisst;
vgl. die Bezeichnung al '(poL'frxi I, 6, 3 von Gal 5, 21, bei Eusob. KCl V, 20, 6
(S 139) von den Evglien.
") Nur der Pluralausdruck ist als Bezeichnung fĂĽr den 2. Theil sicher, da
als 6 arcoatoXo.; wie bei Marcion so auch in den betreffenden Stellen des Clemens,
Tertullian und der Philosophumena der Eine Pls erscheint; vgl. Bleek-IManoold
S 842 f, 850.
â– [52 Geschichte des Kanons.
theilung; welche, bei Marcion und Ignatius präformirt, auch von
Clemens (Str. Y, 5, 31. VI, 11, 88. VH, 3, 14) und TertuUian
(Prax. 15) vertreten ist.
An ältere Zeiten erinnert in dem Werke des Irenäus ausser
der oben (S 141 f.) dargelegten Werthschätzung mündhcher Ueber-
lieferung die Behauptung einer Fortdauer der Geistesgaben, insonder-
heit der Prophetie in der Kirche (II, 32, 4. Y, 6, 1, zusammen-
gestellt schon von Euseb. KG Y, 7, 4 — 6). Im üebrigen gründet
er die GlaubwĂĽrdigkeit der Evglien nicht mehr wie Justinus und
Papias auf das Augen- und Ohrenzeugniss der Apostel, auf Erzäh-
lungen des Petrus, Aufzeichnungen des Matthäus, sondern er citii't
sie mit denselben Formeln wie alttest. Schriften, und so gut wie
diese ist z. B. auch Mt inspirirt (m, 16, 2). Eben desshalb gelten
die neutest. Schriften, im Gegensatz zu den älteren Apologeten,
auch ohne alttest. Unterstützung als selbstständige Beweisquellen
der Kirchenlehre und maassgebende Urkunden des Christenthums,
welchen fĂĽr das neue Bundesvolk genau dieselbe gesetzliche Auto-
rität zukommt , wie für das alte dem AT. Wie dieses von Pro-
pheten, so rĂĽhrt das NT her von Aposteln (11, 27, 2 universae
scripturae et prophetiae et evangelia; eine bestimmte Bezeichnung
des NT im Gegensatze zum AT kennt er noch nicht). Wie mĂĽnd-
lich, so haben die Apostel, und sie allein, das wahre Christenthum
auch schriftlich ĂĽberliefert (III, 1, 1 evangelium, quod quidem tunc
praeconaverunt, postea vero per Dei voluntatem in scripturis nobis
tradiderunt fundamentum et columnam fidei nostrae futurum). Daher
kommen Mr und Lc nur in Betracht als die Autorität des Petrus
und des Pls vertretende Werke. Auch die Häretiker können sich
solcher Autorität nicht entziehen (HI, 11, 7 tanta est autem circa
evangeha haec firmitas, ut et ipsi haeretici testimonium reddant eis),
wiewohl es schweren Tadel verdient, wenn die Ebjoniten nur Mt
die Doketen nur Mr, die Marcioniten nur Lc gelten lassen, noch
Andere den Job verwerfen (III, 11, 9). Denn im Gegensatze nicht
blos zu Aelteren, wie Justin und Tatian, sondern auch zu Clemens
und Origenes, sofern diese gelegentlich auch ausserkanonische Evghen
benutzen, steht die Yierzahl der kanonischen Evghen vollkommen
fest und wird als nothwendig aus der Yierzahl der Weltgegenden,
Winde, Cherubsgestalten ^) und BĂĽndnisse erwiesen (III, 11, 8
6 XÖYog eScDXsv i^jxfv T£Tpa(iop^ov lö soaYYsXtov, ivl §s 7rv£6(iaTi aovs'/o-
(levov). Ausserdem gebraucht Irenäus als gleichwerthig die Plsbriefe
•) Ueber die daher stammenden Thiersynihole der Evangelisten vgl Zahn
II, S 267 f.
m. Kap.: Der ältere Kanon. 3. Der Kanon des Irenäus u. TertuUian. 153
[das Fehlen von Phm ist zufällig), 1 Pe (von 2 Pe weiss er nichts),
und 2 Joh (das Fehlen von 3 Joh und Jud kann zufällig sein)
^und Apc. Hbr ist unpauhnisch und Jac khngt nur ein- oder zwei-
lal an.
TertuUian, bei welchem scriptura und scripturae genau dem
Gebrauche von vpa^pTJ und Ypa'f ai bei Irenäus entsprechen, kennt ein
in allen seinen Theilen gleichmässig inspirirtes NT nicht blos in der
jetheilten Form von Evangehum und Apostolus (De pudic. 11. 12.
[arc. 4, 12. De bapt. 15) oder evangelicae et apostohcae Hterae
|(Praescr. 36), sondern als seine persönliche Liebhaberei tritt der
juristische, eine rechtskräftige Urkunde bezeichnende Ausdruck In-
strumentum (De pudic. 10) auf. In diesem Sinne stehen dem evan-
gelicum instrumentum (Marc. 4, 2), obwohl auch dessen kanonischer
Werth nur auf der Abfassung durch Apostel beruht (Mr gilt als
das Evghn des Petrus, Lc als das des Pls), als apostolica instru-
menta (De resurrect. 39) gegenĂĽber das instrumentum actorum
(Marc. 5, 2), das aus 13 Briefen (seit Can. Mur. erstmahg Marc.
5, 21 auch Phm) bestehende instrumentum Pauli (De resurr. 40)
und das des Johannes (ebend. 38. De pudic. 19), zu welchem, da
Joh schon im ersten Haupttheil steht, nur 1 Joh und Apc gehören ^).
Dazu treten gelegenthch als apostoKsche Schriften auch 1 Pe und
Jud ; unapostohsch ist und wird in Folge dessen blos ex redundantia
citirt Hbr ; zweifelhaft bleibt Jac ^). Barn, gilt ihm als theilweise
anerkannt, und von Herm. macht er in seiner vormontanistischen
Teriode Gebrauch (De orat. 16), um ihn nachher um so härter zu
Ibeschimpfen (De pudic. 10). Derselbe Schriftsteller setzt dem Aus-
druck Instrumentum als gebräuchhcher den Ausdruck Testamentum
gleich (Marc. 4, 1), spricht also von totum instrumentum utriusque
testamenti (Prax. 20; vgl. 15) und nennt beide Testamente (De
pudic. 1 utrumque testamentum) als Zusammenfassung aller Ord-
nungen und Befehle Gottes sacramenta (Apol. 47) ^). Erhalten hat
sich fĂĽr die Sammlung blos der Ausdruck novum testamentum,
Tj xaiv7j Sia^XY], welcher schon bei dem 190 schreibenden Anti-
montanistcn (Euseb. KG V, 16, 3 [jltj Tifj Sö^w naiv e::iai)YYpa^£tv t] bki-
^lotTdaosaO-at T(j) t^<; toü eoavYsXioo xaivf^<; SiaO'YJXTrj(; Xöyip), dann wieder
bei Origcnes (De princ. 4, 1 ; vgl. auch in Joh T. I, 5. V, 3), Lac-
tanz (Inst. 4, 20), Eusebius (KG in, 25, 1 xfi<; xaiv'^(; SiaOifixirjc
») RÖNSCH, Das NT Tcrtullian's S 47 f, 50, 291.
') Dafür HiLGENFELD S 87. Dagegen Credner-Volkmar S 373 f. Rönsch
S 572 f und Davidson S 324 f.
•'») Leimbach StKr 1871, S 488.
154 Geschichte des Kanons.
Ypa^ai), Epiphanius (Haeres. 30, 7) u. s. w. vorkommt und biblisch
ist, sofern Mt 26, 28. Hbr 8, 8. 9, 16 das Christenthum als xatvY]
oder SsoTSpa Sta^YJZY] eingefĂĽhrt wird und bereits 2 Cor 3, 14 die
jĂĽdischen K-eligionsschriften metonymisch ri izakaw. Sta^TJZT] heissen.
Dies trug man, die schon bei Origenes verschwundene ^) Duplicität
von EvgUen und Apostel aufgebend, auf die christlichen Ăźeligions-
schriften ĂĽber, und durch Vulg. ist fĂĽr diese die Bezeichnung Novum
Testamentum gebräuchlich geworden (Novum Foedus ist nicht alter-
thĂĽmlich).
Der Kanon Tertullian's darf zugleich, ohne darum flĂĽgs in das Jahr 150
hinaufzurĂĽcken ^), im Wesentlichen als derjenige der sog. Itala (S 49 f, 60 f)
gelten, wozu ja auch der Befund im Can. Mur. stimmt. In der Stichometrie des
Cod. Claromontanus (Versus scripturarum sanctarum) hat man den Kanon der
afrikanischen Kirche im 3. Jahrh. erkennen wollen'}; nur aus Versehen fehlen
hier unter den 13 Plsbriefen Phl und The, dafĂĽr erscheinen nach den kath.
Briefen und ohne jede Abscheidung von ihnen Barnabae epistula, Johannis reve-
latio , actus apostolorum, pastor, actus Pauli, revelatio Petri, so dass hier die
apokalyptische Trias des Can. Mur. noch einmal zum Vorschein kommt. Auch
Cyprian steht ähnlich zum Kanon wie sein „magister" ; sowohl von Petrus wie von
Joh kennt er nur je eine epistola (Exhort. martyr. 9 und 10) und macht auch
von Phm, Jac, Jud und Hbr keinen Gebrauch. Noch chaotische Zustände lässt
dagegen die unter Cyprian's Namen erhaltene Schrift De aleatoribus erkennen,
welche neben Plsbriefen auch Doctrinae apostolorum, Hermas und mancherlei
ganz unbekannte apokryphische Stellen citirt^).
4. Der alexandrinische Kanon.
Während wir bei der römischen Kirche auf Combinationen ver-
wiesen sind, können wir die Grenesis des alexandrinischen Kanons
genauer verfolgen. Derselbe Clemens, welcher sich noch einbildet, in
einem durch Tradition vermittelten Zusammenhang mit der aposto-
hschen Zeit zu stehen, kennt zwar neben dem AT eine Masse
apostolischer oder inspirirter Schriften, die er als Orakelsammlungen
verehrt und in ihrer Gesammtheit ^i[i(i^ii nennt (Str. VII, 14, 84),
aber eben desshalb noch keinen fest geschlossenen, gegen Apo-
kryphisches abgegrenzten Kanon ^). In seinen um 200 geschriebenen.
») W. Schmidt S 462.
*) Gegen Tischendorf, Wann wurden unsere Evglien verfasst? 4. Afl
S 10, 123. LUTHARDT S 44 f.
") Vgl Tischendorf's Asg des Codex S XVIII, 468 f. Credner, Geschichte
des K. S 175 f. Westcott S 563.
♦) Zahn III, S 284.
*) Vgl. A. Harnack, Dogmengeschichte I, S 286 f. Es steht dahin, ob
Maximus Confessor (Schol. ad Dionys. theol. myst. I) ihn wirklich den Dialog
des lason mit Papiscus aul" den Verfasser von Lc und Act zurückführen lässt
m. Kap.: Der ältere Kanon. 4. Der alexandrinische Kanon.
155
Ibrigens nur in spärlichen Resten auf uns gekommenen Hypotyposen
it er nach Eusebius (KG VI, 14, 1 ; vgl. auch Photius, Bibl. 109)
lie gesammte hdidd-rpioq vpa'fTJ einschliessHch der kath. Briefe und
ler Apokalypse des Petrus behandelt {nsTzoirizai xolq SnfjYijastc) *). In
len noch zugänglichen Schriften dagegen sind 3 Job, 2 Pe und Jac
fgnorirt, wozu die Thatsache stimmt, dass die lateinischen Adum-
»rationes in epistolas cathohcas, welche eine lückenhafte Uebersetzung
ler Hypotyposen darstellen 2), gerade nur 1 Pe, Jud, 1 und 2 Joh
ifassen. Uebrigens citirt er Barn. (Str. II, 6, 31. 7, 35) und
lern. Rom. (Str. IV, 17, 107) als Schriften von Aposteln, Herm. als
jötthche Offenbarung (Str. 1, 29, 181. II, 1, 3. VI, 15, 131). Letzteres
Zusammenliang damit, dass ihm prophetische Schriften ĂĽberhaupt
loch als OffenbarungsbĂĽcher im eminenten Sinne gelten ; daher nicht
rtos die Petrus-Apokalypse (Ecl. proph. 41. 48. 49) wie eine yP^^iQ
gebraucht, sondern auch Sibylle und Hystaspes mit Achtung ange-
fen werden (Str. VI, 5, 43). Häufig führt er auch das XTJpoYjia
n^Tpoo ^), dazu die TuapaSöasK; Mat^ioo an ^), citirt die Ai§a^7j als
fpa'fTJ (Str. I, 20, 100) und macht keinen deutlichen Unterschied
Aschen roic TrapaSsSofisvot? 7j{xtv Tdirapaty soaYveXiOK; (Str. HI, 13, 93),
lie er ĂĽbrigens auf jeden Fall als dem AT gleichwerthig betrachtet
(daher die häufige Formel 6 vö{io? Y.cd ol Jupo'fr^Tat xal tö euaY^eXiov),
und den xat' AIyotctioo? und xat)-' 'EĂźpatoog betitelten, so dass auch
ein ausserkanonisches Schriftwort (yivso^s Söxt{JLOi Tpa;csCttai) als '(pcurpri
citirt werden kann (Str. I, 28, 177).
Wofern eine Unterscheidung von neutest. Schriften ersten und
reiten Ranges bei Irenäus ^) und Tertulhan ^) mit Unrecht gesucht
rd, so ist dieselbe dafĂĽr um so gewisser alexandrinischenUrsprungs.
•igenes machte zuerst die Differenzen verschiedener Landeskirchen
im Gegenstand der Reflexion und versuchte , sofern die Tradition
L. Harnack, Texte und Unters. I, 1 und 2, S 123) oder ob ein Schreibfehler
Spiel und von Clemens der Act 17, 7 — 9 genannte lason gemeint ist (Zahn
[, S 74).
') Dafiir, dass der wirkliche Thatbestand dieser Angabe entsprach, vgl.
UI, S 147 f, 151 f.
^) So nach Fell, Ittig, Bunsen, AVestcott, Hilgenfeld besonders Zahn
[, S 79 f, 133 f. Vgl. auch C. I. Neumann ThLz 1885, S 534.
«) Zahn S 155.
*) Vgl. Hilgenfeld, Einl. S 80 f; Nov. Test, extra can. rec. IV, 2. Afl
49 f, 60 f, 64 f, 71 f.
*) Overbeck S 33 f.
«) A. Harnack ZKö IU, S 399.
156 Geschichte des Kanons.
ĂĽber einzelne BĂĽcher keineswegs eine durchaus einheitliche, die
Verbreitung der Schriften keine gleichmässige war, eine Abgrenzung
und Abstufung dessen, was kanonisch sein sollte, welche nur zeigt,
dass wir auch hier der Strenge des dogmatischen Begriffs noch
ferner stehen. So weiss er vom xyjpoYjjLa ITsTpoo (De princ. praef. 8
ille liber inter ecclesiasticos non habetur) nicht, TuÖTspöv tcots Yvifjatöv
ioTtv Tj vö^ov Tj iiiZTÖv (iu Joli T. XIII, 17). Wie sich die einzelnen
BĂĽcher zu dieser gelegentlich versuchten Classification verhalten, er-
hellt theils aus Eusebius, der den Kanon des Origenes aus dessen
Commentaren zu Mt T. I und Job T. V und den Homihen zu Hbr
zusammengestellt hat (KGr VI, 25, 3 — 14), theils aus zerstreuten
Notizen der übrigen Schriften. In die 1. Blasse gehören die Evglien,
deren Vierzahl auf der Tradition beruht und die Kirche Gottes von
den Häretikern unterscheidet (Hom. I in Lc, vgl. in Job T. I, 6),
ferner vom Verfasser des 3. herrĂĽhrend Act (in Job T. I, 5. Hom.
7 in Jos), 13 Plsbriefe (auch Phm nach Hom. 19, 2 in Jer.), 1 Pe,
1 Job, Apc. Aber auch Hbr enthält pauhnische Gedanken (voTJjiaia)
und soll darum, wo in Geltung stehend, beibehalten werden; den
Schreiber des Briefes kennt nur Gott. Origenes seinerseits citirt
Hbr gerade wie alle anderen Plsbriefe.
Den reinen Gegensatz zu den YVYJaia bilden als vöO-a verwerfliche
Apokryphen. In der Mitte bewegen sich als a(i(ptĂźaXX6[iÂŁva oder
\LiY.zd Schriften, ĂĽber welche Origenes zu keinem Endresultat zu ge-
deihen vermochte. Er verhält sich mehr oder weniger kritisch
gegen Jac, Jud, 2 und 3 Job und 2 Pe (erstmalig erwähnt). In
den von Rufin in das lateinische und zugleich in das Orthodoxe
ĂĽbersetzten StĂĽcken treten diese Zweifel an der Authentie der kath.
Briefe allerdings zurĂĽck , wie dort auch 14 Plsbriefe erscheinen
(Hom. 7 in Jos.) und divina apostoH Jacobi epistola (Hom. 13 in
Gen. 3 in Ex.); ebenso ist Jud, dessen Echtheit dem griecliischen
Origenes nicht unbedingt feststeht (in Mt T. XVII, 30), im latei-
nischen Origenes Werk eines Apostels (De princ. HI, 2, 1 und zu
Rm 1, 1). Aber auch bezüghch der apostolischen Väter besteht
keine scharfe Abgrenzung des Kanonischen. HermaĂź, den er oft
citirt, gilt ihm als inspirirt (zu Rm 16, 14), als YP^'f^'l (Philoc. 8);
er kennt aber auch Christen, die ihm solche Eigenschaft absprechen.
Ausserdem weiss er von dem „katholischen Brief" des Barnabas
und fĂĽhrt auf ehrenvolle Weise Clem. Rom. und Ignatius an. Nur
nebensächliche Bedeutung haben für ilm die einigemal benützten
Evglien der Hebräer und des Petrus, ebenso auch :rpa^£tc IlaoXou
und ĂźiĂźXoc laxcbĂźoo, daraus er Nachrichten gibt.
IV. Kap.: Der spätere Kanon. 1. Von Eusebius zu Athanasius. 157
Von Alexandria aus ging der Versuch, mit dem Corpus apocalj^^ticum
aufzuräumen, nachdem der römische Presbyter Cajus dazu erstmalige Anleitung
gegeben. Von der Apokalypse des Petrus schweigt bereits Origenes und sein
SchĂĽler Dionysius greift auch die Authentie der johanneischen an. DafĂĽr gilt
die Apokal)T)se des Petrus dem Methodius noch als kanonisch. Im Allgemeinen
überwiegt im Morgenlande die in Folge der montanistischen Händel eingetretene
Abneigung gegen Apc, während im Abendland der in Alexandria seit Clemens
feststehende paulinische Ursprung von Hbr consequent abgelehnt wird. Bis in
die Mitte des 4. Jahrh. erscheinen die beiden Hälften der Reichskirche in dieser
Beziehung getrennt, wie in derselben Zeitperiode auch morgenländische und
abendländische Lesarten in grösserer "Weite des Abstaudes auseinandertreten,
als dies um 200 der Fall war. Anderntheils erscheinen Morgenland und Abend-
land in sich gespalten hinsichtlich des Hirten des Hermas , welcher nicht blos
in Gallien, sondern auch den nordafrikanischen und ägyptischen Kirchen als
kanonisch galt, entweder schon um seiner prophetischen Form willen, oder weil
man nach dem Vorgange des Origenes in seinem Verfasser geradezu eiĂĽen apo-
stolischen Mann (Rm 16, 14) sah.
Viertes Kapitel: Der spätere Kanon.
1. Von Eusebius bis zu Athanasius.
Das BedĂĽrfniss comparativer Kritik der kirchlichen Ueberlieferung
vererbte sich von Origenes auf den palästinischen Zweig seiner Schule,
und namentlich benutzte Eusebius von Cäsarea bei Abfassung der
Kirchengeschichte seine ausgebreitete Belesenheit in der altkirchlichen
Literatur zu einer umfassenden Sammlung von Zeugnissen fĂĽr und
gegen das Ansehen der bestrittenen Kanontheile. AVie Origenes,
so bestimmte auch er nach dem Gebrauche der Kirche, daneben
auch nach zerstreuten Aeusserungen älterer Schriftsteller, verschiedene
Grade apostoHschen Ansehens fĂĽr die einzelnen Schriften. So lange
sein Zeugniss den Kern alles dessen ausmachte, was man ĂĽberhaupt
von einer Geschichte des Kanons wusste, mochte es überschätzt
und fĂĽr abschliessend genommen werden. An sich bezeichnet auch
es so gut wie dasjenige seiner Vorgänger nur ein vorübergegangenes
Stadium in der Entwickelungsgeschichte des Kanons.
Nachdem er gelegentlich schon 4 EvgHen (HI, 24, 1 — 16), Act
(FI, 22, 1. 6. 7), 14 Plsbriefe (III, 3, 5), 7 kath. Briefe (II, 23, 25)
und Apc (ITI, 24, 18) erwähnt hat, hält er es für angemessen, eine
kurze Zusammenstellung der Ergebnisse seiner auf die kanonische
Literatur gerichteten Forschungen zu geben (III, 25, 1). Die jetzt
folgende , viel behandelte Hauptstelle '), womit jedoch zu verbinden
^) Aeltere Verhandlungen vgl. bei P. I. S. Vogel, De cauone Eusebiano
commentatio, 3 Theile 1809 — 11. Die neuere Literatur beginnt mit F. Lücke,
258 Geschichte des Kanons.
n, 23, 24. 25. m, 3. 16. 24. 31, 6. 38. 39. VI, 13, 6. 14, 1—7.
20, 3. 25, zeigt, dass die ^wrpid des Origeues hier als „allgemein
anerkamite Schriften" (6[ioXoYo6[i.ÂŁva, ava[x<pLXÂŁ%Ta , avavTLppvjTa , aber
III, 3, 4 auch YVTJaia) auftreten, nämhch Evglien, Act, Plsbriefe,
1 Joh und 1 Pe, wozu man, wenn es recht scheint (sIys «paveiT]) Apc
zählen könne, xai laöia [jlsv Iv 6{xoXoYOO{JL£Vot(: (III, 25, 2). Davon
werden zunächst unterschieden avTiXs^ö^isva , 7Vü)pt[jLa Ss toic 7roXXor<;,
d. h. Schriften, von denen Eusebius als Historiker urtheilte, dass
weder ihre Bezeugung eine genĂĽgend alte, noch ihr dermaliger Ge-
brauch ein ganz durchgängiger war, nämlich i^ Xe^opisvir] 'lazwßou
y.ax ri 'looSa ^te EsTpoo Ssorspa STĂĽiaToXY] xal i^ 6vo[iaCo[XÂŁVY3 Ssotspa
xat TpiTY] 'IwavvoD, siTs Toö soaYYsXtaTOö TOY/dvooaai sirs xat erspoo
6|i.a)v{)[u>o ÂŁXÂŁiv(j) , also richtig die {jLixia des Origenes (25, 3). Von
hier beginnt die Unklarheit der Classification, da die zu erwartenden
vö^a zwar auftreten, aber nicht in hinlänglich deuthcher Abgrenzung
gegenüber den avitXsYÖfjLsva. Denn zu jenen „muss man auch rechnen"
(25, 4 SV Tolc vö^otg xaTaTSTd/O-w zal) Acta Pauli, den sog. Hirten
die Apokalypse des Petrus, Barnabas und At^a^ai dTroaröXcav, also
lauter Schriften, die bei früheren, namentlich alexandrinischen Vätern
noch als Autoritäten gegolten hatten, seither aber immer allgemeiner
als ĂĽberhaupt unapostolisch oder den Aposteln untergeschoben er-
kannt worden waren. „Ferner, wie schon bemerkt , wenn es recht
scheint (st (pavsiYj), die Apokalypse des Johannes, welche von Einigen
verworfen, von Anderen zu den Homologumenen gezählt wird. Hier-
her rechnen Einige auch das Hebräer-Evglm, dessen sich besonders
die Judenchristen bedienen. Alle diese Bücher gehören zu den Antile-
gomenen (25, 5 zc/xncn [isv TĂĽdvta twv dvTtXsYO{XÂŁV(ov av sIt]). Sie waren
gleichwohl aufzuzählen, wobei ein Strich gemacht wurde zwischen den
durch die kirchliche Tradition allgemein anerkannten Schriften und
denen, die zwar nicht lv§id^Y]xa, sondern dvrtXsYÖfxsva, dennoch aber
bei den meisten Gremeinden bekannt sind (o|xa)c Ss ;:apd TiXsiaiot^
Tcbv sxxXYjataartxwv Ytv(oaxo{xsva(;)". Das lautet allerdings so, als ob
avTtXsYÖ[i.sva gleich vö^a seien und unter dem gemeinsamen Namen
ivStdD-Tjxa der ersten Classe gegenĂĽber gestellt wĂĽrden, so dass man
es schon bei Unterscheidung von 2 Hauptclassen , deren zweite
freilich verschiedenerlei Gruppen umfassen mochte, bewendet sein
Hess '). Eine 3. findet man dagegen herkömmlicher Weise ün Fort-
gange angedeutet, wo von den eben erwähnten unterschieden werden
Ueber den neutest. Kanon des Eusebius 1816. Vgl. im Uebrigeu Eusebii Pani-
phili scripta historica ed. Heinichen III, 1870, S 87 f, 662 f.
*) So Ch. f. Schmidt, Berthold, Credner-Volkmar S 202, 204.
IV. Kap.: Der spätere Kanon. 1. Von Eusebius zu Athanasius. 159
„die von Häretikern unter apostolischen Namen an's Licht gebrachten
Werke, die Evglien des Petrus, Thomas, Matthias und einiger An-
derer ; die Thaten des Andreas, Johannes und der anderen Apostel,
welche kein rechtgläubiger Kirchenlehrer irgendwie angeführt hat
(25, 6). Auch nach Inhalt, Schreibart und Geist weichen sie von
den apostolischen Werken weit ab. Man muss sie auch nicht zu
den vö^a zählen, sondern verwerfen als ganz unzulässige und gott-
lose Werke (25, 7 aioTua TrdvTT] xat Su^asĂź*^)."
Dass Eusebius mindestens Gleichmässigkeit des Ausdrucks vermissen lässt,
^eht schon daraus hervor, dass dieselben BĂĽcher bald voD-a, bald avxiXsYoptsva
lieissen. Auch sonst gebraucht er beide Termini promiscue. Jac ist in, 25, 3
avTtXeYOH-svov, dagegen IT, 23, 25 vo^sĂĽstat, was auch von Jud gilt; Hennas ist
III, 25, 4 vgO-ov, III, 3, 6 aber avt'.XÂŁYO|AÂŁvov. Auch in der principiell fĂĽr die
Dreitheilung entscheidenden Stelle III, 31, 6 sind die avxtXeY^[J-ÂŁva als ev nXĂĽzxrxiq
ExxXTjotatc; 5s5*r]jjLOG'.£U[i.3va (vgl. III, 3, 1 ttoXXoT«; ^^pYja'.fAot), d. h. als Schriften
charakterisirt, in Bezug auf welche kein tiefer gehendes Schwanken im Urtheil
der Gegenwart mehr Statt hat; gleichwohl, als wären auch sie v68-a, werden von
ihnen als eine 3. Classe die Krxvxzküic, vo^rx zal vTi^ auociToX'.xYj? opO-ooo^ta«;
aXXoTpia unterschieden. Während femer 6}jioXoyoujjlevo(; im Locus classicus gleich-
werthig ist mit evocaiHjxo?, wird III, 16. 38, 1 jenes Prädicat auf den Clemens-
brief angewandt, wo es nur allgemeine Anerkennung seines clementinischen Ur-
sprungs, nicht Kanonicität bedeuten kann. Ihn neben Herm. und Barn, unter
den votJ-a zu nennen, hat Eusebius III, 25, 4 wohl nur vergessen, während er
ihn VI, 13, 6 mit Hljr, Barn, und Jud als avTiXeYojJ-svov auffĂĽhrt. Der Clemens-
brief ist also ^>}xoXoYo6jj.ÂŁvov, avxtXsYOfAsvov und voO-ov zugleich.
Die bei der Classification zu Tage tretenden Unklarheiten und Wider-
sprĂĽche suchen ihre Ursache in dem AnschlĂĽsse des Eusebius an die Dreitheilung
des Origenes einerseits, in seiner Accomodation an mittlerweile vollzogene Ver-
chiebungen im kirchlichen Gesammtbewusstsein andererseits. Unter jenem Ge-
ichtspunkt erschienen die Bestandtheile des Urkanons als 1., die 5 beanstandeten
kath. Briefe als 2., die allmälig aus dem Kanon als v6t)-a ausgeschiedenen Werke
als 3. Classe, denen sich die navxeXü)«; v69a, d. h. häretische Fälschungen zwar
nicht gerade wie eine 4. Classe ') — denn sie wurden nirgends zum NT gerechnet
— al)er als eine Art Anhang, der den Gegensatz zur Lehre und Gottesdienstsitte
<l«'r kath. Kirche illustrirt, anschliessend). Nun fiel aber die Schranke zwischen
(U'.r 1. und 2. Classe gerade zur Zeit des Eusebius, ja durch ihn selbst, sofern er
lĂĽr Konstantinopel (S 48) wahrscheinlich bereits 7 kath. Briefe a])schreibeu
Hess"). Unter dieser Voraussetzung ergaben sich die Classenunterschiede der
Stelle in, 31, 6: 1) upa Yp'^^J-'^xa, 2) avxtXsYofxsva (= voO-a), 3) ttavxeXdit; vo^ol.
Das Schwanken der Hauptstelle zwischen beiden Eintheilungsprincii)ien erklärt
man jetzt gewöhnlich durch die Annahme einer von Eusebius stillschweigend
angebrachten Subdivision der 2. Classe in solche Schriften, welche der 1., und
*) So Weber, MĂĽnscher, .T. E. Ch. Schmidt, Stroth, Eichhorn, Hornk
1, S 73 f.
'') So Lipsius, Die apokryphischen Apostelgeschichten I, S 48.
*) Credner-Volkmar S 210 f. Hiloenfeld S 119.
160 (xeschichte des Kanons.
in solche, welche der 3. Classe näher stehen, sofern der Schatten, welchen jede
in der Bezeugung einer Schrift angetroffene LĂĽcke auf ihren apostolischen Ur-
sprung fallen Hess, von der Lichtseite ĂĽberboten werden oder aber der umge-
kehrte Fall statt haben konnte '). Wenn in der 2. Unterabtheilung zunächst die
nach Pls, Hermas und Petrus benannten Apokryphen als „auch" hierher gehörig
auftreten, so könnte hier Rücksicht auf ein Verzeichniss obwalten, darin wie
z. B. im Can. Claromont. gerade noch sie mit den bisher aufgefĂĽhrten Schriften
zusammengereiht waren ^). Die Scheidung, die jetzt zwischen ihnen und den
5 kath. Briefen vollzogen wurde, hat jedenfalls Bedeutung gehabt, sofern sie
gerade den späteren Kanon gegen die Apokryphen abgrenzt. Für Eusebius selbst
war diese Linie eine noch theilweise flüssige, demgemäss auch der Begriff des
Kanonischen kein ganz fester. In der Theorie deckt er sich niit dem des Aposto-
lischen, in der Praxis bestimmt die Tradition seinen Umfang.
Noch im Verlauf des 4. Jahrh. kommt es zum Abschluss des
Kanons, indem ein längeres Schwanken der durch den Trinitäts-
streit heftig bewegten Kirche, die eines sicheren Beweisinstrumentes
bedurfte, unerträglich wurde. Wenn die Origenisten bis auf Euse-
bius den Umfang des Kanons möglichst auf das unbedingt Sichere
zu beschränken gedachten, so überwiegt jetzt das praktisch-kirchhche
Interesse. Dieses war auf möglichste Erweiterung der heihgen
Sammlung gerichtet. Nichts ApostoKsches sollte verloren gehen.
Sah man in Jakobus und Judas nicht mehr leibliche BrĂĽder Jesu
— solches verbot das Dogma — sondern mit ihm verwandte Apostel,
so fiel es um so leichter, ihre Briefe zu kanonisiren. War aber ein-
mal die 1. Unterclasse der eusebianischen Antilegomenen kanonisirt,
die 2. definitiv fallen gelassen, so brauchte nur noch das Morgen-
land vom Abendland Apc, das Abendland vom Morgenland Hbr
anzunehmen und der Kanon war fertig, d. h. der Thatbestand ent-
sprach endlich dem Begriffe, welcher nur so lange geĂźlhrdet erschien,
als noch eine zweifelhafte Mittelclasse existirte. Diese musste ver-
schwinden, wenn das Ideal einer heihgen Literatur gleichmässig ab-
gerundet und alle Uebergänge zwischen ihr und der profanen Lite-
ratur abgeschnitten werden sollten. Der Situation entsprechend
traten jetzt zumeist Kirchenmänner und Väter der Orthodoxie, wie
Athanasius hier, Augustinus dort, in Action; Päpste und Kirchen-
versammlungen vollendeten das Werk.
Schon zur Zeit Tertullian's (De pudic. 10) haben sich Synoden
mit der Frage nach dem kanonischen Charakter einzelner BĂĽcher
befasst. Eine um 363 im phrygischen Laodicea abgehaltene Pro-
*) So Hänlein, Rössler, Rkuss, Bleek-Mangold, A. Harnack , Westcott
8 421 f. W. Schmidt S 464 f. Schmiedel S 328. Zahn III, S 278 f.
*) Credner-Volkmar S 204.
IV. Kap.: Der spätere Kanon. 2. Name und Begriff des Kanons. \ß\
vincialsynode will Can. 59 keine axavövtata ßtßXta, aXXa [löva xa xavo-
vtxa rf^<; ^nxrlf xat TiaXaia? Sta^TJZTjc zur Verlesung im Gottesdienst
gelangen lassen; hierauf bringt Can. 60 ein Yerzeichniss, darin nur
Apc fehlt; die 7 kath. Briefe stehen vor denen des Pls und unter
diesen Hbr vor Pastoralbriefen; beides vorbildlich fĂĽr die von jetzt
an immer bemerklicher werdende Praxis des Morgenlandes im Gegen-
satze zum Abendland. Ist dieses Verzeichniss auch unecht ^), so
trifft es doch auf jene Zeit zu und könnte möglicherweise den
Index zu einer eusebianischen Bibel (S. 48) darstellen -).
Mit dei^elben Ausnahme (Apc, vgl. Catech. 16) vertritt unsern
jetzigen Kanon auch Cyrill von Jerusalem, welcher 348 diejenigen
Schriften, darauf der rechte Glaube ruht, aufzählt und vor Apo-
kryphen wie Evglm Thomae warnt (Cat. 4, 33 — 36). In das Jahr 367
fällt das Unternehmen (r6X|xa) des Athanasius in seiner 39. Epistola
festahs ^^'^c sx-O-^^dat la zavovtCo[iLÂŁva xal Tuapaoo^evta TctaTsoO-svia ts
O-tia slva'. ĂźiĂźXia. In dieser Absicht nimmt er die origenistisch-
eusebianische Dreitheilung noch einmal auf, aber so , dass zur
1. Classe alle kath. Briefe und Apc (erstmalig in der griechischen
Kjrche) gehören. Von ihr sowohl wie von der 3. Classe (a:rözpo^a)
unterschieden sind die in einer 2. vereinigten LesebĂĽcher (avaYtvwa-
7.d{JL£va), d. h. ausser den alttest. Apokryphen Ai^ayri twv aTroaiöXcov
und Hermas, den Athanasius selbst erst allmähg von kanonischen
Schriften unterscheiden lernte ^).
2. Name und Begriff des Kanons.
Aus der bisherigen Bildungsgeschichte des Kanons ergibt sich
der Begriff, welchen man mit dem Namen verband. Zwei Ansichten
stehen sich in dieser Beziehung gegenüber. Die ältere und her-
kömmhche geht zurück auf die ursprünglichste Bedeutung des Wortes:
gerader Stab (xavva, xdvvYj, hebr. kaneh), womit man messen kann,
daher ĂĽbertragen auf Alles, was dazu dient. Anderes zu bestimmen
und zu beurtheilen ; also das Maassgebende, Maassstab, Richtschnur,
Grundsatz , Regel , Norm. So Gal 6, 16. 2 Cor 10, 13—16, wo
Vulg. ĂĽbersetzt regula. So auch der kirchHche Sprachgebrauch seit
Clem. Rom. 1, 3. 7, 2. 41, 1. In diesem Sinn hat Alles nach des
^) So seit Spittler (Kritische Untersuchung des 60. Laod. Kanons 1777)
und wieder seit Crkdner (Geschichte 8219) die Meisten, auch Diestel (Geschichte
des AT S 72) und Schradkr (de Wette's Einleitung zum AT 8. Afl S 55); vgl
Westcott S 433 f.
") Credner-Volkmar S 217 f, 220.
») Zahn, Hermas S 37 f.
Holtzmann, Einlei tang. 2. Aaäage. H
\Ăź2 Geschichte des Kanone.
Valentinianers Ptolemäus Brief an Flora seinen Kanon an der Lehre
des Herrn (Epiph. Haer. 33, 7 Tcavoviaai mymQ zobQ Xöyooc t-g toö
aa)r^po<; tjjiwv SiSaaTtaXio^) und ĂĽberschickt in der 1. Einleitung zu
den Clementinen Petrus seine Reden an Jakobus als xavwv, damit
dieser sie den 70 BrĂĽdern ĂĽbergebe und auf diesem Wege der Auf-
lösung der Wahrheit gesteuert werde. Aber auch die orthodoxen
Väter appelliren seit Polykrates, Irenäus, Clemens AI. an den Ttavcbv
zriQ sxTtXTjaiac oder r^g aX-qd-eloLQ oder it^g tcigtsox; im Kampfe gegen
diejenigen, welche nach dem Ausdrucke sei es des Hegesipp, sei es
des ihn excerpirenden Eusebius (KG III, 32, 7) tov oy^^ xavöva xoö
awTYjpioo ZYjpoYjxaTOc verderben. Wie er ihn von Polykarp empfangen,
so hat Irenäus nach der Moskauer Recension des Martyriums Poly-
karps den B%zXY]ataaTtxö(; xavwv xal %>x^oki%6<; weiter überliefert ^).
Gemeint ist damit nichts Anderes , als das Gemeinbewusstsein der
Kirche in seiner Allgemeinheit und Totalität, nach welchem alles
Einzelne gemessen werden soll, speciell die „eine und unveränder-
liche regula fidei" (Tertull. De virg. vel. 1), in welcher der normative
Inhalt jenes Bewusstseins seinen ĂĽberlieferbaren Ausdruck gefunden
hatte, das bestimmt interpretirte Taufsymbol (vgl. Iren. I, 9, 4 outw (js
y.cd 6 TÖv zavöva t"^? aXyj^ciac axXtv^ sv iaoTc]) xais^^wv ov 8ia. xoö ßaTrxia-
\iaxo(; siXyj^s) ^). Auf die heiligen Bücher aber findet dieser ältere
und weitere Begriff von otavwv ^; Anwendung entweder active, weil sie
als Richtschnur dienen, maassgebend sind fĂĽr den Inhalt des Glau-
bens ^)j oder passive, weil sie am richtigen Maassstabe gemessen,
d. h. von der Kirche bestätigt sind ^). j
Auf Grund der entwickelten Bedeutung des Wortes bildete
sich aber die noch bestimmtere , concretere : gezählte Reihe , ge-
schlossene Reihenfolge , Verzeichniss oder Register ^). In diesem
^) Patr. apost. op. 11, S 168.
^) Vgl. A. Harnack, Dogmenschichte I, S 263.
^) Immer in Einzahl. Erst seit etwa 300 erscheint in Anwendung auf
Verftissung und Disciplin der Plural; den concreten Inhalt des Kirchenrechts
bilden xavovsc; der Apostel, Concilien u. s. w. Die 10 xavovs? des Eusebius
(S 39) jedoch sind Tabellen und gehören schon dem engeren Sprachgebrauch an.
*) So die gewöhnliche Erklärung, zuletzt W. Schmidt S 466.
") Westcott S 504 f, 509 f.
®) So zuerst Semlkr, Abhandlung von freier Untersuchung des Kanons
I, 1771. Dann Bahr ZwTh 1858, S 141 f. Holtzmann, Kanon und Tradition
1859, S 100. RoTHK, Zur Dogmatik 1863, S 312. Steiner BL III, S 481 f.
Insonderheit machte Hilgenfeld auf den verwandten Sprachgebrauch der alten
Philologen aufmerksam (Kanon und Kritik des NT 1863, S 65 f; Einl. S 33 f.
Vgl. aber SuhmieĂĽel S311). Gegen eine absonderliche Theorie CreĂĽner's (Zur
IV. Kap.: Der spätere Kanon. 2. Name und Begriff des Kanons. 163
Sinne sprechen lateinische Schriftsteller von Ordo oder Numerus
(Quintilian X, 1, 54), wie auch Hieronymus xavcov wiedergibt (Ep
53, 8 ad Paulinum von Hbr: a plerisque extra numerum ponitur.
Prolog, gal. in 2 Reg). Ebenso ist zu beurtheilen der Sprachgebrauch
bei TertulHan (Praescr. 26; vgl. 31 evolvant ordinem episcoporum.
Marc. 3, 13 evolve prophetas et totum ordinem recognosce) und im
Can. Mur., wenn vom completus numerus prophetarum die Rede ist *).
Das Fragment will die beim Cultus zu gebrauchenden, öffentlich vor-
zulesenden Bücher der Propheten und Apostel aufzählen, ist also
selbst ein ordo oder xavwv. Die Liste der Kleriker heisst schon auf
dem Concil zu Nicäa 325 (can. 16. 17. 19) xavwv = xaidXoYOc (daher
xavovtxöc ein im Verzeichniss Aufgeführter). Nur wenn der Terminus
in diesem Sinne, also eine abgeschlossene Gesammtzahl bezeichnend,
auf die alttest. und neutest. Schriften Anwendung fand, erklärt sich
der Passivbegriff xszavoviafxsvo?, zavoviCöfisvoc , axavövtaTOc , wie er
gleichzeitig zu Laodicea und bei Athanasius, aber auch in der pseudo-
athanasianischen Sovorjjic s7rtTO{xor ttj? d-da<; '^(pciLffi<; begegnet ^), die den
Kanon des Athanasius mit schärferer Betonung der Kanonicität von
Apc gibt und urtheilt: Tuäcja Ypa'^Tj r^i^wv XpiaTiavüJvO-sÖTrvsoaTÖg iartv, odx
aopiGxa o£, aXXa {xäXXov wpwfxsva xai xs7tavovia[X£va l^^st ta ßtßXia ^).
Gesch. S 1 f, 58, 60 f, halb zurĂĽckgenommen schon in der Geschichte des
Kanons S 103 f, 211 f), vgl. Baur S 142. Westcott S 413, 504 f, 509. An
die Zahl 22 als die Zahl des hebräischen Alphabets und zugleich, was Origenes
und Athanasius hervorheben, des alttest. Kanons, aber auch des neutest. in seiner
älteren Gestalt, erinnert Mangold bei Bleek S 823, 839. Das Indiculum Afric.
zählt 24 Bücher des AT nach der Zahl der 24 Presbyter Apc 4, 4. 10. Aber
auch die aufgeführten Bücher des NT weisen dieselbe Zahl auf, falls nämlich Jac und
Jud nicht berĂĽcksichtigt sein sollten (vgl. unten S 172).
') Auch den ordo scripturarum in der Angabe zu Rm ĂĽbersetzt Hilgenfeld
S 98 mit 6 Twv '(^rx'^iĂĽv xava>y, was aber nach Mangold S 837 im Sinne von
regula, norma zu verstehen wäre. A. Harnack ZKG III, S 362 will ordo hier
mit argumentum (Inhalt) wiedergeben, gesteht aber zu, dass an 3 anderen
Stellen des Can. Mur. ordo Reihenfolge ist.
*) Gilt gewöhnlich (Bleek, de Wette, Reuss) als nicht lange nach Atha-
nasius verfasst, ist nach Credner (Zur Geschichte S 127 f, 145; Geschichte
S 247 f), HiL(iENFELD (S 142), LipsiĂĽs (Apokryph. Apostelgesch. I, S 59) und
Tischendorf-Gregory (Prol. S 133) eine Bearbeitung der Stichometrie des
Nicephorus, welche den Begriff ä-stai '^prxifoX exxXf)oiaC6|xevai xal xexavovtajAlvat
kennt. Wie aber jenes Kanonverzeichniss jünger, so ist dieses erheblich älter,
als sein angeblicher Verfasser, der konstantinopolitanische Patriarch Nicephorus
(um 800), zu dessen Chronographia compendiaria es einen Anhang bildet.
•^) Baur S. 147 f: „Kanonisirt oder kanonische sind die Schriften des A
und NT, sofern ihre Zahl keine unbestimmte, willkĂĽrliche, ab- oder zunehmende,
sondern nur diese bestimmte und kirchlich festgesetzte ist, sofern es also keine
11*
jĂź4 Geschichte des Kanons.
Bald nach Athaiiasius schreibt derselbe Amphilochius von Ikonium,
welcher eine verlorene Schrift Tuspl twv ^'S'^^.s^^ypa'f wv twv Tza^A alpsii-
xotc verfasst hat, von den kirchhch anerkannten Schriften, die er
aufzählt: odto? a(|>so8saTaToc zavwv twv ^soTüvsoatcov Ypa^pwv (lambi ad
Sei. 318. 319). Man erklärte sich mithin das Specifische an dieser
genau abgegrenzten Literatur aus dem, von der jĂĽdisch-alexandrini-
schen Theologie in bereits ausgefeiltester Grestalt bezogenen Schul-
begriif der Inspiration. Chrysostomus spricht von einem zavwv ^stac
Ypa'xf^c; (wofĂĽr er Hora. 10 in Gen zuerst den Gesammtnamen za
ßtßXia Bibel hat) und definirt ihn als das, was oois Tupöcj^saiv ours
atpatpsaiv Ss^^stat (Hom. 58 in Gen).
Ein klares Bewusstsein um diesen Sachverhalt, demzufolge das Wort xavtov
in seiner Anwendung auf die heil. Schriften ein Formbegriif ist und seine Er-
klärung nicht erst auf einem Umwege über den Kirchenglauben empfängt,
hat freilich dem kirchlichen Alterthume nicht zu Gebote gestanden. Der ältere
und allgemeinere Gebrauch von v-aviov = regula ĂĽbte einen zu grossen Druck
aus*) und veranlasste Vermischung der "Worte und Begriffe, wie wenn Isidor
von Pelusium xöv vtavova tyji; ftXY]^£ia<;, xä<; ö-eia? ^iqfj.1 '(pa^pdc. zur Sprache
bringt (Epist. IV, 11). Vorangegangen war ihm in dieser, schon fĂĽr den
spanischen Isidorus (EtjTn. VI, 16, 1) selbstverständlich gewordenen, Auffassung
des Begriffs xavtov Rufinus (Expos, symb. 37 und 38), welcher seinerseits eigen-
mächtig den Origenes dieselbe Sprache reden lässt*). In Wahrheit aber bot
der griechische Text des Letzteren da, wo ihm der Uebersetzer libri canonici
oder reguläres (als hiessen sie so, weil sie regula = -xavcov enthielten) substituirt.
andere Schriften dieser Art gibt als eben nur diese, die eben desswegen keine
aopiaxa, sondern (upiajAsva sind. Eben daher werden sie auch als solche der un-
bestimmbar grossen Zahl der auf sie folgenden Schriften der kirchlichen Literatur
entgegengesetzt" .
*) Man beachte, dass die kath. Christen sich selbst als solum verum Deum
doctorem sequentes et regulam veritatis habentes ejus sermones (Iren. IV, 35, 4)
geschieden wussten von den yP"^«? \^^^ •O-eia? acpoßujt; ppaStoopY'^xaai uiotsu»;
xe Äpxata? xavova •JjO'sx-fjv.aai (Euseb. KG V, 28, 13), d. h. den Häretikern.
*) Redensarten des lateinischen Origenes wie in canone haberi (Prol. in
Cut und Hom. 7, 1 in Jos), scripturae canonizatae (zu Mt 23, 39 f, Comm. ser. 28)
oder canonicae (De princ. IV, 33. Prol. in Cnt und zu Mt 24, 23 f. Comm.
ser. 46) oder ĂĽber regularis (zu Mt 27, 9. Comm. ser. 117) kommen desshalb
am wahrscheinlichsten auf die Rechnung des Uebersetzers (so Redepenning,
Crkdner, Schmiedel, W. Schmidt S 463, 466 gegen Hilgenfeld, Westcott u. A.),
weil der bei allen derartigen Fragen direct an Origenes anknĂĽpfende Eusebius
den Terminus technicus xaviuv in diesem Sinne noch nicht kennt. Nach ihm
hat vielmehr Origenes tov exxXTjoiaotwov ^poXatTtuv xavova nur 4 Evghen an-
erkannt (KG VI, 25, 3); vgl. damit Origenes Hom. 1 in Lc: quatuor tantum
evangelia probata sunt, e quibus sub persona domini et salvatoris nostri profe-
renda sunt dogmata . . . . in his omnibus nihil aliud probamus nisi quod eeclesia.
Wie die Auswahl so wird ĂĽbrigens auch die Auslegung dieser von der Kirche
dargebotenen Schriften durch den xavu>v tyj? niaxeo)? bestimmt (De princ. IV, 9).
rV. Kap.: Der spätere Kanon. 2. Name und Begriff des Apokryphischen. 165
den Ausdruck ev^iaO-T^v-o«; (Philoc. 3 Euseb. KG VI, 25, 1), welcher unsere
Deutung nur bestätigt. Was in die gezählte Reihe der classischen Literatur
des Christenthums aufgenommen, kanonisirt wurde, ist eben damit ein Theil der
Sammlung geworden, welche 5tad-fjxYj heisst. Mit dem barbarischen ÂŁvBta^Yjy.O(;
promiscue gebraucht Eusebius svSiaO-sxo? (bei Isidor. Epist. 1 synonym mit
v.ExavovtofXEvo?, bei Epiphanius Haer. 51, 18 Gegensatz zu ftTioxpocpo?). Schon bei
Herodot (4, 6) heisst Onomacritus oiaO-exf]«; )^p-r]a/x(Jüv tdiv Mouoaioo. So sind
also auch die ^pa^fotX evSidö-exai wieder geordnete, redigirte, in Reihe und Glied
gebrachte Schriften. Irenaus, Eusebius, Athanasius, Amphilochius und Severianus
lieissen bei Kosmas Indikopleustes (Topogr. VII, ed. Montfaucou S 229) ol
3. Name und Begriff des Apokryphischen.
Mit ihren Abweichungen vom späteren Kanon gibt schon die
frĂĽhere Gnosis Anlass zur Entstehung des Namens und Begriffs des
Apokryphischen, welcher insofern älter ist als der Gegenbegriff des
Kanonischen, daher auch nicht lediglich aus diesem Gegensatze Er-
klärung findet. Ein a[j.6d7jTOV ^:'kf^^•0(; aTroxpo^pwv %al vö^wv Ypa^wv
findet Irenäus (I, 20, 1) bei Marcus. Wie dieser, so führten auch
die ĂĽbrigen Gnostiker die Schriften, in welchen ihre Systeme direct
l)egrĂĽndet waren, auf dem Wege einer geheimen SonderĂĽberlieferung
auf alt- und neutest. Personen zurĂĽck. Daher der Name a^xpixpa
;unächst nur im Gegensatz zu den §Yj{iöata oder §e§7]|ioat£U{JL£va oder
y.oivd z. B. des Valentinus (Clemens Str. VI, 6, 52) gemeint ist, was
auf die jüdische Unterscheidung der öffentHch vorlesbaren Bücher
von solchen, die sich dem Gemeindegebrauch entzogen, zurĂĽckweist *).
1 n dieser Richtung unterscheidet noch Origenes von den zum öffent-
lichen Gebrauch gelangten ßißAia zotva 7tat §£§irj[JLoaL£0[i£va (in Mt T.
X, 18), auch 'favspa, in der Uebersetzung scripturae publicae ge-
nannt, die aTTĂ–xpocpa, libri secreti, non manifesti (Epist. ad Afric. 9),
die aber keineswegs alle von vornherein verwerflich sind (zu Mt
27, 39. Comm. ser. 28). Andere kirchliche Schriftsteller dagegen
verbanden mit dem Begriffe des Geheimen und Geheimnissvollen,
welcher ursprüngHch allein im Ausdruck lag, denjenigen des Häre-
tischen und Unechten, des Gefälschten und Verwei*flichen ^). Denn
da öffentliche Vorlesung Zeichen des normativen Ansehens war,
konnte nicht blos ein Beigeschmack mindern Ansehens, sondern
.('ladezu der Begriff des Abnormen sich leicht zu der Vorstellung
*) HiLGENFELD S 31 ; Kctzcrgeschichte S 300 f. So heissen auch die
Schriften älterer Weisen, deren sich spatere Schulen bedienen, bei Clemens
(Str. I, 15, 69) Ai)()kryphen.
^) MovERs, Kirchenlexicon I, S. 32H. (Iieseler StKr 1829, S 141 f.
JiLEEK ebeudas. 1853, S 267 f. Einleitung S 82<\
jgg Geschichte des Kanons.
einer nicht allgemein zugänglichen Literatur herzufinden, zumal einer
von ihren gnostischen Urhebern selbst als apokryphisch bezeichneten. ,
Möglich daher, dass schon Hegesipp, nicht erst der Bericht erstattende
Eusebius (KG IV, 22, 9), den Ausdruck aTuÖTtpocpa von häretischen
Werken gebraucht ^). Dem Irenäus ist er gleichbedeutend mit vö^a
geworden, BĂĽcher bezeichnend, deren Verfasser fĂĽr fingirt, deren
Inhalt fĂĽr verwerflich, deren Leserkreis fĂĽr ketzerisch gilt. Apokry-
phen in diesem Sinne sind wissentlich und fälschlich im Namen von
Aposteln in Umlauf gesetzte Schriften , die kanonisch sein wollen,
es aber nicht oder nur für Häretiker sind. So leitet Clemens (Str.
m, 4, 29) ein häretisches Dogma 1% Tivog aTuoxpö^oo ab, und er-
klärt TertuUian (De pudic. 20) den Barnabasbrief für receptior
apud ecclesias illo apocrypho pastore moechorum. Apokryphisch
ist daher fĂĽr die apostol. Constitutionen (6, 16) gleichbedeutend mit
(pd-opoTzoi6<;y fĂĽr den jerusalemischen Cyrill (Cat. 4, 36) mit (|;ÂŁoSÂŁm-
7pa<po<; und ßXaߣpö(;. Den verschiedenen Ursprung der in dem
gleichen Terminus sich begegnenden Vorstellungsreihen erkennt man
noch, wenn Philastrius (Haer. 88) die Apokryphen scripturae ab-
sconditae nennt, welche morum causa a perfectis, non ab omnibus
legi debent, mit der dazu wenig passenden Bemerkung: multa addi-
derunt et tulerunt quae voluerant haeretici; oder wenn Epiphanius
zwar mit dem Ausdrucke a7rö%pu(po(; in der Regel ein tadelndes
Urtheil verbindet (Haer. 26, 5. 45, 4. 47, 1. 62, 2), gelegenthch
aber Sta za sv z^l aTĂĽozaXo^JSi Ăźa^-swc; %al axoTsivw? eiprjixsva dieses
Johannesbuch, trotzdem er es in den Kanon setzt, ein Apokryphum
heisst (51, 3); ähnHch thut noch Gregor von Nyssa (In suam ordin.
Op. II, S 44 f Iv a7üoxpö(pot? di aivtY{iaTa)V Xsysi). Andererseits be-
gegnet selbst in Theodoret's Angaben ĂĽber die Quartadecimaner
(Haer. fab. 3, 4 >t£)(pY]VTai %al zcnU 7r£7rXavY]{x^vai(; twv aTuooTöXwv jupa^eat
xal zoiq akXoiQ vö^oi? . . . a xaXoöatv a;:öxpt)(pa) eine traumhafte Er-
innerung an die häretische Herkunft des Ausdrucks.
Von einer anderen Seite her kam ein neues Schwanken in den
Sprachgebrauch. Die Kirche musste Stellung nehmen gegenĂĽber
derjenigen Literatur, welche mit Abschluss des Kanons grundsatz-
mässig aus dem kirchhchen Gebrauch zu entfernen gewesen wäre,
während das Urtheil der an den erbauhchen Gebrauch derselben
gewöhnten Gemeinden ein minder rigoros- doctrinäres Wieb. Diese
praktische NÖthigung hatte zur Bildung und längeren Aufrechterhal-
tung jener Mittelclasse gefĂĽhrt, welche Athanasius fĂĽr den Gebrauch
») So HiLGENFELD, Kanon S 68; Einl. S 31; ZwTh 1876, S 194.
I
rV, Kap.: Der spätere Kanon. 3. Name u. Begriff des Apokryphischen. 167
im Katechumenen-Unterricht, Riifinus (Exp. in symb. 37) sogar als
VoiiesestofF, nur nicht als Glaubensnorm zulassen will. So lange
die Mittelclasse existirte , war der Gegensatz zum Kanonischen ein
doppelter: es gab nicht blos einen häretischen Gegenkanon von
gefälschten Schriften, sondern auch einen kirchlichen Seitenkanon
mit BĂĽchern von nicht ausreichend beglaubigter apostolischer Her-
kunft. Unter die letztere Kategorie fielen je nach örtlichem Her-
kommen auch neutest. Schriften, sofern man sie als kanonisch etwa
noch nicht gelten Hess (Hieronymus in Ps 149 Apc in ecclesiis
legitur et recipitur, neque enim inter apocryphas scripturas habetur,
sed inter ecclesiasticas), oder pseudoapostoHsche {Aidayri ^^^ Apo-
calypsis Petri) und unapostohsche Schriften (Barn, und Herm. in J<,
die Clemensbriefe in A), sofern man an ihre Verlesung im Gottes-
dienste gewöhnt war, vielfach aber auch, von gelegentlichen Send-
schreiben anderer Gemeinden und Bischöfe abgesehen, Acta martyrum,
Geschichten der LocaUieiligen (legenda); so nach demselben Concil
zu Karthago von 397 (can 47 : hceat etiam legi passiones martyrum,
quum anniversarii eorum dies celebrantur), welches andererseits gleich
dem von Laodicea, dem Can. apost. 60, Cyrillus (Cat. 4, 20), Isidorus
Pelusiota (Ep. I, 369) und Innocentius I. (Epist. ad Exuperium)
jedwedem anderen Lesestoff, neben dem kanonischen, sich widersetzt.
Letztere Praxis war die allein consequente, nachdem die Mittelclasse der
„Leseschriften" gefallen, d. h. vor Allem die in der 2. Unterabtheilung der
2. Classe des Eusebius vereinigt gewesenen Schriften, deren EbenbĂĽrtigkeit mit
den kanonischen eine Zeitlang controvers geblieben war, auf das Niveau der
Schriften der 3. Classe herabgesunken waren. Um nunmehr auch sie zu um-
fassen, erweiterte sich der Begriff des Apokryphischen naturgemäss dahin, dass
er auch Schriften von keineswegs verwerflichem Inhalte deckte, die man aber
vom Kanon ausgesondert hatte oder fern gehalten sehen wollte. Alles, was
sich an der Grenze des Kanonischen bewegt hatte, musste um so schärfer
gegen den Kanon abgegrenzt werden. Apokryphisch war jetzt einfach, was
nicht kanonisch hatte werden können, also z. B. jedes Evglm ausserhalb der
heiligen Vierzahl, mochte es zuvor auch bei rechtgläubigen Kirchenlehrern
einiges Ansehen genossen haben. Sofern aber kanonisch soviel bedeutete als
echt apostolisch, inspirirt, blieb auch so am Apokryphischen der Nebenbegriff
des überlieferungsmässig nicht Gesicherten, des Zweifelhaften und Menschlichen
haften. Alle Apokryphen stehen ausserhalb des xavcuv == numerus, aber nur
die Apokryphen im älteren Sinne ))ilden auch einen reinen Gegensatz zum
xavu>v = regula. In beiden Fällen ist das Kanonische das Göttliche; aber der
Strich, auf dessen anderer Seite das Apokryphischc liegt, scheidet Göttliches
im einen Falle vom Widergöttlichen, im anderen nur überhaupt vom Mensch-
lichen (contradictorischer und conträrer Gegensatz).
Während daher Athanasius das Apokryphischc noch als das Häretische
dem Kanonischen entgegensetzt, wird der Sprachgebrauch schon bei Hiero-
lf)8 Geschiclate des Kanons.
nymus und Augustinus so confus, dass Rettung nur in der Erinnerung an die
geschichtlichen Factoren des Begriffes liegt. Jenem sind die Apokryphen ent-
weder solche Bücher, die zwar echt sein mögen,- aber nicht kanonisch sein
dĂĽrfen (Cat. 6 Barnabas composuit epistolam ad aedificandam ecclesiam quae
inter apocryphas legitur), oder einfach ^sö^s-^tv^pa'fa mit zweifelhaftem Inhalt
(Ep. 107 ad Laetam: sciat non eorum esse quorum titulis praenotantur multaque
his admixta vitiosa et grandis esse prudentiae aurum quaerere in luto). Der
Andere gibt eine Verhältnis smässig unschuldige Definition (Civ. Dei 15, 23 omit-
tamus earum scripturarum fabulas, quae apocryphae nuncupantur eo quod eorum
occulta origo non claruit patribus), verurtheilt aber, von ganz anderen Voraus-
setzungen aus, entschieden häretische Schriften, wie die scripturas apocryphas
Manichaei, a nescio quibus sutoribus fabularum sub apostolorum ĂĽomine scriptas . . .
scripturae, quas canon ecclesiasticus respuit (C. Faust. 22, 79). Auf keinen
Fall also ist mit der ecclesiastica historia, daraus Hieronymus und Augustinus
zuweilen thatsächlich apokryphische Legenden mittheilen, die apokryphische
Literatur als solche in Geltung gekommen. Aus dem Strom der Tradition
überhaupt schöpfen alle kath. Schriftsteller. Haben in denselben allerdings der
häretischen Erfindungen aus den apokryphischen Evglien und Apostelgeschichten
nicht wenige Eingang gefunden, so beweist das nichts fĂĽr eine deuterokanonische
Werthschätzung solcher Schriften selbst^), welche vielmehr der Anweisung
Leo's I. an Turibius von Astorga zufolge (Ep. 15) als apocryphae scripturae.
quae sub nominibus apostolorum multorum habent seminarium falsitatum, dem
Feuertode verfielen. So werden auch im Decret des Gelasius und Hormisdas
(6, 18) verdammt libri omnes, quos fecit Leucius, discipulus diaboli, apocryphi.
So ergab sich ein ungleichmässiger und schwankender Begriff des Apo-
kryphischen, wie er vorliegt bei Isidorus Hispalensis, Etym. 6, 2 apocrypha
autem dicta i. e. secreta, quia in dubium veniunt. Est enim occulta origo nee
patet patribus, ex quibus usque ad nos auctoritas veracium scripturarum certissima
et notissima succesione pervenit. In iis apocryphis etsi invenitur aliqua veritas,
tamen propter multa falsa nuUa est in iis canonica auctoritas, quae recte a pru-
dentibus judicantur non esse eorum credenda quibus adscribuntur. Nam multa
et sub nominibus prophetarum et recentiora sub nominibus apostolorum ab
haereticis proferuntur, quae omnia sub nomine apocryphorum auctoritate canonica
diligenti examinatione remota sunt. Ebenso zählt noch im Morgenlande die
Stichometrie des Nicephorus neben häretischen Werken, wie uspioSoi DsTpou,
'Iwavvoo, 0(o}xä und dem Evglm Thomae, auch gut kath. Schriften auf, wie
Ac^ay-}] 6ciToax6Xü)v und die apostolischen Väter (Ignatius, Clemens, Polykarpus,
Hermas). Aehnliche Mischungen erscheinen als ^noxpocpa in dem anonymen
Kanonverzeichnisse itspi xuiv §^*fjxovTa ßtßXiwv xal oaa toutcov Hxöc, hinter den
Quaestiones et responsiones des Anastasius Sinaita, und die Synopsis Athanasii
zählt sogar diejenigen häretischen "Werke, von welchen es katholische Redactionen
gibt, als avTtXeYoiieva auf (irepioSoi Ilstpou, Tctploooi 'Itoavvou, itepioSo» ©a>|jLa, eüay-
'feXiov xata Owfxäv, ^i^ayyi ^cTtooxoXcuv, KXr,jj.evTta, li wv jxexetppdaö'Yjaav hv-Xe^ivra.
xa ötXfjö-eoTepa xal ä-eoTcveüOTa), um sie gleich darauf an sich als Kapa-^s^pat.iiiii\>a
itavTux; xal voO-a xal äitoßXYjxa und aTcoxpucpYjc; |j,äXXov yj ava^vtcaeüx; loq aXvj'O-d)?
oiiirx zu brandmarken.
») Gegen Zahn, Acta Joannis S XCI f, CIV f, 201, 203 f, 243. Vgl. Lipsius,
Die apokr. Apoetelgeschichten I, S49 f, 60.
IV. Kap. : Der spät ere Kanon. 4. Abschluss des Kanons im Morgenland. 169
4. Abschluss des Kanons im Morgenland.
Nicht blos der Begriff des Kanons ist zur Zeit des Athanasius
deutlich geworden, sondern auch der Umfang variirt nur wenig mehr.
Epiphanius, welcher früher in Aegypten als Mönch gelebt hatte,
hat auch in Palästina und Cypern den Kanon des Athanasius (d. h.
Hbr als Plsbrief und Apc kanonisch) gebraucht (Haer. 76, wo
ĂĽbrigens die Reihenfolge mit Hieron. Ep. 53, 8 ad Paul, stimmt);
die beiden LesebĂĽcher bleiben hier bereits weg, d. h. die Mittel-
classe verschwindet. Die kappadocischen Kirchenlehrer vertreten
theils den alexandrinischen, theils den Kanon des Eusebius. Ueber-
einstimmend citiren sie die kath. Antilegomena nicht ausdrĂĽckĂĽch,
und Apc wird im Gegensatz zu dem BrĂĽderpaar von Gregor von
Nazianz ausgeschlossen. Der letztere benutzt und citirt noch un-
bedenkhch xyjpoYfJ-a HsTpoo *) und gibt einen Kanon, darin die 7 kath.
Briefe, die er ĂĽbrigens kaum je gebraucht, erst nach den 14 Pls-
brief en stehen (Carm. 33). Schon fast Privaturtheil ist es, wenn
der alexandrinische Didymus noch 2 Pe verwirft. Im AusschlĂĽsse
von Apc (ignorirt von Chrysostomus und Theodoret) erblickt Hie-
ronymus — er freihch als der letzte — eine EigenthümHchkeit des
christhchen Orients ; gegen 600 fehlt sie unter den 60 BĂĽchern des
anonymen Kanons. Nicephorus rechnet sie 200 Jahre später noch
mit der Apokalypse des Petrus, Barn, und Hbrevglm sogar zu den
Antilegomena. Das sind aber lediglich gelehrte Beminiscenzen aus
Eusebius ^). Bezeichnend fĂĽr die niemals definitiv erfolgte Erledi-
gung frĂĽherer Differenzen, sanctionirte das konstantinopohtanische
Concil von 692 (can. 2 ; übrigens gilt dasselbe vom Concil zu Nicäa
787 und vom Nomokanon des Photius) gleichzeitig die sich in Be-
zug auf Apc ausschliessenden BeschlĂĽsse von Laodicea und von Kar-
thago, fügte überdies Canone» apostohci (vgl. unten S 170) bei,
welche auch bei Johannes von Damaskus, der Apc anerkennt, ka-
nonisch sind (De fide orth. 4, 17), verwarf aber die Constitutiones.
So sind im Morgenlande die Forderungen der Rechtgläubigkeit
stets laxer gehandhabt worden; eine päpstHche Autorität, wie sie
im Abendlande den Prozess zum AbschlĂĽsse gebracht hat, gab es
dort nicht.
Die Abweichungen, welche jetzt noch vorkommen, waren nicht blos
Privatsache einzelner Lehrer, sondern hatten auch das Gewohnheitsrecht ganzer
Kirchen für sich. In Syrien geht die später bei allen Sonderrichtungen im
*) HiLGENFELD, NT extra can. rec. 2. Afl IV, S 63, H5.
') ScHMiEDEL S 331. Daher hielt schon Credner (Zur Geschichte S 102 f)
das dem Nicephonis beigelegte Verzeichniss für älter.
170 Geschichte des Kanons.
Gebrauch gebliebene Peschito (S 53 f) durch Aufnahme von Jac und Hbr ĂĽber
den gleichzeitigen Kanon der Reichskirche hinaus, differirt aber vom abend-
ländischen durch Ausschluss von Apc; ausserdem fehlen noch 2 Pe, 2 und 3 Joh,
Jud. Dem entspricht die syrische Doctrina apostolorum ^). Die Verordnung,
wonach ausser dem AT nur das Evglm und Act öffentlich verlesen werden
dürfen, findet eine authentische Erläuterung in der bald darauf erfolgenden Mit-
theilung, dass der Kirche von den Nachfolgern der Apostel ĂĽberliefert wurde
Alles, was Jakobus aus Jerusalem (Jac?), Simon aus Rom (1 Pe?), Johannes
aus Ephesus (1 Joh?); Marcus aus Alexandria, Andreas aus Phrygien, Lucas
aus Alexandria und Judas Thomas aus Indien geschrieben haben. Hieran reiht
sich die Forderung, dass der Apostel ^) Briefe und Siegesthaten in allen Kirchen
verlesen werden sollten, damit die Einheit des A und NT erkannt werde. Als
Siegel auf alle Schriften folgt zuletzt „das Evglm", d.h. das Diatessaron, welches
in der syrischen Kirche neben den getrennten Evglien im Gebrauch war.
Die ausführlichere AtSaoxaXia tuiv öcttootoXcov*), welche synoptische Christus-
sprüche gewöhnlich als „im Evglm" stehend oder vom „Herrn" herrührend,
gelegentlich (5, 14) doch aber auch ausdrĂĽcklich aus Mt citirt und daneben nur
noch im Context einige Plsworte bietet, hat um 360 in den 6 ersten BĂĽchern
der Constitutiones apostolorum durch einen syrischen Priester eine griechische
Umarbeitung erfahren, welche gleichfalls noch den älteren Stand erkennen
lässt. Dreimal so oft als das NT werden Gesetz, Propheten und Psalmen citirt;
als TÖ TouTwv ao|JLTiXY|p(ji)jx.a erscheint xö söttY^s^iov (I, 5), speciell al Ttpd^et? al
Yj|jisxspai (die Apostelreden) xal iKtatoXal IJauXou xoö aüvspYoö yjjjlwv (II, 57). So
gut wie Pls wird aber auch 1 Pe citirt, und sogar Atoax*q (1, 5; vgl. 4, 5—8.
Herm. Mand. II, 4—6. Test. XII patr. Seb. 7) tritt als Autorität auf (IV, 3, 1
Etpfjxat üTc' ahxoö, sei. xoö xuptoü). Nach den Briefen erst soll ein Diakon oder
Presbyter die Evglien vorlesen, welche vielleicht in einer Harmonie vorgelegen
haben*). Diese Constitutionen (oiaxaYai) selbst erscheinen in den, auf ihrer
Grundlage entstandenen, * Canones apostolici (can. 85, al. 86, auch 76) sammt
beiden Clemensbriefen als zum Kanon gehörig, während Apc fehlt.
Das Diatessaron Tatian's gebraucht der Perser Aphraates (Farhad), der
als Bischof und Abt eines östlich von Mosul gelegenen Klosters die ostsyrische
Kirche vertritt, in seinen 336 — 45 geschriebenen Abhandlungen, während er
Apc und kath. Briefe ignorirt. Dasselbe negative Verhalten scheint die syrische
Doctrina Addaei zu charakterisiren*), welche im Uebrigen das Diatessaron, Act
*) Cureton, Ancient syriac documents 1864, S24f. P.deLagarde, Reliquiae
juris ecclesiastici antiquissimi 1856, S 89 f unter dem Titel Doctrina Addaei.
Vgl. Lipsius, Die edessenische Abgarsage S 51 ; Die apokr. Apostelgeschichten
II, 2, S 193. Anders Zahn I, S 92.
2j Cureton S 32 und Westcott S 247 übersetzen „of an apostle", Zahn
S 93 „des Apostels", Lipsius S 194 „der Apostel".
') Didascaha apostolorum syriace ed. P. de Lagarde 1854. Bunsen, Ana-
lecta Ante-Nicaena II (Christianity and mankind VI), 1854, S 225 f.
*) P. de Lagarde, Const ap. S VII denkt an das Diatessaron: anders Zahn
II, S 236 f.
') G. Philipps, The doctrine of Addai the Apostle with an english trans-
lation and notes 1876; vgl. S 44 der Uebersetzung ; dazu Zahn I, S 91 f, 376.
Dagegen Lipsius, Apokr. Apostelgesch. II, 2, S 193 f.
IV. Kap.: Der spätere Kanon. 4. Abschluss des Kanons im Morgenlande. 171
und Plsbriefe ausdrücklich zur sonntäglichen Vorlesung bestimmt. Das genannte
Werk ist ĂĽbrigens mit der syrischen Doctrina apostolorum, welche darin als in
Jerusalem festgestellte Kirchenordnung erscheint, verwandt und gehört den
Kreisen des Ephraem an, welcher aber seinerseits Apc einmal citirt (Op. Syr.
II, S 332), dagegen zu den anderen Antilegomenen eine zweifelhafte Stellung
einnimmt und Diatessaron commentirt, wie dasselbe als „das NT" (so heisst es
in der Doctrina Addaei) oder „Evangelium" (so heisst es bei Ephraem) einen
Hauptbestandtheil des edessenischen Kanons gebildet hat^). Daneben hat er
aber auch die 4 Evglien der Peschito wohl gekannt, und zwischen seinen und
Theodoret's Zeiten wird „das Evglm der Gemischten" verdrängt durch das
„Evglm der Getrennten", d. h. die abgesondert von einander geschriebenen
Evglien (vgl. S 53), welche besonders Bischof Rabbula von Edessa (412—35)
durchsetzte, wahrend bald darauf Theodoret die letzten NachzĂĽgler der Evglien-
harmonie seiner Diöcese ausser Gebrauch brachte*).
Uebrigens steht Theodoret zum Kanon ganz wie schon ältere
Landsleute. So Amphilochius von Ikonium, welcher gegen Schluss
des 4. Jahrh. in den lambi ad Seleucum (289 — 319) 4 Evglien,
Act, 2 mal 7 Plsbriefe und 3 kath. Briefe aufzählt und dabei er-
wähnt, dass Andere deren 7 zählen, wieder andere Hbr verwerfen
oder auch Apc annehmen; Chrysostomus von Antiochia, zu dessen
thatsächhchem Verhalten es stimmt, wenn eine unter seine Werke
aufgenommene Synopsis veteris et novi testamenti 4 kath. Briefe
und Apc aus dem Kanon streicht (womit ĂĽbrigens keineswegs gesagt
sein soll, dass Chrysostomus diese Schriften gar nicht gekannt hätte) ;
Theodorus von Mopsuestia, welcher (nach Leontius von Byzanz,
Contra Nestorianos et Eutychianos 3, 13) sogar aoTTjv toö pisYaXoo
'laxwßoo TTjv smoToXYjv V.OLI xcnQ i^"^? Twv «XXtov xaO-oXtxdc; verworfen
haben soll, was indessen bezüghch 1 Pe und 1 Joh einer Beschrän-
kung unterliegen dĂĽrfte, zumal wenn sein Kanon sich durch den
Perser Paulus auf JuniUus vererbt hat ^). Mit Berufung auf die
syrische Praxis behauptet noch 535 — 547 der Aegypter Kosmas
Indikopleustes, dass die kath. Briefe nicht auf Apostel, sondern
auf Presbyter zurĂĽckgefĂĽhrt wĂĽrden, spricht aber doch gĂĽnstiger
von 1 Pe und 1 Joh (Topogr. VII, bei Montfaucon , Nova collectio
patrum et Script, graec. S 292). Der kritisch gesichtete Kanon
der antiochenischen Theologie erhielt sich bei den Nestorianern,
während die Philoxeniana (S 54) zwar Apc noch ausschhesst, dagegen
bereits 7, ja sogar 9 kath. Briefe zählt, letztere Zahl erreichend
durch Beizug der Clemensbriefe, an deren Stelle später die beiden,
selbst schon den syrischen Kanon voraussetzenden, Epistolae de vir-
Zahn S 44 f, 74, 92.
") Zahn S 102 f, 110.
«) KiHN S 66, 373 f, 377 f.
J72 Geschichte des Kanons.
ginitate aus dem Anfang des 3. Jahrh. treten *). Auch in den
syrischen Kirchen des Mittelalters finden sich ĂĽbrigens noch ver-
einzelte Reminiscenzen an die ursprĂĽnghche Position der Peschito;
so der Monophysit Dionysius bar Salibi f 1177 und der Nesto-
rianer Ebed Jesu -f 1318, aber auch die Handschrift, welche Moses
von Mardin 1552 nach Europa brachte und der ersten Druckaus-
gabe von 1555 zu Grunde legte.
In den ägyptischen und äthiopischen Kirchen, auch bei den Kopten
Arabiens galt als apostolisch das grosse Rechtsbuch, an dessen Spitze die auf
Grund der AtSax^rj und verschiedener kleinerer RechtsbĂĽcher wohl nicht vor
300 entstandenen xavove? IxxXYjoiaaxixol tcüv (^yiojv äitooxoXcuv stehen*): speciell
in der äthiopischen Kirche eröffnet diese s. g. apostolische Kirchenordnung
(vgl. oben S 114) den Synodos genannten Oktateuch, wodurch sich die Zahl
der neutest. Bücher auf 35 erhöht; kanonische Bücher überhaupt gibt es hier
81, darunter die Apokalypsen des Henoch, Jesaja und Esra, das Jubiläumbuch und
andere Pseudepigraphen''). In der armenischen Kirche, die sich sonst streng an
den Kanon des Athanasius hält, zählen auch ein Sendschreiben der Korinther
an Pls und als Antwort darauf ein 3. Korintherbrief des Apostels zum Kanon.
5. Abschluss des Kanons im Abenlande.
FĂĽr das Abendland umfasst ein wahrscheinlich 359 in Africa
geschriebenes Kanonverzeichniss im Indiculum novi testamenti ^)
4 EvgHen, 13 Plsbriefe, Act, Apc, 1—3 Job, 1 und 2 Pe. Die
kath. Briefe sind im Verlaufe der 2. Hälfte des 4. Jahrh. auf die
Siebenzahl gebracht worden. In Sachen von Hbr tritt gleichzeitig
Lucifer auf die Seite des Morgenlandes, wie er denn auch Apc
ignorirt. Ein SeitenstĂĽck zu ihm bietet bezĂĽglich Hbr Hilarius
(f 366), welcher dafĂĽr zwar nicht Apc, wohl aber die 5 frĂĽher be-
*) A. Harnack ThLz 1882, S 271 f. 1884, S 267 ; Texte und Unters.
n, 2, S 133. Westcott S 23, 186 f.
^) Veröfientlicht von Bickell (Geschichte des Kirchenrechts I, 1843,
S 87 f, 107), P. deLagarde (Reliquiae, S 74 f), Pitra (Juris ecclesiastici Grae-
corum historia et monumenta I, 1864, S 75 f ), A. Hilgenfeld (Nov. test. extra
can. rec. IV, S 93 f. 2. Afl S 110 f) und A. Harnack (Texte und Unters. II,
2, S 193 f, 225 f). Wie man im Abendlande die Artikel des Symbols unter
die Apostel vertheilte, so hier die Allegorie von den 2 Wegen (Barn. 18 — 20.
^ioajjr\ 1 — 6) und die apostolische Kirchenordnung.
«) Dillmann JbW V, 1863, S 144 f ; RE, 2. Afl I, 1877, S 203 f.
*) Veröffentlicht aus einem dem 10. Jahrh. entstammten Codex der Biblio-
thek Philipps in Cheltenham durch Th. Mommsen im „Hermes" XXI, 1886,
S 142 f. Dort schliesst es sich an den Liber generationis des Hippolyt an.
Vgl. darĂĽber A. Harnack ThLz S 1886, 172 f. Th. Zahn ZAVL 1886, S 113 f.
Jener deutet das unter cpistulac Johannis tres und wieder unter epistulae Petri
duac stehende una sola auf Jac und Jud. Dieser findet darin eine Nachwirkung
älterer Bedenken gegen 2 Pe (warum nicht auch gegen 2 und 3 Job?),
IV. Kap. : Der spätere Kanon. 5. Abschluss des Kanons im Abendlande. 173
anstandeten kath. Briefe mit Stillschweigen übergeht. Vollständig
vertritt den Kanon des Athanasius Rufinus von Aquileja (-j- 410),
indem er unterscheidet 1) libri canonici (das NT mit 14 Plsbriefen,
7 kath. Briefen und Apc), 2) libri ecclesiastici (ausser den alttest.
Apokr}^phen Hermas und an der Stelle der Ai§a)(7j die sachlich ver-
wandte Schrift Duae viae sive Judicium Petri) und 3) libri apocryphi
(Expositio symboli 37 und 38). Hieronymus, welcher beiden Kirchen
zugleich angehört, empfahl jeder derselben die Annahme des Kanons
Kder anderen, indem er bald ein an die Anordnung der BĂĽcher im
_ Can. Mur. und Can. Ciarom. erinnerndes Yerzeichniss gibt (Ep. 53,
8 ad Paulinum), bald an Athanasius sich hält (Liber interpretationis
hebraicorum nominum). Für seine Person wäre er allerdings zu
einem historisch richtigen Urtheil befähigt gewesen; denn im Cata-
logus de viris illustribus (1 von Petrus: scripsit duas epistolas,
quarum secunda a plerisque ejus esse negatur; 2 von Jac: ab aho
quodam sub nomine ejus edita asseritur; 4 von Jud: a plerisque
rejicitur; 9 Joannes scripsit unam Epistolam, reliquae duae Joannis
presbyteri asseruntur) und in der Epistola 129 ad Dardanum be-
richtet er den Zweifel an 5 kath. Briefen, Hbr und Apc. Ausser-
dem folgt er wenigstens einmal einer Spur, derzufolge auch Barn,
zur heiligen Schrift gehören würde ^), erwähnt die kirchliche Vor-
j lesung der Clemensbriefe und des Hermas und widmet dem Hbrevglm
: grosse Aufmerksamkeit. Philastrius von Brescia (-j* um 397) ĂĽber-
geht in seinem Verzeichnisse (Haer. 88) Hbr und Apc, aber nur
weil er schon vorher (Haer. 60) die Verwerfung letzterer Schrift
als ein Merkzeichen der Ketzerei angegeben hatte und gleich nach-
her (Haer. 89) die Zweifel gegen erstere als problematische Meinung
Einiger hinstellen will. Diesen Brief haben Hieronymus und Augu-
stinus ebenso oft, und ohne dass sich dabei Perioden unterscheiden
Hessen, dem Pls ab- wie zugesprochen ^), Gleichwohl wurde Hbr
unter dem EinflĂĽsse von Augustinus kanonisirt, als die Synoden
von Hippo 393 (can. 36) und Karthago 397 (can. 47, al. 39) und
419 (can. 29) die Zahl und Reihenfolge bestimmten. Schon das
Concil von 393 hatte übrigens seine Beschlüsse der römischen Kirche
vorgelegt, und dem von 419 wohnte ein römischer Legat bei. Schon
405 hatte der römische Bischof Innocenz I. in einem Schreiben an
den Bischof Exuperius von Tolosa den Kanon in dem von Athana-
sius vertretenen Umfange festgestellt. Direct durch die römischen
') Op. patr. ap. I, 2, S LI f.
») OVKRBECK S 52, 69 f.
274 (xeschichte des Kanons.
Bischöfe ^vurde der Kanon abgeschlossen in dem sog. Decretum
Gelasianum de libris recipiendis et non recipiendis , d. h. in einem
schon von Damasus (366 — 384) herrührenden, dann von Gelasius
(492—496) und von Hormisdas (514 — 523) veränderten und er-
weiterten Yerzeichniss '). Damasus hatte noch 2 und 3 Joh dem
Presbyter zugeschrieben^) und A^ct hinter die Briefe gestellt (so
auch Hieronymus ad Paul, und Junilius); seine Nachfolger stellten
die Ordnung her: Evglien, Act, Briefe. Als 1. Index librorum pro-
hibitorum zählt das Decret eine Menge von Apokryphen auf, wie
das Evglm des Petrus, den Hirten, die Constitutionen, ausserdem
eine reichhche Literatur, welche, zum Beweise, wie wirksam solche
BĂĽcherpolizei war, seither verschwunden ist. lieber die Speciali-
täten war man dabei schon so schlecht unterrichtet, wie jemals
nachher ^).
Abweichende Stimmen haben seither nur noch den Werth von Curiositäten.
Cassiodorius hat neben dem augustinisch-hieronymianischen Kanon noch ein
Verzeichniss vor sich, darauf Hebr und die 4 beanstandeten kath. Briefe fehlen*).
An die syrische Schule anknĂĽpfend, unterscheidet Junilius libri perfectae,
mediae et nullius auctoritatis und setzt in die mittlere Classe 5 kath. Briefe
und Apc (De part. 1, 3-7). Sogar Isidorus Hispalensis gedenkt noch älterer
Zweifel an den Antilegomenen (Eccles. offic. I, 12). Aber schon 633 bedroht
die 4. Synode von Toledo denjenigen mit dem Bann, welcher etwa Apc nicht
annehmen werde.
Gleichwohl hat das Abendland in zwiefacher Richtung länger und zäher
die Erinnerungen an den ursprünglichen Thatbestand festgehalten^). Zunächst
in der Stellung von Hbr ganz am Schlüsse der Plsbriefe. Während der Brief
von Athanasius und der Synode von Laodicea an 10. Stelle aufgefĂĽhrt wird
und auch in den Uncialbibeln, ĂĽberhaupt in der griechischen Kirche, vor den
Briefen an Privatpersonen stehen bleibt, bringen ihn Rufinus, Damasus, Augu-
stinus und seine Synoden, auch Innocenz I. als 14. hinter Phm-, so auch die
Codices D E K L und Vulg. Zweitens in der Belassung der kath. Briefe hinter
den Plsbriefen im Gegensatze zu der durch Cyrill von Jerusalem, Athanasius
und die Synode von Laodicea aufgekommenen, auch in den Codices ABC und
den späteren Handschriften der Vulg. bezeugten Neuerung des Morgenlands.
Charakteristisch verschieden gestaltet sich demgemäss auch das Zahlenspiel,
wonach man im Morgenlande 7 kath. Briefe und 2 mal 7 Plsbriefe zählt (Amphi-
lochiuB, Euthalius), während in der Nachfolge des Can. Mur. Cyprian (Testim.
*) Neu herausgegeben von Credner, der es 494 von Gelasius verfasst sein
liess: Zur (beschichte S 149 f. Den richtigen Sachverhalt wiesen nach Thiel,
Epi8tr)lae romanorum pontificum genuinae I, 1868, S 58 und Hilqenfeld S130f.
Vgl. auch OvERBKCK S 63. Hepele, Conciliengeschichte, 2. Afl 11, S 619 f.
*) Rade, Damasus 1882, S 147.
») Lipsius I, S 55 f.
*) CORSSEN JprTh 1883, S 619 f.
') OvERBKCK S 68.
V. Kap.: Der Kanon und der Protestantismus. 1. Die beiden Stadien. 175
1, 20. Ad Fortunat. 11), Victorinus Petabionensis (bei Routh, Reliquiae sacrae
2. Asg I, S 417. 11, S 459), Hieronymus (Epist. 53 ad Paulin. Cat. 5), Isidorus
Hispalensis (Prooemia in libros vet. et novi test. 92. Etym. VI, 2, 44 f. Eccles.
off. I, 12, 11) die Apc 1, 11 vorgebildete Siebenzahl der paulinischen Gemeinden
hervorheben. Als Zahl der kanonischen BĂĽcher beider Testamente erscheint
bei Cassiodorius die gleichfalls heilige 70').
FĂĽnftes Kapitel: Der Kanon und der Protestantismus.
1. Die beiden Stadien der protestantischen Kritik.
Die Reformation bedeutet einen kritischen Act, welchen der
zu sich selbst kommende, in sein eigenes Wesen sich vertiefende
Geist des Christenthums an seiner gesammten bisher durchlaufenen
Vergangenheit ausĂĽbt. Als ihr grundlegendes Wesen macht Luther's
Schrift „von der Freiheit des Ghristenmenschen" (1520) die Zu-
sammengehörigkeit des allein rechtfertigenden Glaubens mit der
diese Rechtfertigung aus Glauben verkĂĽndigenden heil. Schrift kennt-
lich. Mit diesem „Pochen auf die Schrift" charakterisiren die Re-
formatoren ihr Werk als einen unter RĂĽckgang auf die apostoHsche
Epoche unternommenen und streng an die literarischen Documente
derselben gebundenen, aus ihnen aUein Recht wie Macht schöpfenden,
neuen Ansatz zur Verwirklichung der christlichen Idee ^). Was der
neuen Gedankenwelt einen festen Halt und Stand im Bewusstsein
der weitesten Kreise sicherte, ist eben nur die in AUer Hände ge-
legte Schrift. Somit war fĂĽr die Reformation der neutest. Kanon das
von der kath. Kirche selbst gebotene Instrument, um den dermaligen
Bestand jener Kirche bis in die Fundamente zu erschĂĽttern; der
Hebel , womit in derselben Tradition, aus deren Hand man ihn
ĂĽberkommen hatte , eingesetzt wurde , um ihre einheitliche Fort-
bewegung zu brechen '*). Erst nachdem er diesen praktisch wichtig-
sten Dienst geleistet, konnte die theoretisch-widerspruchsvolle Lage
in Betracht gezogen werden, in die man.gerathen war, indem man
') CoRSSEN S 624, 627.
2) H. HoLTZMANN, Kanon und Tradition 1859, S 360 f.
*) SciiMiEDEL S 333 : „Der Kanon war das unzer])rechlicho öefäss, in dem
der reli^öse Gehalt des anfänglichen Christenthums, oft unbeachtet, aber doch
wohlbehalten, hindurchgerettet wurde durch die StĂĽrme der Zeiten, welche alle
ohne solche Autorität auftretenden Meinungen verwehten; er war das festeste
Einheitsband zwischen allen Perioden und Richtungen der Kirche; ohne einen
solchen festen Halt hätte auch die Reformation weder ihren christlichen Charakter
" M iiüber dem Katholicismus, noch ihre Besonnenheit gegenüber der Schwärm-
te ibterei behaupten können."
176 Geschichte des Kanons.
gegen die Tradition zurĂĽckging auf einen Kanon, der doch selbst ^
ein Product dieser Tradition war. Ein Doppeltes war möglich.
Man konnte die Thatsache einfacher HerĂĽbernahme des Kanons
aus dem katholischen Arsenal mit dogmatischen HĂĽlfsconstructionen
umgeben und verdecken, oder man konnte das Widerspruchs-
volle dieser Thatsache begreifen, eingestehen und Remedur dagegen
in einer consequenteren Durchbildung der gesammten protestantischen
Theologie suchen.
Die ältere Theologie des Protestantismus fasste ihre Aufgabe
so auf, dass dem Gott in der Kirche der Gott in der Schrift, der
als Gottes Prophetin sich fĂĽhlenden und geberdenden Hierarchie
die inspirirte Bibel als „das Wort Gottes" entgegenzusetzen sei.
Von diesem Interesse geleitet, suchte und fand der Protestantismus
seine theologische Basis in demselben Dogma, welches schon die alte
kath. Kirche aufgeboten oder vielmehr adoptirt hatte, um das Re-
sultat ihrer kanonbildenden BemĂĽhungen unter Dach zu bringen ^).
Nach einigen Umwegen sah sich die christl. Theologie so ziemhch
wieder auf denselben Fleck zurĂĽckgeworfen, wohin die jĂĽdische durch
Philo gefördert worden war. Die protestantische Dogmatik beginnt
daher mit einem Capitel von der Inspiration, welches zuerst eine
alles Bisherige ĂĽberbietende Steigerung dieses Begriffes, dann aber
— sobald der zu Grunde liegende Irrthum durchschaut werden kann
— unaufhaltsamen Verfall aufweist ^).
Die Darstellung dieser Seite an der Sache fällt ganz der Dogmengeschichte
anheim. Mit dem dogmatischen ist aber im Begriffe des Kanons auch ein histo-
risches Urtheil verbunden (S 15). Dieses wieder zu beleben und zu schärfen,
war dem Reformationszeitalter schon desshalb aufbehalten, weil es zugleich das
Zeitalter der wiedererwachenden Studien, der Renaissance, des Humanismus
bedeutete. Nachdem schon Johann Wessel 1 Pe den vorzugsweise echten
Petrusbrief genannt hat, schwankt Erasmus hinsichtlich 2 Pe und .lud, schreibt
2 und 3 Joh dem Presbyter zu und zweifelt Jac an; vollends gegen Apc fĂĽhrt
er eine Menge äusserer und innerer Instanzen an, um schliesslich halb ironisch
seine Bereitwilligkeit zu erklären, sich dem anders gearteten Urtheil der Kirche
zu unterwerfen. In seinem freieren Urtheile ĂĽber Hbr und die genannten kath.
Briefe mit Ausnahme von 2 Pe fand er einen Genossen im Cardinal Cajetan,
dessen Commentar zum NT 1529 beendet wurde. So war der Begriff des Deutero -
kanonischen vorbereitet, welchen Sixtus von Siena auf Hbr, 2 Pe, 2 und 3 Joh,
Jac, Jud und Apc freilich nur in historischem Interesse anwandte, worin ihm
*) Schenkel, Das Wesen des Protestantismus 1862, S 122 f.
'â– ') Walther, Was lehren die neueren orthodox sein wollenden Theologen
von der Inspiration? 1871. H. Schultz, Die Stellung des christHchen Glaubens
zur heil. Schrift 1876. W. Herrmann, Die Bedeutung der Inspirationslehre fĂĽr
die evangel. Kirche 1882.
t
V. Kap.: Der Kanon und der Protestantismus. 2. Das reform. Stadium. 177
Bellarmin (De verbo Dei 1581, I, 4, 1), Antonius a matre Dei, Bernhard Lamy
(Apparatus biblicus 1696, S 334) und Ellbes du Pin folgten, trotzdem dass
Erasmus von der Sorbonne, Cajetan von Ambrosius Catharinus censirt worden
waren und hierauf das Concil von Trient alle in Vulg. enthaltenen BĂĽcher fĂĽr
kanonisch erklärt, jeden Unterschied zwischen Homologumena und Antilegomena
aber verwischt hatte (Beschluss vom 8. April 1546, erneuert auf dem Vaticanum,
de fide II, 4 vom 24. April 1870), wobei die von Bellarmin (I, 10) entwickelte
Theorie maassgebend war, dass die Kirche auch Schriften, bezĂĽglich welcher
frĂĽhere Zeiten uneinig gewesen sind, ex communi sensu et quasi gustu populi
christiani für kanonisch erklären kann.
Auch die protestantische Kritik richtet sich zunächst unter Voraussetzung
des dogmatischen Kanonbegriffes^) nur gegen den historisch gegebenen Umfang
des Kanons. Insofern entspricht dem kanonbildenden Processe, welcher die
ersten Jahrhunderte der katholischen Epoche ausfüllt, eine schwächere und
rascher verlaufende Bewegung innerhalb der protestantischen Aera^), freilich
ohne dass es schliesslich zu einem, die innere Differenz beider Confessionen zum
klaren Ausdruck bringenden, äusseren Gegensatz in der Stellung gekommen
wäre, welche man beiderseits zum neutest. Kanon einnimmt.
Gleichwohl war die an der Tradition geĂĽbte Kritik schon bis in das, im
Verlaufe derselben Tradition erst abgesteckte, Gebiet des Kanonischen hinein
fortgesetzt worden, und das bei solcher Gelegenheit erstarkte historische Urtheil
sollte im zweiten Stadium der protestantischen Kritik eine zuvor ungeahnte
Tragweite finden, so dass zuletzt nicht blos der Umfang, sondern auch der
Inhalt des Kanonbegriffes in Frage gestellt erschien. Die Namen Carlstadt
imd Chemnitz mögen als bezeichnend für die erste Phase erscheinen, wie Semler
und Baur fĂĽr die zweite.
2. Das reformatorische Stadium.
Wie jede Concession das Ideal im Grunde aufhebt, so ist auch
der Begriff des neutest. Kanons bereits erschĂĽttert, wo man ihn
durch Unterscheidung von Homologumenen und Antilegomenen, von
protokanonischen und deuterokanonischen Schriften wieder gleichsam
in das Stadium der Entwicklungskrankheiten zurĂĽckschraubt. An-
sätze hiezu finden sich bei Andreas Bodenstein von Carlstaüt,
dessen Libellus de canonicis scripturis (1520) ^) im Kanon zwar das
providenzielle AVerk der Kirche erkennt, der geschichtlichen Er-
innerung an sein Zustandekommen aber zugleich die Concession
macht, Jac, 2 Pe, 2 und 3 Job, Jud, Hbr als catholica ano-
*) Gewissermaassen theilen sich in die beiden Auffassungsweisen des Wortes
Kanon (S 162 f) die protestantischen Symbole, indem die Concordienformel
den Begriff der maa88ge])enden „Regel und Norm" vertritt, währeud reformirte
(Gallicana 3, Belgica 4, Westminster Conf. I, 2) Verzeichnisse und Register der
biblischen BĂĽcher, die ja hier nicht blos als alleinige Richtschnur, sondern als
ausschliessliche Quelle aller Lehre gelten, bringen.
«) H. Holtzmann S 135 f, 402 f.
â– ) Neu herausgegeben von Oredner, Zur Geschichte des K. S 291 f.
Holtzmanu, Einleitang. 2. Auflage. \2
178 Geschichte des Kanons.
nyma aufeuführen, während Apc bereits auf der Grenze des Apo-
kryphischen steht; alle 7 sind libri tertiae.et infimae auctoritatis,
während Evglien den ersten, Plsbriefe den zweiten Rang einnehmen.
Luther hat zwar auf die historische Bezeugung, beziehungsweise
auf den Mangel einer solchen stets geachtet ; entscheidend war aber
doch der subjective Eindruck, wenn der berühmte, in den späteren
Asgn unterdrĂĽckte, Schluss der Vorrede zur Uebersetzung des NT
von 1522 ^) Hbr, weil darin vielleicht Holz, Heu und Stoppeln auf
den rechten Grund mit erbaut seien, den ĂĽbrigen Episteln nicht
gleicherachtet, in Jud die apokryphische Gelehrsamkeit notirt, Jac
stracks wider St Pls und alle Schrift laufend findet und in Apc
weder prophetischen noch apostolischen Geist anerkennt, ja ĂĽber-
haupt nicht spĂĽrbar findet, dass sie vom heiligen Geist gestellet sei.
Doch gehen neben diesem sich wider den Inhalt auflehnenden Motiv
auch literarhistorische, die Form in Anspruch nehmende Urtheile
her, sofern Hbr eher von Apollos als von Pls herrühren könnte
und Jud eine Abschrift von 2 Pe darstellt. Schliesslich bleiben
für Luther als „rechte gewisse Hauptbücher" als „Kern und Mark"
der Schrift noch Job, die Plsbriefe und 1 Pe ĂĽbrig, also weniger
sogar als der Urkanon von circa 200 enthielt ^). Im Allgemeinen
ist der Standpunkt der Reformation durch RĂĽckgang auf den
Kanon des Eusebius und in Folge dessen durch mindere Werthung
von Hbr, 2 Pe, 2 und 3 Job, Jac, Jud und Apc gekenn-
zeichnet ^).
Wiewohl der Schrift-Doctrinarismus und Traditionalismus die
reformirte Theologie eigenthümlich kennzeichnet'*), begegnen ähn-
liche Erscheinungen doch auch auf diesem Gebiete. FĂĽr Zwingli
ist wenigstens Apc „nit ein biblisch Buch" •'). Oekolampadius stellt
im Briefe an die Waldenser (1530) ausserdem auch die 5 kath.
Briefe auf eine niedrigere Stufe, und ähnlich thut Bucer's Enar-
ratio in Evangelia. Aber selbst Calvin, den eine mechanisch
strenge Auffassung des Offenbarungscharakters der Bibel je länger,
') Erlanger Ausgabe der Werke Luther's, Bd 63, S 154—170 : vgl. S 114 f.
^) G. Frank, De Luthero rationalismi praecursore 1857. M. Schwalb,
Luther, ses opinions religieuses pendant la premiere periode de la reforme 1866,
S. BerĂĽkr, La bible au seizieme siecle 1879, S 70 f, 96 f. Nestle in Theol.
Studien aus WĂĽrttemberg 1884, S 31 f, 138 f.
") H. Heppe, Dogmatik des deutschen Protestantismus im 16. Jahrh. I,
1857, S 218, 229 f.
*) Confessio Anglica, Art. 6: NT libros omnes ut vulgo recepti sunt
recipimus.
*) Ausgabe seiner Werke von Schuler und Schulthbss, II, 1, S 169.
V. Kap.: Der Kanon und der Protestantismus. 2. Das reform. Stadium. 179
desto ausschliesslicher beherrscht, spricht von 2 und 3 Joh nicht,
während er 1 Joh den kanonischen Brief des Apostels nennt, hält
2 Pe fĂĽr nicht direct apostoHsch und bringt es, wie im Commentar,
so auch in der Institutio nicht ĂĽber sich, den Pls als Verfasser von
Hbr anzuerkennen *). Während zu letzterem Urtheil noch die Theo-
logen von Poissy (1561) stehen (Conf. Pis. art. 3) und einzelne Dog-
matiker dieser Ersthngszeit von Antilegomenen sprechen^), ver-
theidigte Beza, dem bereits alle neutest. BĂĽcher wie kanonisch, so
auch echt sind, den paulinischen Ursprung von Hbr (zumal seit
1598), sowie den johanneischen von Apc, wiewohl er auch mit der
Möghchkeit gerechnet hat, dass Apollos jenes, Johannes Marcus
dieses Buch geschrieben habe. Im 17. Jahrh. kann man in der
Lehre von protokanonischen und deuterokanonischen BĂĽchern fast
ein Unterscheidungsmerlonal der lutherischen gegenĂĽber der refor-
mirten Orthodoxie finden. Die reformirte Auffassung der neutest.
BĂĽcher als einer um ihres apostolischen Ursprungs willen unfehl-
baren und in sich abgeschlossenen Lehrautorität ist zwar gelegent-
lich auch von Luther, mit besonders doctrinärer Strenge aber von
Melanchthon, ungeachtet zeitweiliger Annäherung an Luther's Ur-
theile^), ferner von Major und ĂĽberhaupt von der philippistischen
Richtung geltend gemacht worden.
Gleichwohl dauert es auf lutherischem Boden länger, bis der
aus den ersten frischesten Zeiten der Reformation datirende Lnpuls
völHg zum Stillstand gebracht ist. Im Gegensatze zu dem kritik-
losen Verfahren des Tridentinismus haben Brenz (Confessio WĂĽrtem-
bergica 1551) und die Centuriatoren (seit 1559, vgl. Cent. I, 2, 4)
Jud und Jac verworfen, die Kanonicität von Hehr mehr oder weni-
ger dahingestellt sein lassen , 2 Pe, 2 und 3 Joh angezweifelt. In
Bezug auf Apc pflichtet Brenz sogar Luther bei. Am klarsten
aber hat Martin Chemnitz (Examen concilii Tridentini 1565 —
1573) die protestantische Theorie in der von Carlstadt gewiesenen
Richtung entwickelt. Um die Kanonicität eines Buches zu erweisen,
mĂĽsse man seine Herkunft von inspirirten Subjecten, d. h. Pro-
pheten (AT) und Aposteln (NT), darthun, was nur an der Hand
von Zeugnissen aus dem kirchlichen Alterthum geschehen könne.
Hatte also die Tridentiner Synode BĂĽcher, welche die alte Kirche
fĂĽr widersprochen oder fĂĽr apokryphisch gehalten, kanonisirt, so
^j Credner, Gesch. S 333 f. Beroer S 115 f.
^) Heppe S 254.
») Heppe S 222 f.
12*
180 Geschichte des Kanons.
spottet er dieses Unternehmens, weil ubi desunt certae, firmae et
consentientes primae et veteris ecclesiae testificationes, sequens eccle-
sia, sicut non potest ex falsis facere vera, ita nee ex dubiis potest
certa facere. Zwar nicht erst verKehen habe die alte Kirche den
neutest. BĂĽchern ihren kanonischen Charakter, wohl aber sei sie in
der Lage gewesen, die Echtheit von 4 Evglien, 13 Plsbriefen, 1 Pe
und 1 Joh zu constatiren. Auf Grund dieser Erwägung trägt der
Mitverfasser der Concordienformel kein Bedenken, die 7 Antilego-
mena als „Apokryphen" zwar nicht vom Kanon auszuschUessen, aber
doch ihrer bisher geübten Lehrautorität zu entkleiden ^). Die gleiche
Unterscheidung vertreten nicht blos Brenz, Flacius und die Cen-
turiatoren, sondern auch die Zeugen der anhebenden Rechtgläubig-
keit Urbanus Regius, Selnecker, Lucas Osiander, Aegidius
HüNNiüS, Schröder, Hafenreffer, Hütter, Dieterich, ebenso
Kirchenordnungen, wie die Strassburger von 1598 '^). Auch in der
lutherischen BibelĂĽbersetzung sind Hbr, Jac, Jud und Apc (2 Pe
und 2 und 3 Joh waren nicht fĂĽglich von 1 Pe und 1 Joh abzu-
trennen) als Schriften, die „vor Zeiten ein anderes Ansehen gehabt
haben" , an das Ende des NT gestellt und im Inhaltsverzeichniss
nicht wie die 23 ĂĽbrigen numerirt worden (ebenso das engHsche
NT Tyndale's). Die letzte Asg dieser Art ist von 1689, während
schon seit 1603 Asgn erschienen, die alle neutest. BĂĽcher numeriren.
Ein Wittenberger Pacultätsgutachten von 1619 hält den Unterschied
zwar noch aufrecht, aber schon Johann Gerhard erwähnt seiner
doch blos docendi causa. Anstatt Apocrypha braucht er den Aus-
druck Libri canonici NT secundi ordinis, und Quenstedt, Baier,
Calov sprechen von deuterokanonischen BĂĽchern. Stets wird er-
klärt, es handle sich dabei nur um den zuMligen Umstand, ob die
Autores secundarii sicher bekannt seien oder nicht, nur um frĂĽhere
oder spätere Aufnahme in den Kanon, nur um einst vorhandene,
jetzt aber überwundene Zweifel. Hollaz lässt daher die Unter-
scheidung ganz fallen.
Letzteres war insofern das Richtige, als die einstweilen auf die Spitze
getriebene Mechanisirung des Inspirationsbegriffes jedweden Unterschied inner-
halb des Kanons mindestens werthlos, wenn nicht gefährlich erscheinen Hess.
Seither erwies sich die protestantische Theologie immer unfähiger, ihr eigenes
Schriftprincip so klar zu durchdenken, dass dasselbe von dem Banne der Tra-
dition wirklich erlöst wurde. Auf die von Johannes Eck (1525) und Albert
PiauHK (1538) formulirte und katholischer Seits stets wiederholte Instanz, dass
die Bibel ihre kanonische Autorität und ihre Abgrenzung gegenüber dem Un-
») H. HoLTZMANN S 34 f, 137, 152.
") Heppe S 243 f.
V. Kap.: Der Kanon und der Protestantismus. 3. Die Uebergangszeit. 181
kanonischen doch von derselben Kirche, die man sonst verwerfe, bezogen habe,
ist man im Grunde die Antwort schuldig geblieben. Der RĂĽckgriff auf die reli-
giöse Erfahrungsthatsache , die Combination des Begriffes „Wort Gottes" mit
dem Gedanken des Testimonium spiritus intemum, von wo aus eine Lösung zu
finden gewesen wäre, erlitt vielmehr eben dadurch seine grösste Entstellung,
dass diesem „Zeugnisse" schon von Calvin, lutherischer Seits wenigstens seit
HuTTERUS und AegidiĂĽs HunniĂĽs die Vorstellung eines rein supernaturalcn Actes
untergeschoben wurde, wodurch den Gläubigen die Autorität des Kanons in dem
von der Kirche ĂĽberlieferten Umfange enthĂĽllt werde ^). Die aus den reforma-
torischen Kundgebungen leuchtende freudige und unmittelbare Selbstgewissheit
hinsichtlich dessen, was Christenthum heisst und in den neutest. Schriften wieder
zu erkennen ist, war dahin. Um so mehr begehrte man sich an einen bis auf
den Buchstaben feststehenden, in allen seinen Theilen gleichmässig garantirten
Kanon zu klammem und jede höhere wie niedere Kritik als Versuchung des
Argen zu verdächtigen und abzuwehren.
3. Die Uebergangszeit.
Der Bann dieser Verquickung historischer und dogmatischer
Urtheile konnte nur sehr aUmähch gelöst werden. Einen erstmaHgen
Anstoss gaben Arminianer; so traten bei Hugo GrotiĂĽs (Adno-
tationes in NT 1641 — 46) Bedenken auf gegen 2 und 3 Joh,
Bestreitung der unmittelbaren Abfassung von Hbr durch Pls, Zu-
rückführung von 2 Pe und Jud auf jerusalemische Bischöfe. Die
darüber aufgebrachten protest. Kanonswächter (Abraham Calov,
Criticus sacer bibhcus 1673) haben es verschuldet, wenn die Conti-
nuität der wissenschaftlichen Bemühungen eine Zeit lang nur bei
iJuden, Katholiken imd von der Kirche emancipirten Protestanten
gewahrt erscheint ^). Freigebung der Kritik hat Spinoza (Tractatus
theologico-politicus 1670) gefordert, und praktischen Gebrauch da-
von machten Deisten und deutsche Freigeister. Die kath. Kirche
aber konnte wenigstens äussere und niedere Kritik vertragen. Der
schon um 1587 von den Jesuiten Leonhard Less und Johannes
Hamel in Löwen, Eobert Bellarmin in Rom bestimmt wahr-
genommene Vortheil, von den Fesseln der prot. Verbalinspiration
befreit zu sein, hat sich bei den französischen Gelehrten Richard
Simon (f 1712), du Pin (f 1719) und Huetius (f 1721) speciell
fĂĽr unsere Disciphn fruchtbar erwiesen. DafĂĽr hatte man freilich
um so sorgsamer den Standpunkt der Tradition zu wahren, und so
opcrirt auch ihre Kritik fast ledighch mit äusseren Zeugnissen. Nur
wo Simon in der kath. Kirche selbst angesehene Vorgänger hat,
») Schenkel S 146 f.
'') Vergl. fĂĽr den Kampf auf reformirtcm Gebiet E. Rabaud, Histoire de
la doctrinc de rinspiration des saintcs ccritures dans Ics pays de languc fran9ai8e
de la reformc ä nos jours 1883.
]^g2 Geschichte des Kanons.
fällt er rückhaltlose Urtheile. Gleichwohl fanden Bossuet und kath.
Gegner die Lehre von der Tradition gefährdet. Mit mehr Grund
glaubten Protestanten wie der Giessener Theologe J. H. Mai (Examen
historiae criticae textus NT a R. Simone vulgatae 1694; Repe-
titum examen 1699, 2. Afl 1708) ihr Schriftprincip gegen die
Neuerung sicher stellen zu mĂĽssen. Der denselben Standpunkt ver-
tretende Dortmunder J. W. Rump wurde durch den Tod gehindert,
seiner nicht unbedeutenden Commentatio critica ad libros NT in
genere (1730, 2. Afl 1757) eine Kritik der einzelnen BĂĽcher folgen
zu lassen. Schon damals hatte das Wiederaufleben orientalischer
Studien das kritische Material vermehrt und die theologische Welt
genöthigt, wenigstens am Detail des Textes zu lernen, was kritische
Methode heisst. Von der seit Mill nicht mehr abzuleugnenden
Thatsache verschiedener Lesarten nahm die kritische Richtung Anlass
zu nachhaltiger Thätigkeit. Zwar sah Bengel jedwede Differenz
der Lesarten als ein Accidens an und tröstete sich damit, dass ol
XĂ–Yoi xat la ndd'ri davon unberĂĽhrt bleiben und ein ĂĽber das Ganze
ergossenes rfioc, quoddam delicatissimum et subtilissimum decorum
die Unsicherheit des Wortlautes vergessen mache: aber die spätere
Unterscheidung zwischen Schrift und Wort Gottes war damit im
Grundsatze schon gegeben*).
Aber nur mit dem Material der Handschriften, Uebersetzungen
und sonstigen HĂĽlfsmittel fĂĽr Wiederherstellung des Textes befasste
sich die sog. niedere Kritik, wie der fromme Bengel und der pro-
fanere Wettstein sie ĂĽbten. Selbst letzterer vermochte das Ge-
wicht der gegen die pauHnische Abfassung von Hbr zeugenden
Gründe nicht zu fassen. Die sog. höhere, die innere Kritik ist
durchaus ein Erzeugniss derjenigen protestantischen Wissenschaft,
w^elche sich von jeder dogmatischen Beeinflussung des Urtheils
grundsatzmässig befreit hatte. Das Epoche machende Werk von
J. D. Michaelis gilt zwar noch den „göttlichen Schriften des neuen
Bundes", aber seine zwischen 1750 und 1788 erscheinenden 4 Auf-
lagen stellen auf handgreifliche Weise dar, wie vollständig damals
die sich selbst beglaubigende Majestät des altprotest. Schriftideals
in die BrĂĽche zu gehen drohte. Nur nachweisbar von Aposteln
verfasste BĂĽcher sollten jetzt wieder inspirirt sein; die Schriften von
ApostelschĂĽlern bringen es nur zu Zeugnissen der Kirche fĂĽr ihre
Inspiration. Nach dieser Regel wird Jud für unkanonisch erklärt
und muss sich Apc mit sehr unsicheren AnsprĂĽchen begnĂĽgen. Die
») Baur ThJ 1850, S 509, 511.
V. Kap.: Der Kanon und der Protestantismus. 4. Von Semler zu Baur. 183
Inspiration historischer Bücher vollends fällt schliesslich ganz dahin
(4. Afl S 78 f), so dass wir uns hinsichtHch der EvgUen wieder
auf den Standpunkt eines Papias oder Justin zurĂĽckversetzt sehen.
Bezüglich des „innerhch gefühlten Zeugnisses des heiligen Geistes"
bekennt er seine persönhche Unerfahrenheit (S 81). Zur selben
Zeit machte Lessing der Orthodoxie den Cirkel ihres Schiift-
beweises abermals fĂĽhlbar '), und der Eindruck, welchen der Gedanke
ĂĽbte, dass man sich gegen die Tradition auf einen Kanon stĂĽtzte,
den man doch der Tradition verdanke, -bewies, wie wenig man seit
mehr als 200 Jahren vom Fleck gekommen war.
4. Von Semler zu Baur.
Johann Salomo Semler in Halle (f 1791) hat durch zahlreiche
Schriften, darunter für uns die „Abhandlung von freier Untersuchung
des Kanon" (1771 — 75) obenan steht, der üterarischen Kritik erst-
maUg einen festen Bestand im theologischen Bewusstsein der Zeit
verschafft, indem er dasselbe Recht, dessen sich die alte Kirche bei
Aufstellung ihrer Kanonverzeichnisse und Luther bei seinen ab-
schätzigen Urtheilen über einzelne Bücher bedienten, als der protest.
Kirche unveräusserhch in Anspruch nahm. Demgemäss lehrte er
die Verfasserschaft nach historischen Analogien und innerer Wahr-
scheinlichkeit aus dem literarischen Product selbst bestimmen und
kam auf diesem Wege zu deuthcher Wahrnelimung des gegensätz-
lichen Verhältnisses von paulinischem und jüdischem Christenthum,
während ihm die kath. Briefe als Ausgleichungsversuche erschienen.
Am meisten ĂĽberraschte das Resultat, dass der Apostel Johannes,
wenn er das 4. Evglm geschrieben hat, unmöghch auch Verfasser
von Apc sein könne. Schon Emesti und Storr sahen in der gegen
Apc gekehrten Lösung des Dilemmas den Anfang eines vÖHigen
Umsturzes. Gleichwohl hat wie jene von Semler gestellte Alter-
native, so auch seine Beurtheilung von Stellen wie Job 5, 4. 7,
53 — 8, 11. 1 Job 5, 7. Rm 15 und 16 bis auf den heutigen Tag
nichts an Gewicht verloren. Er brachte femer die Bedenken gegen
die unmittelbare Abfassung von Hbr durch Pls, von 1 Pe durch
Petrus in Gang, verlegte 2 Pe und Jud tief in das 2. Jahrb. herab
und hob das Ansehen hervor, in welchem ursprĂĽnglich auch un-
kanonische Evglien standen. Mit der äusseren zeitlichen Einheit
fiel aber zugleich auch die innere, der ĂĽbernatĂĽrliche Ursprung und
schlechthin autoritative Charakter solcher Scliriften. Li keiner Be-
•) Ausgabe seiner Werke von Lachmann (Maltzahn) X, S 15, 129 f, 230 f.
XI, 2, S 121 f, 182 f, 187 f, 231 f.
]^g4 Greschiclite des Kanons.
Ziehung ist der Kanon ein Totum homogeneum. Recht mit Fleiss
suchte Semler in seinen Bestandtheilen stets das Zufällige, das local
und zeitHch Bedingte, zumal das „Judenzeride" aufzuweisen, welches
unmöglich mehr dogmatisch bindend für Christen sein könne, wäh-
rend der kanonische Werth der Schrift auf das, was zur „geist-
hchen Ausbesserung" dient, zu reduciren sei.
Als erste Gegenwirkungen erschienen Kleuker's „Ausführliche Unter-
suchungen der GrĂĽnde fĂĽr die Echtheit und GlaubwĂĽrdigkeit der schriftlichen
Urkunden des Christenthums" (1788—1800) und das neutest. Handbuch (1794),
wie Lehrbuch (1802) von Hänlein, sofern darin kritische Anwandlungen zwar
stets auftauchen, als letztes und durchgehendes Interesse aber das Streben zur
Geltung gelangt, den historischen Bestand des Kanons zu rechtfertigen. Antile-
gomenen gibt es zwar, aber die höhere Wahrscheinlichkeit spricht doch immer
fĂĽr die Echtheit, zumal da der Beweis fĂĽr letztere noch summarisch geleistet
wird: im ganzen Alterthum existiren keine bezeugteren Schriften, keine glaub-
wĂĽrdigeren als die neutest. u. s. w. Auch Johann Ernst Christian Schmidt
(seit 1804) kennt zwar beinahe schon deuteropaulinische Briefe (2 The und 1
Tim), beschränkt aber doch schliesslich das abgünstige Urtheil auf 2 Pe. Ein
um so bemerklicherer Fortschritt auf der von Semler eröffneten Bahn war es,
wenn nun Eichhorn (seit 1804) sich unabhängig von jeder Tradition stellte und
ein rein empirisches Verfahren einleitete ; „Die Schriften des NT wollen mensch-
lich gelesen und menschlich geprĂĽft sein." Menschlich zugegangen ist es wie
bei ihrer Entstehung, so bei ihrer Sammlung. Die spätere Kirche konnte den
um die Mitte des 2. Jahrhunderts entstandenen Kanon zwar erweitern, den
nachträglich angeschlossenen Briefen darum aber nicht denselben Grad von
apostolischer Authentie verleihen. So erweisen sich in der brieflichen Literatur
2 Pe und Jud als unecht, Tim und Tit aber sind wenigstens der Form nach
unpaulinisch. Hinsichtlich der synopt. Evglien vollends blieb von der alther-
gebrachten Ansicht kein Stein auf dem anderen. Sie selbst haben sich als
kanonische Stücke erst spät aus der grossen Masse von Evglien, die im 2.
Jahrh, cursirten, abgelöst, gehen aber zuletzt zurück auf ein ältestes, einheit-
liches Urevglm. Die berĂĽhmte Hypothese von letzterem wurde sofort von dem
Cambridger Professor Herbert Marsh cultivirt in seinen Zusätzen zu der
Uebersetzung der 4. Asg des Werkes von Michaelis (1793, deutsch von E. F.
K. Rosenmüller, Marsh's Anmerkungen und Zusätze zu Michaelis Einleitung,
2 Bde 1795—1803).
Den nächsten Gegenschlag zu Eichhorn's Auftreten bildet Hug (1808),
sofern er bewusst oder unbewusst immer die Tradition vertritt, ein getreuer
Repräsentant der mit Compilation kirchlicher Zeugnisse operirenden kath. Kritik
trotz aller scheinbaren Freiheit und Eleganz der Bewegung. Hier wird Alles
mit Anstand und Würde auf die altherkömmliche Ansicht von der Sache zurück-
geführt, als hätten nur augenblickliche Vergessenheit und pseudokritische
Pfuscherei je davon abzufĂĽhren vermocht. Nicht blos Evglien und Plsbriefe
erfahren eine aTcoxataoTaaK; rtdcvtcov, sondern auch Hbr bleibt paulinisch, die
kath. Briefe sind gerade in der Ordnung geschrieben, wie sie im Kanon stehen
und den Schluss bildet in erfreulichster Weise Apc als unter Domitian entstan-
denes, letztes apostolisches Werk.
V. Kap.: Der Kanon und der Protestantismus. 4. Von Semler zu Baur. 185
Während Leonhard Bertholdt's Einleitung (seit 1812) nur eigenthüm-
lich gekennzeichnet ist durch die Caprice, für möglichst viele Schriften des
NT aramäische Originale anzunehmen, bietet H. A. Schott (1830) in glattem
lateinischem Ausdruck eine Reihe haltloser Vermittelungen zwischen traditio-
nellen Vorstellungen und kritischen Instanzen. So hat ein ApostelschĂĽler im
Auftrage des Pls die Pastoralbriefe geschrieben. Mit demselben glĂĽcklichen
Griffe werden auch die Schwierigkeiten gehoben, die bereits wegen 2 Pe oder
Joh 21 geltend gemacht waren; der Apokalyptiker habe fragmenta quaedam
visionum ex apostoli et mente et calamo profecta zur Grundlage genommen.
Aber selbst das Urtheil de Wette's (f 1849) schwankt von einer Auflage zur
anderen hin und her, so dass sein, den jeweiligen Stand der Wissenschaft in den
dreissiger und vierziger Jahren treu darstellendes, Lehrbuch zum sprechenden
Spiegel für die noch jugendlich unbeständige Kritik jener Periode geworden
ist. Dem Zweifel wird von dem unbestechlichen Wahrheitssinn des Gelehrten
durchweg seine volle Berechtigung eingeräumt und versichert, die Kirche könne
davon nichts befürchten, wenn der Kritiker völlig vorurtheilslos zu den Urkunden
über ihren Ursprung sich verhalte. Aber eben desshalb fällt dieser Kritik auch
fast mehr nur die formale Aufgabe zu, den Forschungstrieb rege zu erhalten;
ihre Untersuchungen sind Uebungsstätten für den gelehrten Scharfsinn der
Theologen. Diese aber lehrt der Verfasser an seinem eigenen Beispiel, wie man
bei aller kritischen Stimmung zuletzt doch in der Hauptsache bei solchen Er-
gebnissen anzulangen vermöge, welche recht wohl mit den traditionellen Vor-
stellungen vereinbar erscheinen. Nahm er doch in Bezug auf 2 The und im
Grunde auch auf Joh später seine eigenen Zweifel wieder zurück, wie er über-
haupt aus den Reihen der „gefährlichen Stürmer" sich zuletzt für zurückgedrängt
erklärte in diejenigen der „conservativen Kämpfer". Zwar Apc hielt er dauernd
fĂĽr unjohanneisch, Tim und Tit fĂĽr unpaulinisch, 2 Pe fĂĽr unecht, 1 Pe und Jac
für verdächtig. Aber diese Bedenken haften doch immer nur an Einzelheiten,
wirken darum nicht nachhaltig. Selbstständiges hat de Wette hauptsächlich
bezĂĽglich Eph, Tim und Tit, am wenigsten dagegen bezĂĽglich der Evglienfrage
geleistet.
Noch ehe er in theilweisem AnschlĂĽsse an de AVette die Einleitung im
Ganzen behandelte, hat Schleiermacher in seinen Arbeiten „über den sog.
ersten Brief des Pls an den Timotheos" (1807) und „über die Schriften des
Lucas" (1817) beredte Vertheidigungen des Rechtes der Kritik geliefert, welches
gerade von dem reinsten Glauben um so unbedingter anerkannt sein wolle, als
doch Niemand, der Göttliches glauben will, Täuschungen, alte oder neue, fremde
oder eigene, glauben wolle. Auch in der „Einleitung" hält er 1 Tim für ent-
schieden unecht, Eph wenigstens für verdächtig; die kath. Briefe sind mit Aus-
nahme von 1 Pe und 1 Joh unecht oder verdächtig; die synopt. Evglien erst
um die Wende des 1. Jahrh. abgcfasst; Act nur ein Aggregat von Gemeinde-
nachrichten und Reiseberichten, unmöglich apostolisch. Eine durchgeführte
Grundansicht tritt nicht hervor, um so mehr Vorliebe fĂĽr das 4. Evglm. Aehn-
lich steht es bei dem frĂĽheren Credner (1836). Die Pastoralbriefc sollen sowohl
echt als unecht sein, Joh und 1 Joh sollen vom Apostel, 2 und 3 Joh sowie
Apc vom Presbyter Johannes sein, der aber wieder unter dem EinflĂĽsse des
Apostels stand. Gegen 1 Pe und Jac, aber auch gegen Eph hat er nichts
Triftiges einzuwenden.
186 Geschichte des Kanons.
5. Die TĂĽbinger Schule.
Die Gegenwart beginnt noch immer mit dem ersten Erscheinen
des „Lebens Jesu" von Straüss (1835). Denn darin, dass alles
Bisherige StĂĽckwerk und mehr oder minder unsicheres Experiment
sei, fanden sich bald auch unter den Gegnern die Urtheilsfähigen
zusammen. Andererseits leistete Strauss selbst bezüglich der Lösung
der sog. Einleitungsfragen so gut wie nichts Neues. Theils galt
es daher nunmehr das Unzureichende der von ihm blos beiläufig
geĂĽbten Quellenkritik auszugleichen und neben dem Allgemeinen des
sagenhaften Inhaltes auch ein Auge zu gewinnen fĂĽr das Besondere
der Evghen nach ihrer Anlage und Abzweckung; theĂĽs aber musste
man sich auch sagen, dass wir über dieselben Gegenstände, denen
diese Schriftwerke gewidmet sind, noch ältere und unmittelbarere
Zeugnisse im NT besitzen. Endlich lag es auch nahe, die bezĂĽg-
lichen Angaben der kirchlichen Schriftsteller und die ausserkanoni-
schen Ueberreste der ältesten Literatur zu Eathe zu ziehen, um auf
diesem Wege blos negative Resultate durch positive zu ergänzen.
Hier ist der Punkt, wo die Untersuchungen der sog. TĂĽbinger
Schule eingreifen, welche zuerst ein compactes Werk auf dem Boden
unserer Disciplin aufgebaut hat. Der BegrĂĽnder dieser Schule
Ferdinand Christian Baur (f 1860) hatte nicht sowohl wie
Strauss von der Philosophie, als vielmehr von der Geschichte, seinen
Ausgangspunkt genommen und schon, bevor Strauss an die Kritik
der Evglien gegangen war, die Kritik des NT von dem anderen
Hauptpunkte aus begonnen, indem er in den Plsbriefen die un-
mittelbarsten und ältesten Urkunden des Christenthums untersuchte.
Auf sie war er im Verlaufe seiner Studien ĂĽber die Gnosis gefĂĽhrt
worden durch seine Forschungen über die dem römischen Clemens
zugeschriebenen HomiHen. In diesen nämlich glaubte Baur einen
schroffen Gegensatz zwischen judaistischem und paulinischem Christen-
thum zu entdecken, von dem sich nicht einsehen Hess, wie er in der
vorangegangenen apostolischen Epoche kleiner gewesen sein mochte.
Er untersuchte daher das Verhältniss des Pls zu den älteren
Aposteln genauer und fand, zumeist an der Hand der Korinther-
briefe, dass man sich von dem apostolischen Zeitalter insgemein ein
falsches Bild mache. Dasselbe könne auf keinen Fall jene goldene
Zeit ungestörter Harmonie gewesen sein, wofür man es gewöhnlich
ausgibt. Vielmehr erhelle aus den eigenen Aussagen des Paulus
der Beweis tiefgehender Gegensätze und lebhafter Kämpfe, welche
dieser Apostel mit der judenchristhchen Partei und auch mit den
älteren Aposteln zu bestehen hatte. Damit war unter allen Um-
V. Kap.: Der Kanon und der Protestantismus, 5. Die TĂĽbinger Schule. 187
ständen eine concretere Anschauung vom Inhalte der ersten Lebens-
frage des Christenthums, von seinem Verhältnisse zum Judenthum
imd von den Wandlungen, die es auf dem Uebergange auf heidni-
schen Boden erfahren hat, gewonnen. Diese Anerkennung haben
Sachkundige auch dann nicht versagt, wenn sie sich keineswegs ein-
verstanden wussten mit dem angedeuteten Schema allgemeiner Ge-
schichtsconstruction. Letzteres ist schon angebahnt in seinem Pro-
gramm ĂĽber die Rede des Stephanus (1829) und ausgefĂĽhrt in der
Abhandlung: „Die Christuspartei in der Korinthischen Gemeinde"
(ZTh 1831, 4, S 61 f mit Nachtrag von 1836, 4, S 1 f). Dann
kam es bei Gelegenheit seiner Untersuchungen ĂĽber die Gnosis zur
Herausgabe seiner Schrift über „die Pastoralbriefe" 1835. Er ging
hier aus von Schleiermacher's Bestreitung von 1 Tim, dehnte aber
die Zweifel auf aUe 3 Briefe aus und suchte sie aus den ĂĽbrigen
uns bekannten Verhältnissen der älteren Kirchengeschichte, d. h.
aus den Parteitendenzen, welche im Laufe des 2. Jahrb. das bewe-
gende Princip der sich gestaltenden kath. Kirche waren, zu erklären.
Weitere Folgerungen aus dem hiermit gewonnenen Standpunkte
ziehen seine Abhandlungen „über Zweck und Veranlassung des
Römerbriefes" (ZTh 1836, 3, S 59 f) und „über den Ursprung
des Episkopats" (ebend. 1838, 3, besonders S. 141 f). Dazu kam
seine kritische Analyse der Apostelgeschichte, deren WidersprĂĽche
mit den Plsbriefen er ins Auge fasste, um schhesslich in Act eine
irenische Parallehsirung des petrinischen und des paulinischen Stand-
punkts zu finden. Alle Resultate fasst er zusammen in seiner
1. Hauptschrift „Paulus, der Apostel Jesu Christi" (1845, 2. Afl
1866 — 67), in welcher blos die 4 Briefe Rm, Cor, Gal echt bleiben.
Gegen alle ĂĽbrigen lagen VerdachtsgrĂĽnde vor, die sich nach ver-
schiedenen Seiten verfolgen und zuletzt zu der schon feststehenden
Gesammtanschauung vereinigen Hessen. In der Folge suchte Baur
auch die anderen neutest. BĂĽcher aus jener Differenz heraus als
Parteischriften irenischer oder polemischer Art zu erklären. Schon
1844 drehte er die bisherige Betrachtungsweise der Differenzen
zwischen den 3 ersten Evghen und dem 4. geradewegs um, indem
er Joh fĂĽr eine rein ideale Composition ohne gescliiclitlichen Halt,
fĂĽr eine nachapostolische Idealisirung der von den Synoptikern in
ursprĂĽngUcherer Form ĂĽberlieferten evangelischen Geschichte er-
klärte. Seine hierauf bezügliche Hauptschrift „Kritische Unter-
suchungen ĂĽber die kanonischen EvangeUen" (1847), wozu als An-
hang erschien die Schrift über „das Markus-Evangelium" (1851),
gellt von dem Satze aus, dass ein Evglm um so weniger fĂĽr histo-
188 Greschichte des Kanons.
risch gelten könne, als eine bestimmte schriftstellerische Tendenz
sich darin zu erkennen gibt ; mit diesem Maassstabe gemessen, offen-
baren sich sogar die Synoptiker, namentlich Mt und Lc, als Tendenz-
schriftsteller, wenn gleich in geringerem Grade als Job. Die kath.
Briefe erweisen sich nicht minder als unecht; Apc rĂĽhrt dagegen
vom Apostel Johannes her. Die Resultate aller dieser Unter-
suchungen fasste er zusammen im 3. Hauptwerke „Das Christen-
thum und die christhche Eorche der drei ersten Jahrhunderte"
(1853, 3. Asg 1863).
Ihren Ausgangspunkt nahm somit diese Kritik nicht sowohl in
einer kritischen Betrachtung des Lebens Jesu, von dem wir so gut
wie nichts erfahren, als vielmehr in der Annahme, dass schon die
Apostel und das apostoHsche Zeitalter durch den Gegensatz des
Judaismus und des PauHnismus, einer particularistischen und einer
universalistischen, einer alttestamentlich-gesetzlichen und einer freieren
Auffassung des Christenthums getheilt waren : ein Gegensatz, welcher
im Grunde auf allmäliger Versetzung des rein praktischen Stand-
punktes des ursprĂĽnghchen Christenthums mit einer dasselbe uni-
versalirenden Speculation beruhte. Allmälig gleicht sich die Span-
nung, welche das Leben des Pls ausfĂĽllte, ohne mit einem Siege
desselben zu enden, unter mancherlei Kämpfen und unzureichenden
Yermittelungen aus, um endlich in der kath. Kirche und ihrer Dog-
matik ihre Endschaft zu erreichen. Das Christenthum erscheint als
Gesetz vom Judenthum aus; aber nicht als jĂĽdisches, sondern als
allgemein gĂĽltiges Sittengesetz vom paulinischen Universalismus aus.
Vorzugsweise durch die Stellung, welche sie zu diesem katholischen
Friedensvertrag und vorher zu dem, darin zum AbschlĂĽsse ge-
diehenen, bĂĽrgerlichen Kriege einnahmen, bestimmte sich ĂĽber 100
Jahre lang der dogmatische Charakter der Einzelnen uud der Par-
teien. Die Denkmale des Kampfes und der Vermittlungen, durch
die er beendigt wurde, liegen vor in der kanonischen und ausser-
kanonischen Literatur des ältesten Christenthums. Jedes Stadium
des Wegs, welchen die Kirche in ihrer Entwickelung zurĂĽcklegt,
ist nämUch durch Schriftwerke bezeichnet, von denen ein Theil, mit
dem Namen von Aposteln und ApostelschĂĽlern theils mit Recht,
theils aber auch mit Unrecht geschmĂĽckt, in der Folge als neutest.
Sammlung dem heiligen Codex der Juden an die Seite gestellt
worden ist. Diese Art der Betrachtung nannte Baur die positive
Kritik im Gegensatze zu der blos negativen de Wette's. Erst durch
solche positive Kritik erscheine der Gegenstand in seiner reinen
Objectivität; erst sie zeige, wie eine Schrift im Geiste ihres Urhebers,
V. Kap. : Der Kanon und der Protestantismus. 6. Die kritische Richtung. 189
nicht aber ihres gläubigen Betrachters erscheine (ThJ 1850, S 481 f).
Durch Uebung solcher positiven Kritik mĂĽsse die Einleitungswissen-
schaft ihren fonnahstischen Charakter verHeren und einen reellen
Gehalt gewinnen. Und zwar zerfallt diese literarische Entwickelung,
welche den Stoff unserer DiscipUn bildet in 3 Perioden, welche auch
in der „Neutestamenthchen Theologie" (1864) wiederkehren. Die
erste reicht bis zur Zerstörung Jerusalems und umfasst die Pls-
briefe, soweit sie echt sind, einerseits, die Offenbarung des Johannes
andererseits. Hier stehen sich ebjonitisches Urchristenthum und
Paulinismus noch in grösster Weite gegenüber. Eine 2. Periode
umfasst die nächsten 70 Jahre und stellt zunächst die Entstehung
der beiden grossen Evglien Mt und Lc dar, die sich auf den
jüdischen Krieg unter Hadrian beziehen sollen. Ferner gehören
Act und Mr, nicht minder aber auch Hbr und die pseudopaulini-
schen, schliesslich auch die kath. Briefe in diesen Zeitraum, der
sich dadurch charakterisirt, dass der erste Schritt zur Milderung
des ursprĂĽnglichen Gegensatzes von Seiten des Judenchristenthums
gethan wird, indem dieses, durch die Erfolge der Heidenmission
belehrt, die Forderung der Beschneidung fallen lässt. Aber auch
der Paulinismus hatte ein Interesse, die Kluft, die ihn vom Juden-
thum trennte, soviel als möglich auszufüllen, für welches Einigungs-
bestreben namentlich Eph und Col Zeugniss ablegen. Endlich voll-
zieht sich in der 3. Periode unter Ausscheidung der ebjonitischen
und gnostischen Extreme der definitive Abschluss, und zwar praktisch
in der römischen Gemeinde und ihrer Losung „Petrus und Paulus",
theoretisch und ideell im 4. Evglm. Diese von 140 datirende Periode
umfasst also die Schriften, welche den Kanon schliessen, d. h.
Pastoralbriefe und johanneische Literatur.
6. Die kritische Richtung.
An den Arbeiten des Meisters betheiligten sich allmälig die
Schüler. Dahin gehört vor Allen E. Zeller, welcher von 1842
bis 1857 die „Theologischen .Jahrbücher" zuerst allein, seit 1848
in Verbindung mit Baur herausgab. Diese, an die Stelle der 1840
eingegangenen älteren Tübinger Zeitschrift getretene, Unternehmung
umfasst 16 Bde, welche zum grössten Theil mit Material zur neutest.
Einleitung gefĂĽllt sind. Am bedeutendsten sind Zeller's Leistungen
auf dem Gebiete von Act (zusammengefasst 1854); andererseits hat
er durch lichtvolle Gesammtdarstellungen und Uebersichten fĂĽr die
Verbreitung der TĂĽlnnger Resultate innerlialb weiterer Kreise ge-
wirkt (Vorträge und Abhandlungen gescliichtlichen Inhalts 1865,
190 Geschichte des Kanons.
2. Afl 1875). Den ersten Versuch zu einer solchen Zusammen-
fassung der Baur'schen Annahmen zu einem . grossen Geschichtsbilde
hatte schon vorher A. Schwegler (-[- 1857) gemacht in seiner
Schrift „Das nachapostolische Zeitalter in den Hauptmomenten seiner
Entwickelung" (1846), einem Programm der Schule, welches zwar
etwas rasch gearbeitet ist, daher auch im Einzelnen noch manche
empfindhche LĂĽcken darbietet, dafĂĽr aber in mehreren Punkten des
Meisters Arbeiten selbst vorangeeilt ist. Hierher gehören ferner
die anregenden , Schwegler's vorgeschobenste Positionen mehr
oder weniger aufgebenden Specialarbeiten (in ThJ) von C. Planck,
L. Georgii und Karl Reinhold Köstlin. Insonderheit aber
haben von hier ihren Ausgangspunkt genommen und sind den kriti-
schen Ansichten der Schule in weiterem Sinne getreu geblieben
Adolf Hilgenfeld in Jena und Gustav Yolkmar in ZĂĽrich, von
welchen der Erstere die Aufstellungen Baur's möglichst zu ermässigen
suchte, während der Zweite sie noch mannigfach überbot. Von
Letzterem rĂĽhrt eine lange Reihe verdienstvoller und scharfsinniger
Arbeiten auf dem Gebiete der apokryphischen, apokalyptischen und
evangelischen Literatur her. Dagegen war es wohl keine gĂĽnstige
Verknüpfung der Umstände, welche ihn sofort mit zusammenfassenden,
das Ganze behandelnden, Schriften beginnen Hess. Dahin gehören
seine „Religion Jesu" (1857) und die „Geschichtstreue Theologie"
(1858). Die Evglien erscheinen hier als Tendenzschriften, deren
Elemente fast ausschliessHch in den Erfahrungen der christlichen
Kirche zu suchen sind; sie enthalten nicht sowohl eine Geschichte
Jesu, als vielmehr eine Geschichte seiner Gemeinde und ihrer Partei-
streitigkeiten, Entwickelungszustände und Begriffsbildungen. Echtes
ist bis in's Jahr 150 nichts producirt worden als 4 Plsbriefe und
3 Schriften Justin's. DafĂĽr hat Volkmar besonders die Zeiten
Trajan's und Hadrian's mit einer aus alttest. apokryphischen, neu-
test. kanonischen, endlich auch aus pseudepigraphischen Schriften
bestehenden Literatur ausgestattet. Eine Uebersicht ĂĽber die Resul-
tate seiner Forschungen gibt in seinem 1876 erschienenen Nach-
wort zum Werke „Die Evangelien oder Marcus und die Synopsis"
(1870) das chronologische Register ĂĽber die altchristliche Literatur
(S 27 f, vgl. auch „Jesus Nazarenus und die erste christhche Zeit"
1882, S 7 f , 19 f). Praktisch wirksam wurde diese originelle Auf-
fassung besonders durch den ungetheilten Beifall, welchen sie bei
Heinrich Lang fand, dessen „Zeitstimmen aus der reformirten
Kirche der Schweiz" (1857 — 71) Vieles zu ihrer weiteren Verbrei-
tung beitrugen. Ebenso hält sich in England der Verfasser von
V. Kap.: Der Kanon und der Protestantismus. 6. Die kritische Richtung. 191
Supernatural religion (vgl. oben S 93) mit Vorliebe an Volkmar,
ĂĽberhaupt an die weitgehendsten Vertreter der kritischen Richtung
in Deutschland.
Adolf Hilgenfeld gibt seit 1858 die „Zeitschrift für wissen-
schaftHche Theologie" heraus, welche als Fortsetzung von ThJ gilt.
Seine „Einleitung" (1875) überhebt uns der Pflicht, der Gestalt,
welche die neutest. Probleme bei diesem Forscher eingenommen
haben, in den zahlreichen Veröffentlichungen, welche seit 1849 vor-
fc^ liegen, nachgehen zu mĂĽssen. Schon in der Evglienkritik ist ihm
I „die Tendenz nicht mehr Eins und AUes", wie er denn von jeher
seine, die ganze Eigen thĂĽmlichkeit dieser Schriftwerke berĂĽcksich-
tigende und darnach ihre Stelle in der dogmatischen Entwicklung
bestimmende, Kritik als die „literarhistorische" der Tübinger „Ten-
denzki'itik" gegenĂĽber gestellt hat. Das Urchristenthum habe nicht
aus reinem Ebjonitismus bestanden und im Verhältnisse des Pls zu
den Uraposteln dĂĽrfe die gemeinsame Grundlage nicht verkannt
werden; auch werden den 4 Hauptbriefen noch 3 weitere echte
StĂĽcke (1 The, Phl, Phm) beigefĂĽgt. Die Entstehung der kath.
Kirche aber lässt sich nicht einfach auf dem Wege einer allmäligen
Abstumpfung des paulinisch-judaistischen Gegensatzes ableiten, son-
dern zu beiden Richtungen ist als ein 3. Factor die gn ostische Be-
wegung getreten, in deren mächtigem Andrang die sich bekämpfenden
älteren Parteien das Hauptmotiv zur Einigung fanden. Auch das
NT nimmt in seinen letzten Schriften (Col, Eph, Tim, Tit) an
dem grossen Geisterkampfe Theil, den die Gnosis heraufbeschworen
hatte, und auf ihrer Spitze ist diese speculative Wendung, welche
der Paulinismus im 2. Jahrh. genommen hat, im 4. Evglm an-
gelangt.
Eine fast ganz isohrt dastehende Episode in der Geschichte
der neutest. Kritik bildet die theologische Schriftstellerei von Bruno
Bauer (-j- 1882). Der früheren Periode gehören an die „Kritik
der evangelischen Geschichte des Johannes" (Bremer Asg 1840)
und „Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker" (Leipziger
Asg 3 Bde 1841—42, 2. Afl 1846), „Kritik der Evglien und Ge-
schichte ihres Ursprunges" (Berliner Asg 4 Bde 1850 — 52), „Die
Apostelgeschichte" (1850) und „Kritik der pauhnisclien Briefe"
(3 Bde 1850 — 52). Wenigstens die zuerst erschienenen unter diesen
Werken haben seiner Zeit ein ungeheures Aufsehen erregt und dem
Verfasser den Ruf eines kritischen Herostratus eingetragen. Bereits
war man theologischerseits gewöhnt, ihn zu den überwundenen Stand-
punkten und abgethanen, ja vergessenen Grössen zu reclmen, als er
(
192 Greschichte des Kanons.
noch einmal auftrat, um von seiner Auffassung des Christenthums
als einer unpersönlichen, aus der geistigen Stimmung der römischen
Cäsarenzeit zu erklärenden Macht ein Gesammtbild zu geben, dessen
wissenschaftUche Gewährleistung von den früheren theologischen Ar-
beiten her vorausgesetzt war. So in den Schriften „Philo, Strauss,
Renan und das Urchristenthum" (1874), „Christus und die Cäsaren"
(1877) und dem Nachworte „Das UrevangeHum und die Gegner der
Schrift: Christus und die Cäsaren" (1880). Dem in der Weise der
römischen Biographien der Kaiserzeit entworfenen Urevangelium
(Mr) haben Mt und Lc Kindheitsgeschichten hinzugefĂĽgt, deren
Vorbilder man gleichfalls bei Sueton, Ovid und Vergil suchen muss.
Den Abschluss bildet der 4. Evangelist, indem er den gnostischen
Gegensatz gegen das Judenthum, welchem schon Urlucas gewidmet
war, systematischer und zugleich vom Typus des Urevangeliums un-
abhängiger durchzuführen versucht. Während aber im Morgenlande
neben dem neutralen Inhalte des Urevangeliums die philosoi^hische
Ideenwelt des 4. Evangelisten zur Herrschaft kam, hat im Abend-
lande etwa gleichzeitig mit den Evglien um 130 — 70 die pauUnische
Briefliteratur ihre Entstehung gefunden, welche dem wenig originellen
Pls von Act einen neuen Pls entgegensetzte, der die Kosten seiner
Schriftstellerei mit gnostischen Abfällen und mit Beminiscenzen aus
der LeetĂĽre Philo's und Seneca's bestreitet.
Eine glückliche Mitte hält in selbstständigem Anschlüsse an die
Aufstellungen der kritischen Schule Adolf Hausrath ein in dem
wohl abgerundeten Werke „Neutestamentliche Zeitgeschichte" (1868
—1873. 2. Afl 1873—77. Bd 1, 3. Afl 1879).
Die mit der deutschen parallel laufende kritische Richtung der holländischen
Theologie hat sich ein gediegenes und inhaltreiches Organ geschaöen in der seit
1867 in Leiden erscheinenden Theologisch Tijdschrift, als deren Hauptmitarbeiter
S. HoEKSTRA, F. W. B. VAN Bell und A. H. Blüm auftraten. In der populären
Skizze von Rovers (1874 — 76) war das mittlere Fahrwasser eingehalten, wie
der Leidener Altmeister J. H. Schölten (f 1885) es gewiesen hatte. Eine ent-
schieden radicale und zuletzt mit der Continuität des theologischen Betriebes
der biblischen Studien brechende Strömung dagegen leitete Allard Pierson
ein, indem er sowohl die geschichtliche Person Jesu, wie die Echtheit von Gal
(De bergrede en andere synoptische fragmente 1878), bald auch die Authentie
sämmtlicher Plsbriefe bestritt (Verisimilia: Laceram conditionem Novi Testamenti
exemplis illustrarunt et ab origine repetierunt A. Pierson et S. A. Naber
1886). Ihm folgte sein Amsterdamer College A. D. Loman, dessen Quaestiones
Paulinae (ThT 1882, S 141 f, 302 f, 452 f, 593 f. 1883, S 14 f, 241 f. 1Ă–86,
S 42 f) auf der einen Seite den durchaus mythischen Charakter des Jesusbildes
als einer Exemplification jüdischer und urchristlicher Märtyrerideale, auf der
andern aber die Undenkbarkeit eines in so geringem Zeitabstand von Jesus
auftauchenden Urhebers der Plsbriefe darthuu wollen. Erst nachdem der ge-
V. Kap.: Der Kanon und der Protestantismus. 6. Phant. constr. Reaction. 193
schichtliche Pls eine messianische Bewegung in der jĂĽdischen Diaspora angeregt,
sei lange nach 70 die Messiasidee aus dem nationalen Rahmen herausgetreten
und habe sich in die humanistische Christusidee umgesetzt, wie z. Th. schon
die Evglien sie vertreten. Dieselbe antijĂĽdische und universalistische Gnosis,
welche dem Christenthum erst sein Dasein verliehen, producirte auch seit etwa
120 die Plslegende und die, erst nach Marcion und Justin in ihre jetzige Form
gebrachten, Plsbriefe in der Reihenfolge Rm, Cor, Gal, woran sich Joh und
Act schlössen. Bei theilweiser Anerkennung dui-ch van Loon (Bijblad van de
Hervorming 1882, S 119, 169 f), H. U. Meyboom (ThT 1883, S 58 f. 1884
S 412 f) und besonders J. C. Matthes (Stemmen uit de vrije gemeente 1883,
S 145 f. 201 f. 1884, S 21 f) fand die neue Hypothese im Lager der kritischen
Theologie selbst energische ZurĂĽckweisung durch Rovers (Stemmen 1882, S 51 f ;
Bibliotheek voor Moderne Theologie 1883, S 295 f j, Prins (Apologetische polemiek
1882), VAN Manen (Stemmen 1883, S 262 f) und Schölten (Historisch-kritische
bijdragen naar anleiding van de nieuwste hypothese aangaande Jezus en den
Paulus der vier hoofdbrieven 1882), welcher zunächst die Geschichtlichkeit Jesu auf
Grund des kritisch hergestellten Berichtes bei Josephus (Ant. XVIII, 3, 3) con-
statirte, hierauf den Versuch kritisirte den apostelgeschichtlichen Pls ĂĽberhaupt
geschichtlicher zu finden als denjenigen der Briefe, ferner den Spuren des Pauli-
nismus bei den anderen neutest. Schriftstellern nachging, um zu zeigen, dass
auch Mt, Lc, 1 und 2 Pe, Jac und Hbr die paulinischen Homologumena voraus-
setzen, endlich in Bezug auf das Verhältniss Justin's und Marcion's zu Pls den
geschichtlichen Zeugnissen, die Loman für irrelevant erklärt hatte, wieder zum
Recht verhalf ^).
7. Phantasiemässig construireiide Reaction.
Die Aufstellungen der Kritik brauchten nicht bis in die schwindelhafte
Höhe, in der sie bei Einigen der zuletzt genannten Kritiker auftraten, hinauf-
geschraubt zu werden, um den lebhaftesten Widerspruch hervorzurufen. Wie
dieser z. Th. mit GemĂĽthsbedĂĽrfnissen zusammenhing, die sich von Haus aus
auf die reichen HĂĽlfsmittel der Phantasie gewiesen sehen, so lieferten die letzteren
jetzt auch erstmalige Aushülfe. Demgemäss macht sich im grossen apologetischen
Heerlager zunächst eine Gruppe von Theologen bemerkbar, welche im Unter-
schiede von der nächsten, lediglich dem conservativen Instinkt des Traditio-
nalismus gehorchenden, Reihe mehr von Bedürfnissen ästhetischer Art geleitet
werden und ihre Anschauungen von der neutest. Literatur einem kĂĽnstlerischen
EntwĂĽrfe der Entwickelung von dem Auf- und AbblĂĽhen der apostolischen
Kirche entnehmen. So schon in den, ĂĽbrigens recht schwachen, AVerken von
Heinrich Böttger (Baur's historische Kritik in ihrer Consequenz 1840 — 41 ; Das
Urchristenthum aus dem Heiden- und Judenthum entwickelt und bewiesen 1882
— jenes soll witzig sein, dieses will ernst genommen werden) und W. O. Dietlein
(Das Urchristenthum 1845), der an der Stelle eines paulinisch-judaistischen Gegen-
satzes vielmehr einen solchen zwischen Gott und Welt, Christenthum und
Häresie wahrnimmt. In gleicher Richtung hielt G. L. Hahn seine Antritts-
vorlesung „über den gegenwärtigen Stand der neutest. Kritik" (1848).
*) Vgl. ĂĽl)er die Bewegung in Holland van Manen JprTh 1883, S 593 f.
1884, S 269 f, 551 f. 1885, S 86 f, 454 f. 1886, S 418 f.
H ol tzm ann , Einleitung. 2. Aaflago. «q
;[94 Geschichte des Kanons.
Eine gemeinsame und angesehene Standarte fand die Gregen-
bewegung in der „Geschichte der Pflanzung, und Leitung der christ-
lichen Kirche durch die Apostel" (1832—33, 5. Afl 1862) von
August Neander, welche sich in den späteren Aflgen mit Baur
einlässt und die innere Situation der Gemüthstheologie angesichts
einer schon als gefährhch erkannten Sachlage in etwas formloser
Weise zur Darstellung bringt. Entscheidend mrkte das auch in der
„Allgemeinen Geschichte der christHchen Rehgion und Kirche"
(seit 1824, 4. Afl seit 1863) an die Spitze gestellte Schlagwort: das
Christenthum sei seinem UrsprĂĽnge nach ĂĽbernatĂĽrhch , seiner Ent-
wicklung nach natürlich — wobei jedoch ausdrücklich davor gewarnt
wurde, „scharf bezeichnete Grenzen zu ziehen" (3. Afl I, 1, S 40).
In dieser Form hat den Standpunkt seines Meisters, ohne ihn wesent-
lich fortzubilden, aber mit BerĂĽcksichtigung der BedĂĽrfnisse der
amerikanischen Theologie und unter unermüdlicher und je länger
desto unbefangener geĂĽbter Yerwerthung der Fortschritte deutscher
Wissenschaft Philipp Schaff vertreten. Die drei Formen seines
Werkes unterscheiden sich als „Die apostohsche Kirche" (1. Theil
seiner „Geschichte der christHchen Kirche", deutsch Mercersbury
1851 und Leipzig 1854), „Geschichte der alten Kirche" (englisch
New- York 1858, deutsch Leipzig 1867, 2. Afl 1869) und „Apostolic
christianity" (1. Theil von „History of the Christian church" 1882).
Die constructive Macht der Phantasie aber bewährt sich hier in dem
Schema: Jakobus des Gesetzes, Petrus der Hoffnung, Paulus des
Glaubens , Johannes der Liebe Apostel. Unmittelbar vor den
Plsbriefen, die sämmtlich echt sind, ist Jac, unmittelbar hernach
1 Pe geschrieben; es folgen Mt, Mr, Lc und Apc vor 70, Job
noch vor 100.
Bald genug wurde jene Warnungstafel Neander's unnöthig, ja
schädHch befunden. Gegen eine Kritik, welche die neutest. Literatur
in den Strom des geschichtlichen Werdens hereinzog, erschien viel-
mehr diese Literatur erst dann gesichert, wenn sie durch eine deut-
lich gezogene Demarcationslinie geradezu dagegen abgesperrt war.
Der „Versuch zur Herstellung des historischen Standpunktes für die
Kritik der neutest. Schriften" (1845) von Heinkich Thierscii
(-{- 1885) nimmt daher seinen festen Standpunkt gleich in der Vor-
aussetzung, der Gottesgeist habe in produktiver, inspirirte Schriften
schaffender Weise nur bis zum Aussterben der Apostel gewirkt, sei
dann aber zurĂĽckgezogen worden, um einer rein menschlichen Ent-
wickelung Platz zu machen. Nur die apostolische Epoche habe
auch den Urkanon selbst zu scliaffen vermocht, in den späteren Zeiten
V. Kap.: Der Kanon u. der Protestantismus. 7. Phant. constr. Reaction. 195
seien noch die Antilegomena liinzugetreten. So findet er zwischen
der Kirche des 1. und derjenigen des 2. Jahrh. einen Unterschied
wie zwischen Tag und Nacht, ja er verlegt auf die Grenze zwischen
])eiden gleichsam einen zweiten SĂĽndenfall, einen Abfall vom sĂĽnd-
losen Anfang zu einem sĂĽndigen Fortgang. Gegen Baur's Wider-
spruch (Der Kritiker und der Fanatiker 1846) begrĂĽnden denselben
Standpunkt spätere Schriften noch allseitiger. So schon „Einige
Worte ĂĽber die Echtheit der neutest. Schriften" (1846), besonders
jiher sein Hauptwerk „Die Kirche im apostoUschen Zeitalter"
(1852, 3. Afl 1879). Hier liegt eine im Grunde von ästhetischen
Gesichtspunkten bedingte Dichtung vor. Die Kirche bat den Beruf,
die Möglichkeit einer menschlichen Entwickelung ohne Sünde darzu-
thun (S 58). Dem kommt sie nach im apostolischen Zeitalter, wel-
(^hes ein dreiactiges Drama darstellt (S 64); als Hauptpersonen
treten erst Petrus, dann Pls, endlich Johannes auf. Den beiden
ersten Handlungen gehört die gesammte neutest. Literatur mit Aus-
nahme der Johanneischen Schriften und Jud an, welche fĂĽr den,
vom jĂĽdischen Krieg bis zu Ende des Jahrh. reichenden, Schlussact
vorbehalten bleiben. Zur Tragödie aber wird das Drama durch
den Fall der Kirche nach der Apostel Zeiten ; denn daraus resultirt
.,eine neue Stufe des Bösen, welche es weder unter den Heiden,
noch unter den Juden jemals erreicht hatte" (S 60).
Dieselbe rein phantasiemässige Auffassung, nur im Gegensatze zu der
sectirerisclien Wendung Thiersch's mehr der herrschenden Orthodoxie zu Gunsten
'/ewendet, vertritt Johann Peter Lange (f 1884). Sein „Apostolisches Zeit-
itlter" (1853 54) beruht ganz auf dem, als Gedankenblitz ja wohl annehmbaren,
l']infalle, die apostolische Zeit als typisches Lebensbild der Kirche aller Zeiten
/ii vervverthen. Auch sein „theologisch-homiletisches Bibelwerk", welches seit
1857 in 16 Theilen das NT behandelt, weist hier und da die gleiche Beleuchtung
auf, und wie nahe er namentlich zu Thiersch steht, erhellt z. B. daraus, dass
er selbst an Apc 2, 5 uofl-sv exireTfctoxa? nicht vorbeikommt, ohne den Gegen-
:i1/. von kanonischen und ausserkanonischen Schriften zu vermerken (Die Offen-
ItaiuiiL'' Johannis S 83). Ganz beherrscht von ähnlichen Grundanschauuugen
• rwrist sich H. I. Bestmann, Geschichte der christl. Sitte II, 1882 — 85; Die
Anfänge des kath. Christenthums und des Islams 1884. Hiemach wären vor dem
.lahre 70 die Judenchristen mit Einschluss des Jakobus und der Act 21, 20
«gekennzeichneten Eiferer lauter gesetzesfreie, evangelische Christen gewesen.
Krst infolge des jüdischen Krieges trat dann die „Nationalisirung", d. h. die
volksthümliche Vergröberung der neuen Ideenwelt, mit einem Worte die Ver-
jiidung dos Christenthums ein, womit das Judenchristenthum den ersten Anlasszu
lortschreitcnder Assimilation fremder Stoffe gegeben hat. Auch die hciden-
thristliche Gnosis, für welche „der unruhige Nikolaus" Act 6, 5 verantwortlich
j^enmcht wird, und der Montanismus werden mit dem Judenchristenthum in
eausale Verliinduug gebracht. Unter solchen Einflüssen schreitet die „innere
13*
196 Geschichte des Kanons.
Dekompositiou", der Verlarvungsprozess des Christenthums, rasch weiter und
ergreift die Nationen mit unwiderstehlicher Macht. Auch E. de Pressense
(Histoire des trois premiers siecles de l'eglise chretiBnne — die erste, 1858 er-
schienene, Serie behandelt das apostolische und nachapostolische Zeitalter,
deutsch von Fabarius 1862 — 63) unterscheidet eine petrinische, paulinische und
Johanneische Periode des apostolischen Zeitalters, von denen die 1. die der
absoluten Uebernatürlichkeit sein soll, während in der 2. das Menschliche hervor-
tritt, in der 3. endlich Göttliches und Menschliches sich durchdringen; der
Uebergang vom apostolischen Zeitalter in das nachapostolische vollzieht sich
auch hier schliesslich durch einen Fall (II, S 371 : La distance est considerable,
et on peut meme dire la chute est grande). Ein solcher Strich zwischen den
literarischen Producten beider Epochen, wie ihn eine rein geschichtliche Auf-
fassung in der Wirklichkeit nirgends nachweisen kann, wird um so willkĂĽrlicher
angenommen, als gerade das Hauptmerkmal der angeblich eingetretenen Ver-
änderungen, das Aufhören der übernatürlichen Geistesgaben, insonderheit der
prophetischen Inspiration, von den Hauptrepräsentanten der beginnenden kirch-
lichen Schriftstellerei direct verleugnet wird (vgl. S 111 f, 152).
Gleichwohl rauscht der Wasserfall von der kanonischen Höhe in die
menschliche und sĂĽndige Tiefe noch fĂĽr weite Kreise der heutigen Theologie.
Darum bezeichnet z. B. Johann Tobias Beck den Strom des kirchengeschichtlichen
Werdens im Gegensatz zur apostolisch-kanonischen Höhe, von der er herab-
gestürzt, als „apokryphische Zeit" (Erklärung der zwei Briefe an Timotheus
1880, S 132).
8. Dogmatisch operirende Restauration.
Der erste Theologe, welcher gegen Baur mit einer umfassenden
Gesammtdarstellung hervortrat, war sein SchĂĽler G. V. Lechler,
dessen „Geschichte des apostolischen und nachapostolischen Zeit-
alters" (1851, 2. Afl 1857, 3. Afl 1885) auch in ihrer neuesten
Gestalt trotz gelegenheitsweise herbeigezogener und nach BedĂĽrfniss
berĂĽcksichtigter neuerer Literatur die Opposition nur in der Gestalt
vertritt, wie sie noch bei Baur's Lebzeiten beschaffen war. Der
dogmatisch bedingte Charakter derselben verräth sich gleich in dem
Versprechen des Nachweises, dass die Construction Baur's „weder
dem Interesse des Glaubens, noch der geschichtlichen Wahrheit ge-
recht wird" (S 4). Allerdings habe dieselbe eine befriedigende
Einsicht in den realen Vorgang, in die walirhaft geschichtliche Ent-
wickelung des Urchristenthums erstmalig angebahnt (S 1). Aber
weit entfernt davon, dass die Kirche aus einem Gegensatze erwachsen
sein sollte, ist sie einerseits einfach als Erweiterung der Einen Ur-
gemeinde in Jerusalem zu betrachten (S 91), andererseits erscheint
der Paulinismus als der nur vorĂĽbergehend angefochtene, im Grunde
aber durchschlagende und beherrschende Mittelpunkt des apostolischen
Zeitalters, als das ideale Substrat der Kirche. Die ganze Bewegung
des nachapostolischen Zeitalters aber besteht darin, dass in Folge
V. Kap.: Der Kanon u. der Protestantismus. 8. Dogm. operir. Restauration. 197
des Ereignisses des Jahres 70 und der seither auf Seiten des Juden -
thuras immer fanatischer werdenden Christusfeindschaft (S 214, 526 f)
eine allmähge Loslösung von jüdischer Sitte und gesetzHch befangenem
Wesen auch auf judenchristhcher Seite statt hat (S211f, 216). Im
2. Jahrh. aber wurden alle Spuren einer ebjonitischen Machtstellung
verwischt. Höchstens erscheint noch eine von heidnischen Ideen
ausgehende Gnosis als geföhrlich. „Hingegen war nach allen uns
zu Gebote stehenden Urkunden der späteren apostoHschen Zeit das
Judenthum wie als poKtische Macht gebrochen, so als geistige Macht
für die Kirche Christi kein gefährlicher Gegner mehr" (S 223). Im
Uebrigen ist des Verfassers BemĂĽhen durchaus darauf gerichtet,
[ den bösen Riss, der sich im Gemälde der apostolischen Zeit selbst
'. aufzuthun drohte, mit allen Mitteln traditioneller Harmonistik aus-
zugleichen (vgl. darĂĽber Gott. Gel. Anzeigen 1886, S 233 f). Ih die-
selbe Reihe gehört, sofern er die Echtheit aller einzelnen Bestand-
theile in erster und letzter Instanz aus dem Postulate eines der
Kirche unabkömmlichen Schriffcideals ableitet, Johann Christian
Konrad von Hofmann (f 1877). Nachdem derselbe in einer grund-
I legenden Abhandlung „zur Entstehungsgeschichte der heiligen Schrift"
(ZPK, 28, 1854, S 85 f) verlangt hatte, es mĂĽsse an die Stelle
einer durch Gegensätze hindurchgehenden Entwickelung vielmehr
organische Entfaltung eines einheitlichen Princips treten, veröffent-
lichte er eine, diesen Gedanken durchführende, weitläufige Erklärung
der neutest. Schriften (Die heilige Schrift Neuen Testamentes zu-
sammenhängend untersucht I, 1862, 2. Asg 1869. II, 1863—66,
2. Asg 1872—77. HI— XI, 1868—85— die drei letzten, von Volck
herausgegebenen, Theile enthalten die Einleitung in das NT, die
neutest. Geschichte und die neutest. Theologie, die 8 ersten Aus-
legungen der pauhnischen und der kath. Briefe, auch Lc; es fehlen
Mt, Mr, Act und die gesammte johanneische Literatur). Hier wird
nun selbst die paulinische Abfassung von Hbr und die petrinische
Authentie von 1 und 2 Fe aufrecht erhalten. Die kritischen Schluss-
abhandlungen der Commentare befassen sich fast nur mit Baur's
Aufstellungen, und die ganze Grundauffassung ist auf die schmale
Unterlage der vollkommenen Uebereinstimmung von Gal 2 und~Act 15
gebaut, die als „Ausgangspunkt der Untersuchung" in einer einlei-
tenden Abhandlung dargelegt wird. Die „Einleitung" selbst besteht
aus einem, in ganz nothdürftiger Beziehung zur Continuität der
Wissenschaft stehenden , Verzeichniss von dogmatisch bedingten
Decreten ĂĽber die Entstehung der neutest. BĂĽcher, und das zum
voraus in Aussicht gestellte Ziel wird in durchgängiger und voll-
198 Geschichte des Kanons.
ständiger Rechtfertigung des Kanons in seinem gegenwärtigen Um-
fange erreicht.
Noch etwas leichter macht sich seine Aufgabe Rudolf Friedrich Grau,
dessen „Entwickelungsgeschichte des neutest. Schriftthums" (1871 — 72) die
lutherische Lehre vom Worte Gottes nicht blos gegenĂĽber der katholischen und
reformirten Doctrin, sondern auch ganz insonderheit gegenĂĽber der modernen
Wissenschaft festzustellen unternimmt, ohne jedoch jedem einzelnen Antilegomenon
seine Echtheit wiedergeben zu können. Denn der Verfasser will „nicht sowohl
eine Rettung des Einzelnen als des Ganzen vollbringen" (II, S 531). Es soll
nämlich das Ganze ein „Organismus" sein, und als solcher sich zu erkennen geben
in der Angemessenheit und Zweckmässigkeit der Gliederung. Solcher Glieder
weist der Verfasser drei nach: die kerygmatische Stufe, welche synoptische
Evglien und Act umfasst, dann die epistolische, ein höheres subjcctives und
reflectirendes Moment repräsentirende, schliesslich die prophetische, Apc Hbr
und Joh begreifende Stufe; das Kerygma entspreche dem Epos, die Epistel-
literatur dem Melos, die Prophetie dem Drama u. s. f. Demselben Geist huldigt
sein Bibelwerk für die Gemeinde (das NT in 2 Theilen 1878—80).
Aelter jedoch als die Orthodoxie des 17. Jahrh., welche in den An-
schauungen der Schulen Hofmann's und Hengstenberg's zu Tage tritt, ist die-'
jenige Luther's, der Centuriatoren und ihrer Nachfolger. Auch sie wurde
repristinirt, und zwar von der strengsten confessionellen Richtung, so dass gerade
auf diesem äussersten Elügel der lutherischen Schlachtreihen freiere Urtheile
über einzelne Stücke des Kanons gehört werden konnten. Anknüpfend an die
schon von Schleiermacher, C. J. Nitsch und Bleek wieder hervorgezogene Unter-
scheidung protokano nischer und deuterokanonischer BĂĽcher, haben Dogmatiker wie
Philippi (Kirchliche Glaubenslehre I, 1854, S 118 f), Kahnis (Zeugniss von den
Grundwahrheiten des Protestantismus 1862, S 68 f; Die lutherische Dogmatik
.2. Afl 1874, I, S 255, 260 f), H. Voigt (Pundamental-Dogmatik 1874, S 481 f,
511, 556) die Autorität der Schrift wieder ganz auf die historische Frage nach
ihrem apostolischen Ursprung zurückgeführt und demgemäs Luther's „rechte
Hauptbücher" den „Antilegomena" übergeordnet. Einzelnes sogar (2 Pe und Jud
bei Voigt) für unkanonisch erklärt. Im Gegensatz zu der freieren Beurtheilung,
welche namentlich die kath. Briefe in der correct confessionellen Theologie er-
fuhren, begegnet man in gleichem Betreff einem schon gebundeneren Urtheil in
der breiten Mitte der herrschenden Theologie, wie dieselbe etwa durch die
„Theologischen Studien und Kritiken" (seit 1828 — auf dem Gebiete der neu-
test. Wissenschaften seit 30 - 40 Jahren vorzugsweise conservativen Tendenzen
dienend) und durch die „Jahrbücher für deutsche Theologie" (1856—78 — nur
theilweise freier gerichtet) vertreten ist. Und wie fĂĽr diese geachteten Zeit-
schriften, so kann fĂĽr weite Kreise der wissenschaftHch strebenden Geistlichkeit
Leonhard Hug, dessen Kritik im Grunde so gut kathoHsch war, so wenig sie
es scheinen mochte, als Typus und Ideal aller „besonnenen Forschung" gelten.
Nur gibt man vielfach 2 Pe als vereinzeltes Beispiel eines Missgriffes der Kirche
preis, um, trotz aller Uebereinstimmung in der Sache, doch den neutest. Kanon
nicht unbesehen aus den Händen der afrikanischen Synoden und der Macht-
sprüche verkündigenden Bischöfe Roms in Empfang genommen zu haben^).
*) Vgl. G. V. Lechlbr, S 421, 440 f. H. Holtzmann, Kanon und Tra=
dition 1859, S 162. Tischendorf, Wann wurden u. s. w. S 127. Reuss, Ge-
V. Kap. : Der Kanon u. der Protestantismus. 9. Wissenschaftl. Opposition. 199
Insonderheit zeigt sich fast unsere ganze Commentarliteratur von dem Interesse
beherrscht, eine möglichst vollständige Echtheitserweisung der neutest. Schriften
zu liefern. Statt vieler sei H. A. W. Meyer's seit 1832 erscheinender „kritisch-
exegetischer Commentar ĂĽber das NT" genannt. Auch fĂĽr BĂĽnsen (Bibelwerk
Vni, 1866, S 585 f, 589 f ) bilden die kath. Briefe den ältesten Theil der neu-
test. Literatur und stellen die vorpaulinische Entwickelungsform der Kirche dar.
Als bedeutendster und wirksamster Vertreter der ganzen Richtung aber darf
Bernhard Weiss mit seinen einflussreichen und viel gelesenen Arbeiten zur
neutest. Exegese, Kritik und Theologie gelten^), welchem bezĂĽglich aller
Hauptfragen Willibald Beyschlag zur Seite steht'-^).
9. Wis senschaftliche Opposition.
Als E. Reüss mit seiner „Geschichte der heiligen Schriften
Neuen Testamentes" erstmalig hervortrat (1842), verfuhr er in Be-
urtheilung der urchristlichen Literatur meist freier und unbehinderter
als dies der deutschen Theologie vor dem Auftreten der TĂĽbinger
Kritik möglich gewesen war. Im Vergleiche mit der letzteren, von
der schon die 2. Afl (1853) Notiz nimmt, erscheint er freihch con-
servativ, wiewohl er ihr in der Gesammtauifassung verwandt ist. Der
paulinisch-judaistische Gegensatz wird schon dadurch gemildert und
der Ausgleichung näher gerückt, dass theils das Christentimm Christi
selbst von Haus aus die Schranken einer innerjĂĽdischen Entwicke-
lung bereits durchbrochen und auch das Jiidenchristenthum ĂĽber
das gemein jĂĽdische Niveau hinausgehoben hat, theils aber auch die
Urapostel von vornherein zwar die Gemeinschaft mit der jerusalemi-
schen Mutterkirche und dem eigentlichen Judenchristenthum nie ver-
leugnen , andererseits aber auch paulinischen Anschauungen und
Formeln sich zugänglich erweisen. Obwohl daher die Frage nach
schichte der hl. Schrift NT I, S 111. Kahnis, Dograatik, I, S 178. Walz, Die
Lehre der Kirche von der hl. Schrift nach der Schrift selbst geprĂĽft 1884, S 117.
') Das Leben Jesu, 2 Bde 1882, 2. Afl 1884. Biblische Theologie des NT,
4. Afl 1884. Hiernach sind Joh und Apc gleicherweise vom Apostel verfasst
(Leben I, S 97 f, 353 f ), wenn er auch allerdings ein Anderer war, als er dieses,
ein Anderer, als er jenes Werk schrieb (Theol. S 596); Lc und Act rĂĽhren
direct vom historischen Lucas (Leben I, S 67), Mr vom historischen Marcus
(S 38 f, 44), Mt wenigstens indirect vom Apostel Matthäus (S 34), Jae und Jud
von BrĂĽdern Jesu her (S 271; Theol. S 120, 475); echt sind nicht blos die
Pastoralbriefe (S 203; Leben I, S 38), sondern selbst 2Pe (S355; Theol. S474),
wobei allerdings in beiden letzten Fällen die Möglichkeit, dass dio betreffenden
Schriften sich als unecht erweisen sollten, wenigstens in RĂĽcksicht gezogen
wird. Alles Andere, Eph, Col, 2 The, 1 Pe, unterliegt nicht der mindesten
Beanstandung und Hbr ist jerusaleraisch-urapostolisch (Theol. S 470, 473 ; Leben
I, S 7 f).
â– *) Das Leben Jesu, I, 1885, S 62 f. Doch hat er gelegentlich die Pastoral-
briefe und 2 Pe den bezĂĽglichen Verfassern aberkannt.
200 Geschichte des Kanons.
der Verbindlichkeit des mosaischen Gesetzes eine tiefe Kluft im
apostolischen Zeitalter aufgerissen hatte, so war doch schon am
SchlĂĽsse desselben, d. h. beim Ableben der (xeneration, welche die
Zerstörung Jerusalems erlebt hatte, ein gemeinchristhches Bewusst-
sein vorhanden, das den zur Secte gewordenen Zelotismus der
extremen Judaisten hinter sich Hess, aus dem vorgeschrittenen Pau-
linismus wenigstens die Abrogation des Gesetzes, ĂĽberhaupt den
Gedanken der Welt- und Völkerkirche aufnahm, im Uebrigen aber
vielfach zu dem den Massen verständlicheren Lehrtypus der ürapostel,
zu ascetischen und hierarchischen Tendenzen und zu eschatologisch
veräusserlichten Glaubensformen zurückkehrte. Wenn auf solche
Weise Gegensatz und Ausgleichung nicht successiv, sondern gleich-
zeitig auftreten, brauchen Schriften, welche die Tendenz der Ver-
mittelung erkennen lassen, freilich nicht in das 2. Jahrh. verwiesen
zu werden. Mit Ausnahme von 2 Pe verbleiben vielmehr alle neu-
test. Schriften innerhalb des 1. Jahrb., wenn auch bezĂĽghch nicht
weniger derselben (Job, 1 Tim, Tit, 1 Pe, Jac, Jud) die Echtheits-
frage mit steigender Unsicherheit behandelt, ein im Laufe der Zeit
schärfer und negativer zugespitztes Urtheil aber in den letzten Auflagen
(1864 und 1874) offenbar nur um der RĂĽcksicht auf die Form des
Buches willen, welche sonst hätte umgegossen werden müssen, etwas
zurückgedrängt wird. Uebrigens ruht der Hauptwerth des Werkes nicht
zum wenigsten in manchen, von dem gemeinen Betrieb der Ein-
leitung mehr oder weniger vernachlässigten Partien, ganz besonders
in der Behandlung der mittelalterUchen Bibelgeschichte und der
Geschichte des gedruckten Textes. FĂĽr letztere hat Reuss ĂĽber-
dies in der BibHotheca NT graeci (vgl. S 67) eine grundlegende
Arbeit gehefert. Wie sie dem 3. Buch der „Geschichte der hl. Schriften'^,
so entspricht die Histoire du canon des saintes ecritures dans l'eglise
chretienne (1863, 2. Afl 1864, englisch 1883), dem 2. und stellt
die Histoire de la theologie chretienne au siecle apostoHque (1852,
3. Afl 1864) die innere Seite des im 1. Buche behandelten Stoffes
dar, während La Bible, traduction nouvelle avec introductions et
commentaires (1875 — 81) das Gesammtergebniss enthält.
Während übrigens die vielfach von Reuss bediente Strassburger Revue de
Theologie (1850—57, 15 Bde; Nouvelle revue de Theologie 1858—62, 10 Bde;
Troisi^me serie 1863—69, 7 Bde) in ihren späteren Jahrgängen unter Colani's
Leitung meist die Tübinger Positionen vertrat und überhaupt die Erträgnisse
der deutschen Kritik den Franzosen ĂĽbermittelte, hat letztere bei Ernst Renan
in seiner Histoire des origines du Christianisme auch unmittelbare BerĂĽck-
sichtigung gefunden. Das Werk besteht aus 7 Theilen: La vie de Jesus (1863,
17, Afl 1882), Les apotres (1866), Saint-Paul (1869), L'Autechrist (1871 -, Le?
V. Kap. : Der Kanon n. der Protestantismus. 9. "Wissenschaftl. Opposition. 201
evangiles et la seconde generation chretienne (1877), L'eglise chretienne (1879),
Marc-Aurele (1882). Bei aller Sachkunde macht sich doch des Verfassers divi-
natorisch'kĂĽnstlerische Begabung zu stark geltend, als dass er seine Ansichten
ĂĽber die Quellen des Urchristenthums einer ganz unerbittlich durchgefĂĽhrten
Methode literarischer Kritik unterzuordnen vermöchte. Im Gegensatz dazu
entstand das weniger anziehend geschriebene Concurrenzwerk von Ernst Havet,
Le christianisme et ses origines, dessen Bd 4 (1884) die neutest. Schriften als
zunächst wirkungslos gebliebene Documente einer jüdischen Vorgeschichte der
wesentlich heidnisch ausgestatteten Kirche behandelt.
Gleichzeitig mit Renan's und D. F. Strauss' (zweitem) „Leben Jesu" war
in Deutschland das nicht minderes Aufsehen erregende „Charakterbild Jesu"
von Daniel Schenkel erschienen (1864, 4. Afl 1873), welches der TĂĽbinger
Schule in Beurtheilung der Johannesfrage beitritt, in Bezug auf die synoptischen
Evglien Opposition leistet. Seither war auch aus den einschlägigen Artikeln in
seinem Bibel-Lexicon (5 Bde 1869 — 75) zu ersehen, dass der Herausgeber dem
durch die TĂĽbinger Schule hervorgerufenen Umschwung keineswegs mit durch-
gängiger Theilnahme gefolgt war, und einen principiellen Gegensatz bekundete
seine letzte Veröffentlichung „Das Christusbild der Apostel und der nachpauli-
nischen Zeit" (1879), welche, direct an die Erstlingsschrift (Dissertatio de ecclesia
Corinthiaca primaeva factionibus turbata 1838) anknĂĽpfend, dem Pls schon in
Korinth anstatt fanatischer Judaisten nur theosophisch überspannte Schwärmer
zu Gegnern gab und die Bedenken der modernen Kritik an der Echtheit der
Gefangenschaftsbriefe daraus erklärte, dass „der Kampf gegen die Christiner in
Korinth unverstanden geblieben ist" (S 87). Ist vollends auch 1 Pe dem Zwölf-
apostel zuzuschreiben, so kann von einem tiefgehenden Conflict, welchen die
Frage nach dem Gesetz im apostolischen Zeitalter hervorgerufen hätte, die Rede
nicht mehr sein. Der Felsenmann war schon auf dem Apostelconvcnt des
Paulus „principieller Bundesgenosse". „Nicht Petrus wider Paulus, sondern
Petrus und Paulus — so lautet das Ergebnis s unserer Untersuchung" (S 52),
wobei jedoch zu bemerken, dass Apc und Jac antipaulinisch bleiben, daher
überhaupt späterhin eine Vermittelung, vorgenommen unter dem Namen des
Pls in Tim und Tit, unter dem des Petrus in 2 Pe, nöthig fiel und ein „Unions-
christenthum" den letzten Abschluss bildet, welches im 4. Evglm speculative
Begründung erfährt.
Antitübingisch trat auch CARji Hase auf in seinem unter dem Titel „Die
Tübinger Schule" veröffentlichten „Sendschreiben an D. von Baur" (1855), worin
er, von apostolischer Verfasserschaft des 4. Evglms ausgehend, den Gnmd-
gedanken Baur's als Uebcrtreibung einer an sich berechtigten Beobachtung dar-
stellt (S 59). Nach ihm nehmen die Säulenapostel den Standpunkt eines
milderen Judenchristcnthums ein, welches die Nothwendigkeit des Gesetzes nur
aus Pietät und für geborene Juden behauptete, so dass zu Lebzeiten des Pls
nebeneinander das gesetzliche Christcnthum unter den bekehrten Juden, das
gesetzesfreie unter den Heiden bestand (S 67). Die Inconsequenz dieser Con-
föderation einsehend, gingen freilich von Jerusalem fortwährend Eiferer aus,
welche die Heiden zur Uebemahmo des Gesetzes zu ĂĽberreden suchten. Aber
Pls selbst erlebte noch den unzweifelhaften Sieg seiner Sache (S 69). Nachher
setzt sich nur noch der Ausscheidungsprozess des immer mehr verkĂĽmmernden
Judenchristcnthums fort. Schon um 100 gab es eigentliche Judenchristen nur
noch in Syrien, wHhrend ija den Heidengemcipden z,vf^r nicht der Paulinismus,
202 Geschichte des Kanons.
aber doch die paulinischen Grundgedanken von der allgemeinen Völkerberufung
und von der, durch kein jüdisches Gesetz beschränkten, Gnade Gottes durch-
gedrungen waren (Kirchengeschichte auf der Grundlage akademischer Vorlesungen
I, 1885, S 175 f).
Ein erklärter und leidenschaftlicher Gregner der Tübinger Schule
war Heinrich Ewald (f 1875), der nicht blos einzelne Theile
der neutest. Literatur besonders behandelt (Die drei ersten Evghen
1850; Die Sendschreiben des Apostels Paulus 1857; Die johannei-
schen Schriften 1860 — 61; Das Sendschreiben an die Hebräer und
Jakobus' Sendschreiben 1870; Sieben Sendschreiben des Neuen
Bundes 1870; Die BĂĽcher des neuen Bundes ĂĽbersetzt und er-
klärt 1870 — 72), sondern auch in seiner „Geschichte des Volkes
Israel", nämhch in Bd 5 (Geschichte Christus' 1855, 3. Afl 1867),
6 (Geschichte des apostohschen Zeitalters 1858, 3. Afl 1868) und
7 (Geschichte der Ausgänge des Volkes Israel und des nachaposto-
lischen Zeitalters 1859, 2. Afl 1869), die Entstehung des Christen-
thums im Zusammenhang dargestellt hat. Ausserdem sind auch
seine 12 „Jahrbücher der biblischen Wissenschaft" (1849 — 65) mit
Polemik gegen Alles, was TĂĽbinger Schule im weitesten Sinne heissen
kann, angeftillt. Gleichwohl fielen seine eigenen Resultate nicht
durchweg conservativ aus. Sieht man vom 1. Evglm ab, das aber
auf einer Urschrift des Matthäus beruht, so rüliren allerdings die
anderen historischen Schriften ziemlich direct von den Verfassern
her, denen sie zugeschrieben werden. Unter den pauHnischen Schriften
bleiben dagegen Eph, Tim und Tit unecht. Die Stärke dieser Kritik
ruht meist in den Abhandlungen ĂĽber die synopt. Evglien, wo er
mit neuem Zeug in's Feld zu rĂĽcken vermochte. Dagegen ist die
Kritik der johanneischen Schriften (nur Apc ist unecht) und der
kath, Briefe oberflächlich ausgefallen, und man muss gestehen, dass
Ewald's Verdienste um das AT diejenigen weit ĂĽberragen, die er
sich um das NT erworben hat. Auf letzterem Gebiete fehlte es
ihm schon an der umfassenden Kenntniss der altkirchlichen Literatur,
wie sie seinen Gegnern zu Gebote stand.
Als der auf dem Gebiete der altkirchlichen Literatur belesenste
und gefährlichste Gegner der Tübinger Schule erwies sich Albrecht
RiTSCHL, welcher noch in seiner Schrift über „das Evglm Marcion's"
(1846) die Vorraussetzungen Baur's getheilt hatte, dann aber in der
1. Afl seines Werkes über „die Entstehung der altkatholischen
Kirche" (1850) schon bedeutende Milderungen eintreten Hess und
namentlich an die Stelle der ĂĽbergrossen Ausdehnung, welche der
Ebjonitismus bei Schwegler erfahren hatte, eine weit ĂĽberwiegende
V. Kap.: Der Kanon u. der Protestantismus. 9. Wissenschaftl. Opposition. 203
Herrschaft des Paiilinismus oder wenigstens des Heidenchrist enthums
setzte. Nachdem er den Gegensatz in seinen Untersuchungen ĂĽber
Mr (ThJ 1851, S 381 f) und über die Essäer (ebd. 1855, S 315 f)
weiter geführt hatte, veröffentUchte er in der 2. Afl der genannten
Schrift (1857) ein Werk, welches den durchgehenden Widerspruch
mit der Tübinger Kritik scharf hervorhebt und auch einen öffent-
lichen Bruch mit den Vertretern der letzteren nach sich zog (JdTh
1861, S 429 f). Directe Einwirkung auf die Kritik der neutest.
Bücher hat zwar dieses Werk nicht geübt; es lässt vielmehr der-
artige Untersuchungen zunächst bei Seite liegen und will nur mittelst
des zu Gebote stehenden Materials der alt-kirclil. Literatur ein an-
schauhches Büd der werdenden Katholicität Hefern, welches mit
seiner eigenen Haltbarkeit auch fĂĽr die Eichtigkeit der voraus-
gesetzten Resultate der Kritik bĂĽrgen soll. Als Subject der wer-
denden kath. Kirche soll in keiner Weise mehr das Judenchristen-
thiun gelten, dessen ganze Entwickelung vielmehr nur darin bestan-
den hat, dass es allmähg aus der Kirche hinausgedrängt wurde.
Andererseits hat sich das siegreiche Heidenchristenthum keineswegs
im reinen Einklänge mit dem ursjDrünglichen Sinne des Auftretens
Jesu oder gar des Paulus entwickelt ; blos Entfernung von jĂĽdischer
Sitte und die Ueberzeugung , selbst an die Stelle der Juden im
Reiche Gottes getreten zu sein, bilden seine Merkmale. Als Gegen-
pol zu diesem Heidenchristenthum trat erst nach der Zerstörung
Jerusalems ein essenisches Judenchristenthum auf, welches Baur in
Folge seiner Forschungen über die Clementinen fälschlich als eine
auf das urapostoUsche Christ enthum zurĂĽckreichende Grossmacht
aufgefasst habe. Die in jener Schrift vorgegebene Solidarität zwischen
den essenischen Ebjoniten und den Uraposteln habe einen solchen
Eindruck auf ihn gemacht, dass er nicht nur alle sonst bemerk-
baren Unterschiede jĂĽdisch-christlicher Fraktionen zu leugnen suchte,
sondern auch aus Gal eine grundsätzliche Forderung der Beschnei-
dung, welche die Urapostel an die Heidenchristen gestellt hätten,
herauslas (JdTh 1861, S 457 f). In Wahrheit sei vielmehr von dem
eigenthchen Judenchristenthum, welches die Verbindliclikeit des Ge-
setzes auch fĂĽr die heidnische Gemeinde behauptete, ein urapostoli-
scher Judaismus zu unterscheiden, welcher nur fĂĽr geborene Juden am
Gesetze festhielt, die paulinische Heidenmission dagegen freigab.
Eben zur Constatirung dieses Standpunktes werden von Ritsclil ausser
Act 15, 23 — 29 (Aposteldecret) und Apc auch Jac und 1 Pe auf-
geboten, welche beide Briefe daher aus ilirem „Exil des 2. Jahr-
hunderts" erlöst und als „Documente der vor Pls bestehenden Auf-
204 GrescMchte des Kanons.
fassung des Chris tenthums" (Die christliclie Lehre von der Recht-
fertigung und Versöhnung II, 1874, S 317, 2. Afl 1882, S 320)
festgehalten erscheinen, während für den PauHnismus Eph nicht mehr
angerufen wird (S 325 f. 2. Afl S 328 f).
10. Die Gregenwart.
Wie die von Ritschi statuirte Annahme urapostolischer Schriftwerke von
Seiten der strengeren Kritik als Umstempelung dessen, was schon theilweise
RĂĽckbildung des Paulinismus ist, zu einer Vorbedingung desselben abgelehnt
wurde (vgl. z. B. R. A. LipsiĂĽs in der Jenaer Literaturzeitung 1878, S 19 f,
281 f), so hat man es auch hier als „die abstracte Umkehrung der Schwegler'-
schen Greschichtsauffassung" gewerthet, wenn nur das Festhalten an Beschneidung
und Ceremoniell als entscheidende Symptome des Judenchristenthums gelten
sollten, so dass selbst Schriften wie Herm. einfach als heidenchristl. Kundgebungen
genommen und die gegen Pls gleichgĂĽltige Stellung von Schriftstellern wie
Papias, Justin und Hegesipp ignorirt oder verleugnet wurde. Konnte man
aber auch die positiven Errungenschaften des von Bonn und Göttingen gegen
TĂĽbingen unternommenen Kriegszuges nicht allesammt acceptiren, so hat man
dafĂĽr um so dankbarer schon den negativen Ertrag gewĂĽrdigt, dass dem Vor-
urtheil begegnet war, als ob ĂĽberall, wo wir im 2. Jahrh. einem erkennbaren
Abzug an paulinischem Gedankengehalt begegnen, sofort positives Judenchristen-
thum zu Tage trete. Die Gesichtspunkte, unter welchen Ritschi in dieser Be-
ziehung die Schriften der apostolischen Väter und des Märtyrers Justin be-
trachtet, lassen sich mit geringen Modificationen auch auf verschiedene Docu-
mente unseres neutest. Kanons, vorab auf Lc, Act und fast die gesammte nach-
paulinische Briefliteratur anwenden. So wurde, und darin bestand der positive
Gewinn, eine Form des christl. Bewusstseins denkbar, welche nicht mehr Pau-
linismus im eigentlichen Sinne des Wortes ist, sondern dem urapostolischen
Christenthum vielfach näher steht, in manchen seiner Formen geradezu als nach-
apostolisches Judenchristenthum erscheint. In Jac, 1 Pe, Hbr und sogar in
den Johanneischen Schriften ist somit wenigstens ein gewisses Nachwirken der
neutralen Basis urchristlicher Lebensanschauung discutirbar geworden. Baur's
Nachfolger auf dem Tübinger Lehrstuhl Carl Weizsäcker bringt „das aposto-
lische Zeitalter der christlichen Kirche" (1886) unter Voraussetzungen zur Dar-
stellung, welche mindestens ebenso sehr das höhere Recht dieser SiaSoxv) be-
kunden, wie sie andererseits auch im Gegensatze zu dem Vorgänger gewonnen
wurden und die Erträgnisse der an seinem System geübten Kritik zusammen-
fassen. Er bezeichnet es als ein Vorurtheil, dass es im nachapostolischen Zeit-
alter nur Pauliner und gesetzliche Judenchristen gegeben habe, und weist auf
die breite Grundlage des christl. Lebens hin , auf welcher der Principienstreit
von vornherein entschieden war. Die Urapostel selbst seien nie eigentliche
Gegner des Pls gewesen, aber gefördert und unterstützt haben sie ihn noch
weniger, als in Folge der Verhandlungen in Jerusalem die Heidenfrage brennend
wurde und dem zur Entbindung auch jĂĽdischer Gewissen vom Gesetz fortschrei-
tenden Pls ein schroficr Judaismus sich entgegenwarf. Sie Hessen ihn seiner
Wege ziehen und blieben Juden; das Heidenchristenthum an sich aber haben sie um
80 weniger verurthcilt, als dasselbe ja nicht einmal ausschliessliche Schöpfung
des Pls war, sondern Ansätze dazu auf Barnabag und Apollos zurücklaufen und
V. Kap. : Der Kanon und der Protestantismus. 10. Die Gegenwart. 205
an Orten wie Antiochia und Rom gesetzesfreie Gemeinden ohne Zuthun des Pls
entstanden, gleichsam ein wildwachsendes Heidenchristenthum, um dessen Erobe-
rung sich später sowohl Pls, wie die Judaisten erst bemühen konnten (vgl. auch
JdTh 1876, S 301 f, 306). Wieder in anderer Weise und z. Th. directer an
RrrscHL schliessen sich W. Mangold (bei Bleek S 50 f), E. SchĂĽrer (StKr
1876, S 760 f) und A. Harnack (ZKG I, 1876, S 112; Texte und Unter-
suchungen n, 2, 1884, S 64; Lehrbuch der Dogmengeschichte I, 1886, S 33,
63 f, 93, 215 f) an, ohne darum seine kritischen Voraussetzungen alle zu theilen ;
Mangold insonderheit ist bei diesen fast nur bezĂĽglich Jac stehen geblieben,
wo er daher ausnahmsweise conservativer als Bleek selbst erscheint, während
er andererseits gegen Weizsäcker die Unwahrscheinlichkeit der autochthonen
Entstehung gesetzesfreier Gemeinden fĂĽr das apostolische Zeitalter nachweist
(Der Römerbrief 1884, S 285 f, 288 f). A. Harnack seinerseits führt den Gegen-
satz zu Baur bis auf die Spitze der Behauptung, dass „wir im NT überhaupt
kein judenchristliches Denkmal besitzen, es sei denn in den paulinischen Briefen"
(Dogmeng. S 223 f), geht dafür aber bezüglich der Datirung neutest. Schriften häu-
figer auf der Tübinger, als auf der Göttinger Fährte. Nicht minder deutlich
treten andererseits die convergirenden Linien der kritischen Bewegung zu Tage
in den Kundgebungen zweier um die Förderung der paulinischen Studien ver-
dienten Gelehrten, welche in den entscheidenden Controverspunkten auf Seiten
der TĂĽbinger stehen. Otto Pfleiderer bekennt sich zu der Grundanschauung
vom „Entwickelungsgang des Paulinismus zum Katholicismus , dass derselbe
nemlich auf dem organischen Wege rein innerer Umbildung und nicht auf dem
mechanischen äusserer Transactionen und Compromissacte zu Stunde gekommen
ist" (Der Paulinismus 1873, S 494), indem er zugleich (vgl. PrK 1877, S 225 f)
der, ebenfalls zu den Symptomen der Verständigung zu zählenden, Beobachtung
Carl Holsten's sich anschliesst, dass Paulus selbst schon jenen irenischen und
versöhnlichen Ton angeschlagen habe (Rm), welchen dann die nachpaulinische
und katholische Briefliteratur stärker ertönen lässt (JprTh 1876, S 84 f). In
den Schriften „Die drei ursprünglichen noch ungeschriebenen Evangelien" (1883)
und „Die synoptischen Evglien nach der Form ihres Inhalts" (1885, S 165 f)
bietet Holsten eine Construktion , deren Hauptfortschritt im Verhältniss zu der
alttĂĽy)ingischen und theilweise auch noch zu des Verfassers frĂĽherer Schrift
„Zum Evglm des Paulus und des Petrus" (1868) in der Unterscheidung zwischen
einem ursprĂĽnglichen soaYYeXiov x-rjc; Trsptxofj.Yjt; Gal 2, 7 und dem etspov zha-^^sKiov
2 Cor 11, 4. Gal 1, 6 besteht. Erst das letztere bildet einen schroffen Wider-
spruch zum Paulinismus, wie es auch im bewussten Gegensatze zu den pauli-
nischen GemeindegrĂĽndungen entstanden ist. Dagegen war Petrus dem Geiste
der Gesetzesinnerlichkeit und Gleichgültigkeit gegen die äussere Gesetzesform,
welchen Jesus in ihm geweckt hatte, wenigstens anfänglich treu geblieben. Wenn
ihm auch der Kreuzestod des Messias nur den Erlass der SĂĽndenschuld, dagegen
dem Pls auch das Geschenk der Gerechtigkeit vermittelt: fĂĽr beide ist jener
Tod Ausdruck des göttlichen Heilswillens, für das petrinische Evglm als Moment,
fĂĽr das paulinische als Princip. FĂĽr beide ist das vergeistigte und vorinner-
lichte Gesetz des Moses von ewiger Bedeutung, für beide das äusserlichc Gesetz,
Cultus und Lebensform von zufälliger Gleichgültigkeit. Für beide endlich ist
das Werk des Messias und das messianische Reich gleich universal. Dagegen
unterscheiden sich petrinisches und judaistisches Evglm wie ideales Judeuthum
und handgreifliches, nationales Judenthum, welchem nur in der Messiauität
206 Geschichte des Kanons.
Jesu eine, mit der Thatsache des Kreuzes kaum vereinbare, EigenthĂĽmlichkeit
zuo-ewachsen war. In diesem Sinne also erfolgte seit dem Gral 2, 11 f gezeich-
neten Moment die RĂĽckbildung des JudenchristenthĂĽms in den eigentlichen
Judaismus. Dieser stellt mithin nicht sowohl eine anfängliche und darum mangel-
hafte Form des christl. Bewusstseins , sondern die erste Reaktion gegen den
viel weiter treibenden Impuls dar, welcher von Jesus ausgegangen und von
Petrus wenigstens nicht sofort verläugnet worden war.
Gewisse Hauptresultate, bezĂĽgKch welcher die competenten
Forscher der bezeichneten Heerlager untereinander ĂĽbereinstimmen,
erweisen sich schon jetzt als der Tragweite noch obschwebender
Differenzen ĂĽberlegen. Denn ausgeschlossen fĂĽr immer erscheinen
alle Phantasien vom „Fall", sobald einmal vom Standpunkt des
apostolischen Zeitalters zu dem der beginnenden Kirchlichkeit BrĂĽcken
und Verbindungslinien ĂĽberhaupt aufgewiesen sind. Ausgeschlossen
ist im Grunde auch jede Vorstellung, derzufolge die neutest. BĂĽcher
ihren Ursprung in einem so eng begrenzten Zeitabschnitte gefunden
hätten, dass ihr durchaus einheitlicher Inhalt schon durch ihre Ent-
stehungsverhältnisse verbürgt wäre. Vielmehr weist die Geschichte
ihres Ursprungs auf eine längere Entwickelungsbahn , welche das
Christenthum zurĂĽckzulegen hatte, bis aus der Urgemeinde zu Jeru-
salem die Gestalt einer kath. Kirche geworden ist. Unter keinen
Umständen ist der Gedanke, jene Bücher als Kesultate eines derarti-
gen Prozesses aufzufassen, mehr rückgängig zu machen, und nur
darum kann es sich zwischen den kĂĽhnsten Kritikern und den
wissenschaftUch operirenden Erhaltern noch handeln, ob, wie die
TĂĽbinger Schule annimmt, an diesen Schriften wirklich der ganze
Verlauf jenes Prozesses bis zu seinem im 2. Jahrh. eingetretenen
AbschlĂĽsse nachzuweisen ist, oder ob sie in weit ĂĽberwiegender
Mehrzahl in ein verhältnissmässig frühes Stadium desselben fallen
— nämlich in das gegen die Epoche der werdenden Kirchlichkeit
als „apostolisches Zeitalter" abgegrenzte. Letzteres selbst betref-
fend, waltet noch Meinungsverschiedenheit ob hinsichtlich der Weite
der Entfernung, darin sich Pls und Apc (beziehungsweise Mt, Jac,
Hbr) gegenĂĽber stehen. Aber einfaches Product eines urapostoli-
schen Gegensatzes und seiner allmäligen Ausgleichung ist das katho-
lisch werdende Christenthum schon deswegen nicht, weil jener Gegen-
satz weder die neutrale Basis völlig verdrängt, noch überhaupt, wie
schon der christliche Alexandrinismus beweist, die ganze Geschichte
des Urchristenthums ausgefĂĽllt hat. Aus der Auseinandersetzung
zwischen den verschiedenen, am Ursprungspunkt des Christenthums
arbeitenden, Faktoren geht gleichwohl die neutest. Literatur nach
der Tübinger, wie nach der Göttinger Construction hervor. Lief
VI. Kap.: Die protestantische Kritik des Kanons. 207
der Gegensatz frĂĽher darauf hinaus, dass nach jener Formel die
Ausgleichung unter dem Uebergewicht des Judenchristenthums sich
vollzog, während nach dieser die kathol. Kirche als ein Entwicke-
lungsstadium des selbst wieder gesetzlich gewordenen Heidenchristen-
thums erschien, so besteht jetzt im Grunde nur noch die „müssige
Streitfrage, ob man diese Abwendung von dem specifisch paulinischen
Lehrbegriif auf die Unfähigkeit des Heidenchristenthums, die tlieo-
logischen Voraussetzungen des Pls zu verstehen , oder auf juden-
christliche EinflĂĽsse, denen auch die Heidenkirche sich nicht ent-
ziehen konnte, zurĂĽckfĂĽhren soll" (LipsiĂĽs, Historische Zeitschrift,
Bd 28, 1872, S 247).
Sechstes Kapitel: Die protestantisclie Kritik des Kanons.
(Uebergang zum besonderen Theil.)
1) Das katholische Bewusstsein verhält sich zum Ergebnisse
des kanonbildenden Prozesses als zu einem integrirenden Theile des
Gesammtlebens der Kirche einfach bejahend. Das protestantische
unterzieht die kathohsche Kirchenbildung im Ganzen, folghch auch
die ein Moment derselben bildende Geschichte des Kanons einer
vielseitigen, specieU auch einer historischen Kritik. Die Frage,
welcherlei Gewähr für die Richtigkeit des Begriffes und des Um-
fanges des Kanons in seiner mit steigender Klarheit durchschauten
Entstehungsgeschichte liege, kennzeichnet den Protestantismus und
seine Aufgaben auf dem Gebiete der biblischen Einleitungswissen-
schaft. Ist es dem protestantisch geschulten Wissen, dem prote-
stantisch gekräftigten Gewissen noch möglich, die neutest. Schriften
im Einzelnen imd im Ganzen einfach aus der Hand der Vorzeit
mit den von den Bischöfen und Vätern der alten katli. Kirche
daran geklebten Titeln und Etiquetten hinzunehmen? Ist es ĂĽber-
haupt noch möglich, den Begriff des Kanons festzuhalten im Gegen-
satze zu der Tradition der Kirche, nachdem es sich herausgestellt
hat, dass, wie die Tradition, so auch der Kanon nicht etwas zu
jeder Zeit in der Geschichte der Kirche Fertiges, sondern etwas
Gewordenes, ja geradezu selbst eine Bildung im Strome d(»r pro-
ductiven Tradition ist ? Wird nicht unsere Kritik geradezu heraus-
gefordert, wenn wir den Kanon in seinen wesentlichen Bestand-
theilen erst gegen 200, in seinen jetzigen Bestandtheilen erst gegen
400 fertig uns entgegentreten sehen? Und selbst zwischen diesen
beiden Terminen sehen wir noch fast das gesammtc Abendland von
203 Geschichte des Kanons.
dem nichtpaulinischen Ursprung von Hbr, fast das gesammte Mor-
genland von der nichtapostolischen Abfassung von Apc ĂĽberzeugt
und bezĂĽglich der kath. Briefe, von denen nur wenige Spuren bis
in das 2. Jahrh. hinaufreichen, ist man noch im 4. Jahrh. keines-
wegs sehr zuversichtlich gestimmt. Andererseits werden bis in das
3. und in spätere Jahrhunderte hinein Schriften zu dem neutest.
Kanon gerechnet, welche doch schon seit 400 als principiell aus-
geschlossen gelten mussten. Bald bei einem, bald bei mehreren
Vätern werden nämhch als authentisch, als inspirirt, als kanonisch,
jedenfalls irgendwie als heiHge Schriften aufgefĂĽhrt und gebraucht
StĂĽcke wie das Hbrevglm (benĂĽtzt vielleicht schon von Papias und
Justin, gewiss von Hegesipp und den Alexandrinern, allerdings nicht
als ebenbĂĽrtig mit den kanonischen EvgUen), Acta Pauli (in hoher
Achtung bei Origenes, auch Can. Ciarom.), der Hirt des Hermas
(kanonisches Buch bei Irenäus, im Cod. J< und Can. Ciarom., in-
spirirt bei Clemens, Origenes und Pseudo-Cyprian, De aleator. 2),
die Briefe des römischen Clemens und des Barnabas (apostolische
Schriften beim alex. Clemens, in hohem Ansehen bei Origenes, jene
im Cod A und Can. apost. 85, dieser im Cod. J< und Can. Ciarom.),
auch der des Polycarp (noch um 400 hier und da kirchlich ver-
lesen), die TuapaSöasic; MarO-ioo (beim alex. Clemens), die Apokalypse
des Petrus (Can. Mur. und Ciarom., Clemens Alex.), die Weis-
sagungen des Hystaspes und der Sibylle (prophetische BĂĽcher bei
Justin und Clemens Alex.), die Eecognitionen des Clemens (bei
Origenes echt), die AiSa^Yj (beim alex. Clemens, auch später noch
Lehrbuch), die Constitutiones apostolorum (Can. ap. 85 und gelegent-
lich Epiphanius), die Canones apostohci (Synoden von Constanti-
nopel 692 und von Nicäa 787, Johannes von Damaskus) und das
römische Symbolum apostolicum (im wörtlichen Sinne, als von den
Aposteln verfasst, bei Ambrosius, Rufinus, Hieronymus und römi-
schen Bischöfen). Besonders bemerkenswerth ist die reiche, dem
Petrus zugeschriebene Literatur (Hieron. Cat. 1); sDa^Y^Xiov (an-
fänglich von Serapion anerkannt), 7.ifjpDY|j.a (bei Clem. AI. echt; vgl.
aber auch Origenes, Lactantius und Gregor Naz.), a7:oxaXĂĽ(|>t(; (com-
mentirt vom alex. Clemens; vgl. Can. Mur. und Can. Ciarom., als
kanonisch benutzt noch von Methodius und um 440 von palästini-
schen Gemeinden). Nimmt man dazu die zwei kanonisch geworde-
nen Briefe, das einmal (S. 173) an der Peripherie des Kanons
auftauchende eTudicium und die stets ausserkanonisch gewesenen
Acta Petri, so wĂĽrde sich, falls alle diese Schriften jemals zusam-
men gestanden hätten, ein umfangreiches Instrumentum Petri ergeben.
VI. Kap. : Die protestantische Kritik des Kanons. 209
Wenn nun aber die Kirche allmälig dazu gelangte, aus diesem ganzen
Haufen angeblich petrinischer Schriften nur den 1. und schliesslich zur Noth
noch den 2. Brief als echt anzuerkennen, dagegen sämmtliche eben aufgeführten
Schriften aus dem Kanon auszuscheiden, so ist nicht zu leugnen, dass dabei
auch solche Motive, wie sie unserem geschichtlich und wissenschaftlich ge-
schulten Urtheil entsprechen, wirksam gewesen sind. Denn es fehlte der alten
Kirche keineswegs an Ansätzen zur Kritik und Forschung. Schon die Existenz
von sog. Antilegomenen beweist dies. Hätte man nur beabsichtigt alles Er-
))auliche, dem rechten Grlauben Entsprechende zu sammeln, was aus alter Zeit
und gar unter apostolischem oder urchristlichem Namen ĂĽberliefert war, so
r .hätte die Kirche mit Leichtigkeit einen heiligen Codex von zehnfach grösserem
Umfange zusammenzustellen vermocht. Denn der untergeschobenen und apo-
kryphischen Schriften war nach Irenäus (S 165) Legion. Epiphanius (Haer.
26, 12) schätzt sie auf 1000. Das Urtheil der Gesammtkirche muss daher doch
immerhin von einem gewissen geschichtlichen Takte nicht ganz verlassen ge-
wesen sein, wenn z. B. der Clemensbrief, trotzdem dass er an Alter vielleicht
»einem ganzen Dutzend neutest. Schriften überlegen ist, dennoch ausgeschlossen
^rwurde, weil er sich nicht apostolisch erwies. Schon Irenäus legt einen gewissen
Sinn fĂĽr das EigenthĂĽmliche im Stil an den Tag, und noch bewusster ver-
fahren in dieser Richtung die Origenisten. Die A loger, welche der Kirche
wenigstens nicht ferner standen, als ihre montanistischen Gegner, haben bezĂĽglich
der Johanneischen Schriften wirkliche historische Kritik geĂĽbt. Dionysius von
Alexandria erkennt die Verschiedenheit, die zwischen Joh und Apc obwaltet.
Auch die Stildifferenzen zwischen Hbr und Pls machten den alexandrinischen
Gelehrten zu schaffen und riefen Hypothesen über die Mitthätigkeit des Lucas
oder Clemens ins Leben, während der Widerspruch, welchen das Abendland
durch das ganze 2. und 3. und die 1. Hälfte des 4. Jahrh. gegen die paulinische
Authentie dieses Briefes erhob, eines der hervorragendsten Symptome von dem
Nachwirken richtiger geschichtlicher Erinnerungen darstellt. Wie so unter den
kanonisch gewordenen Schriften besonders Apc und Hbr in verschiedenen
Theilen der Kirche verschiedene Beurtheilungen erfuhren, so gab unter den
ausser dem Kanon bleibenden Hermas dem kritischen Bewusstsein Anlass, sich
zu entfalten. Selbst auf römischen Synoden muss sein apostolischer Charakter
nach Tertullian (De pudic. 10) untersucht und verworfen worden sein. Und
diese Untersuchung konnte nur einen historischen Charakter tragen, da mau
zwar mit dem Inhalte des Buches sympathisirte, aber wusste, dass es nuperrime
temporibus nostris (Can. Mur.) geschrieben war. Auch sonst sehen wir zuweilen
auf kirchlichen Versammlungen kritische Sorgen auftauchen. Sogar noch auf
einem 532 zu Konstantinopel gehaltenen Religionsgespräch, darauf die Severiauer
zum erstenmal Schriften des Dionysius vom Areopag citiren, bestreitet Hypatius,
der WortfĂĽhrer der Katholiken, die Echtheit dieser Schriften, weil von den-
selben im kirchl. Alterthum keine Spur begegne, also auf historischem AVege.
Gleichzeitig war Junilius bestrebt, die kritischen Studien der Schule von Nisibis
im Abendland fortzufĂĽhren. Andererseits beweisen die vielen Klagen ĂĽber die
Fruchtbarkeit häretischer Apokrypheulitcratur, welche sich finden bei Hegesippus
(Euseb. KG IV, 22, 9), Cajus (ebeud. VI, 20, 3), Irenäus (1, 20, 1. III, U, 7.
9. 12, 12), Origenes (Hom I zu Lc) und Eusebius (KG III, 25, 6. 7), dass man
keineswegs bereit war, sich Alles Vneten zu lassen. Schon Bkllarmin ') macht
») De verbo Dei IV, 4, 21.
Hol tz maua , EinloitUDg. 2. Auflage. ^^
210 Geschichte des Kanons.
in diesem Interesse aufmerksam auf den Schnitt, welchen nach Eusebius (KG-
VI, 12, 3) Serapion zwischen der apostolischen Autorität und der angemaassten
Würde von fälschlich unter apostolischen Namen in Umlauf gesetzten Schriften
anbrachte. "Wie Vorkehrungen gegen etwaigen schriftstellerischen Betrug lesen
sich die Stellen 2 The 2, 2. 3, 17. Sicher verwahrt sich (bei Euseb. KG IV,
23, 12) der korinthische Dionysius gegen die Fälschung seines eigenen Briefes
an die Römer. Irenäus beschwört seine Abschreiber bei der Zukunft Christi
und seinem Gericht über Lebende und Todte, keine Fälschung zu begehen
(ebend. V, 20, 2). Aehnliche Anathematismen begegnen bei Eusebius vor der
Chronik und bei Cyrill von Jerusalem in der Prokatechesis. Der 59. apostolische
Kanon verhängt Amtsentsetzung über Geistliche, die Pseudepigraphen verbreiten,
welche Strafe vollzogen wurde an dem Presbyter, der die Acta Pauli et Theclae
erfunden hatte. Im Allgemeinen hielt man bei der Kanonbildung dafĂĽr, dass
Alles darauf ankomme, dass das heutige Christenthum an das apostolische, an
das Urchristenthum anknĂĽpfe. Diese Ansicht von der Sache musste nothwendig
von irgendwelchem Maass von kritischer Sorge begleitet sein. Allenthalben
finden wir Spuren eines Kampfes nicht blos gegen häretische, sondern auch
vielfach gegen an sich wohlmeinende und nicht zu beanstandende, aber irr-
thümlicher Weise als apostolisch geltende oder fälschlich sich für apostolisch
ausgebende Schriften. Im Verlaufe dieses Kampfes musste aber die Kirche bis
zu einem gewissen Grade lernen, schwarz und weiss zu unterscheiden. So ĂĽbel
eine Mischung von Galle und Honig behagen würde, so unziemlich wäre es,
dem Can. Mur. zufolge, wenn man echte und gefälschte Bücher zusammen-
stellen wollte').
2) Aber schon diesen Thatsachen lässt sich, genau besehen,
auch eine andere Seite fĂĽr die Betrachtung abgewinnen. Gerade
der Umstand, dass man Vorkehrungen treifen musste, beweist die
Unsicherheit aller, auch der schriftlichen Ueb erlief er ung (vgl Apc 22,
19. Henoch 104, 11). Ebenso geht aus den angefĂĽhrten Stellen
von 2 The nur hervor entweder, dass dieser oder wenigstens dass
andere Briefe untergeschoben worden sind^). Wie Dionysius von
Korinth, so hatte sich Origenes sogar noch bei Lebzeiten ĂĽber Ver-
fälschung seiner Schriften zu beklagen (Epist. ad charos suos in
Alex.). Aus der Erzählung des TertulUan von den Acta Pauli et
Theclae (Bapt. 17) aber erhellt, dass das Hauptverbrechen jenes
^) Seltsam ist es freilich, wenn gerade die moderne Apologetik sich auf
die Spuren und Ansätze von historischer Kritik beruft, welche sich im kirch-
lichen Alterthum finden; denn sie desavouirt und revocirt ja angelegentlichst
jene patristischen TJrtheile auf Unechtheit von Jac, Jud, beziehungsweise auch
2 Pe, worin sich der freiere Blick der alten Kirche zumeist bewährt hat.
Aehnlich ergeht es dem in Alexandria bezĂĽglich Joh und Apc aufgestellten
disjunctiven Kanon, und in einem Fall, wo Eusebius selbst einmal an der
Tradition Kritik geĂĽbt hat, in Sachen des Apostels Johannes (Euseb. KG III,
39, 2 — 7), ist der Brunnen, den er gegraben hat, sorgfältigst wieder zuge-
schĂĽttet worden.
») HoEKSTRA ThT 1867, S, 423 f. Steck ThZSch 1884, S 41 f.
VI. Kap.: Die protestantische Kritik des Kanons. 211
Presbyters nicht sowohl in der Fälschung, als darin bestand, dass er
ein Weib als lehrend und taufend dargestellt hatte im Gegensatz zu
der Regel 1 Cor 14, 34.
Dagegen weist das Alterthum ĂĽberhaupt wenig Interesse an der geschicht-
lichen Wahrheit an sich auf*). Man kennt dasselbe wenig, wenn man es in
irgend welcher Tiefe von Problemen bewegt und für die Frage zugänglich
nimmt, was historisch beglaubigt, was echt und treu ĂĽberliefert sei. Schon der
verhältnissmässige Mangel an kritischen Hülfsmitteln machte eine scharfe und
sichere Nachforschung zur Unmöglichkeit. Während untergeschobene Schriften
in reicher FĂĽlle auftauchen, finden wir kritische Streitfragen selten ernstlich
verhandelt ^). Selbst Aristoteles steht in dieser Beziehung nicht ĂĽber seinem
Zeitalter. Wie manches Verdienst dann auch die alexandrinischen Gelehrten
sich auf diesem Felde erworben haben, so ist ihnen doch Vieles in fast un-
begreiflicher Weise entgangen. Es gab Gedichte, die dem Orpheus und Musäus
untergeschoben waren. Unter dem Namen des Königs Numa schrieben spätere
Pythagoreer die BĂĽcher, welche 181 v. Chr. in Rom auftauchten und auf Befehl
des Senats verbrannt wurden (Liv 40, 29. Plin H. n. 13, 27. Plut Numa 22).
Dem Pythagoras oder den Pythagoreern der alten Schule wurde ĂĽber ein
halbes Hundert unechter Schriften durch die Neupythagoreer untergeschoben,
ohne dass in nächster Zeit sich eine Stimme dagegen erhoben hätte. Solches
geschah öfters wohl geradezu in Alexandria, unter den Augen der literarischen
Kritik; jedenfalls aber in einer Periode, die theils unmittelbar vor der neutest.
Literatur, theils mit dieser gleichzeitig ist. Pseudonymität und Mystification
bildet eine herv'orragende schriftstellerische Passion dieses ganzen Zeitalters.
„Schriftsteller zu erdichten, Leuten, die keinen Buchstaben geschrieben haben,
ganze Reihen von BĂĽchern unterzuschieben, das Neueste in ein graues Alterthum
zurĂĽckzudatiren, die bekanntesten Philosophen Ansichten aussprechen zu lassen,
die ihrer wirklichen Meinung schnurstracks zuwiderlaufen — diese und ähnliche
Dinge sind gerade in den letzten vorchristlichen und in den ersten christlichen
Jahrhunderten ganz gewöhnlich" *). Von vornherein wird schwerlich anzunehmen
sein, dass gerade die gleichzeitigen Juden und Christen eine rĂĽhmliche Aus-
nahme von einer so allgemeinen Eigenschaft gemacht hätten. Nur das hatten
die Christen eine Zeitlang vor den Juden voraus, dass sie, so lange der Glaube
an die eigene Inspiration vorhielt, weniger veranlasst waren, ihre schrift-
ßtellerischen Leistungen unter den Schutz erborgter Autorität zu stellen. Die
alexandrinischen Juden dagegen erwiesen sich auf dem Gebiete der Pseudonymen
Schriftstellerei und Interpolation besonders fruchtbar. Um den Monotheismus
zu Ehren zu bringen, erdichteten sie nicht blos lange sibyllinische Orakel,
sondern versahen auch griechische Dichter, wie den Orpheus (Justin, Monarch. 2.
Coh. ad Graec. 15. Clem. AI. Protr. 7, 74. Str. V, 12, 79. 14, 123—127. Euseb.
Praep. ev. XIII. 12,5. 13, 50 — 64) und selbst die grossen Tragiker Aeschylus,
») A. Hausrath, Kleine Schriften S 123 f.
2) Zu den glüciklichsten Ausuahmerällen ist es zu rechnen, wenn die Er-
weiterung des Corpus Demosthenischer Heden theils durch gleichzeitige Reden,
theils durch spätere Fälschungen schon von Dionysius von Halikamassus er-
kannt worden ist.
') Zellkr, Vorträge und Abhandlungen I, S 298.
14*
212 Creschichte des Kanons.
Sophokles und Euripides, dazu auch die Komödiendichter Philemon, Menander
und Diphilus mit tendenziösen Einschaltungen^). Dem Gnomiker Phokylides,
der im 6. vorchristl. Jahrh. lebte, wurde ein monotheistisches Lehrgedicht
untergeschoben 2). Dem Hekatäus von Abdera, einem Zeitgenossen Alexander's,
schrieb man schon vor 200 v. Chr. ein ganzes Buch irspl 'loĂĽSaiwv zu, wahr-
scheinlich die Quelle der meisten jener den epischen und scenischen Dichtern
untergeschobenen Verse') — freilich eine so auffällige Fälschung, dass diesmal
ausnahmsweise der Zweifel rege wurde (vgl. Herennius Philo bei Orig. Geis.
I, 15). Beispielloses GlĂĽck hat der unter dem Namen Historia LXX inter.
pretum bekannte Brief des Aristeas an Philokrates — ein jüdisch-alexandrinisches
Elaborat — gemacht. Die zur Verherrlichung des jüdischen Namens aus heid-
nischem Munde erzählte Fabel von der Entstehung der LXX durch 70 oder 72
unabhängig von einander arbeitende Interpreten erzählen nicht blos Philo und
Josephus, sondern auch Justin, Irenäus, Tertullian, Eusebius gläubig nach. Der
von ihnen weiter ausgebildeten Legende zufolge arbeiten die 72 in ebenso vielen
Cabineten, und weist es sich am Ende aus, dass sie alle buchstäblich den
gleichen Text fĂĽr die ganze Bibel geliefert haben, auch solche BĂĽcher mit in-
begriffen, welche zur Zeit des Ptolemäus Philadelphus, unter dem die Ueber-
setzung veranstaltet worden sein soll, noch gar nicht existirten*).
Weder Clemens von Alexandria (Str. V, 14, 108), noch Eusebius von
Cäsarea (Praep. ev. XIII, 12, 13 — 16. 13, 34) tragen das mindeste Bedenken,
wenn sie (aus Aristobul) Verse citiren, darin Homer, Hesiod und Linus (Kalli-
machus) vom Sabbath reden. Schon Justin (Apol. 1, 20. Cohort. ad Graec. 16)
und der alexandrinische Clemens (Protr. 2, 27. 4, 50. 62. 6, 70. 71. 7, 74. 8,
77. Paed. II, 10, 99. III, 3, 15. Str. III, 3, 14, V, 14, 108. 115) berufen sich auf die
Weissagungen der Sibylle (LEI — V), welche sich Braut und Nachkommin Noah's
nennt (III, 826), im Uebrigen aber nicht blos vom Thurmbau zu Babel, sondern
auch vom Muttermord Nero's und vom Ausbruch des Vesuv unter Titus redet-,
schon in diesen älteren Stücken wird inmitten rein jüdischer Umgebung „der
vom Himmel kommende treffliche Mann, der seine Hände ausbreitet am frucht-
bringenden Holze" als Josua eingeführt (V, 256 — 259); die späteren weissagen
Specialia aus dem Leben Jesu (VI, 21—26. VIII, 270—336. 457—480) und
bringen sogar ein Akrostichon auf die Formel 'Ifjaoö? Xpioxbq d-sob olbc, aa>xY,p
(VIII, 217 — 242). Der alexandrinische Clemens beruft sich auf ein Buch, darin
Zoroaster, nachdem er vom Tod in's Leben zurĂĽckgekehrt, das Todtenreich be-
schrieben hat (Str. V, 14, 104). Wir wundern uns, wie gnostische Secten des
Glaubens leben konnten, im Besitze der schriftlichen Hinterlassenschaft Seth's,
des Sohnes von Adam und Eva, zu sein (vgl. S 138). Aber auch der Verfasser
SchĂĽrer, Geschichte des jĂĽdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi
II, S 809 f.
2) J. Bernays, Gesammelte Abhandlungen I, 1885, S 192 f. SchĂĽrer
S 824 f.
») Schürer S 811 f, 816 f.
*) Reuss, Die Geschichte der h. Schriften AT 1881, S 536: „Es ist dies
das glänzendste Beispiel von dem, was man überhaupt von literär-historischeu
Aussagen der Kirchenväter zu halten hat, und sollte doch die Schule ein bischeu
behutsamer machen in Betreff solcher angeblich geschichtlicher Mittheiluugen
derselben, die uns noch näher angehen".
VI. Kap.: Die protestantische Kritik des Kanons. 213
von Jud 14 beruft sich auf das Henochbuch als eine Schrift des Urgrossvaters
von Noah (Gen. 5, 21 — 24). TertuUian kennt wohl das Bedenken, dass die
grosse Fluth zwischen uns und Henoch liege, tröstet sich aber mit der Erwä-
gung, dass des Letzteren Buch entweder von Noah mit in die Arche genommen
oder aber mit dem gesammten AT durch Esra auf wunderbarem Wege wieder-
hergestellt worden sein könne (De cultu fem. 1, 3).
Dieselben Personen aber, welche leichtgläubig jede Fälschung hinnehmen,
erweisen sich auf der anderen Seite auch zu jeglicher Fälschung disponirt. In
aller Unbefangenheit veränderte man die Uebersetzung der LXX in christlichem
Interesse (vgl. Justin. Dial. 72. 73) und schob dem Josephus (Ant. XVIII, 3, 3)
ein anerkennendes Zeugniss ĂĽber Christus unter. Und mit der prompten Be-
dienung, welche so die Fälschung leistet, hält der ebenso prompte Glaube, den
sie findet, gleichen Schritt. Die Legende von der Bekehrung Abgar's V. zum
Christenthum ist zur Zeit Abgar's VIII. (176—213), des ersten christl. Königs
von Edessa, entstanden. Aus dem edessenischen Archiv theilt 100 Jahre später
Eusebius (KG I, 13, 4 — 10) mit diplomatischer Sorgfalt einen Briefwechsel Jesu
mit Abgar V. mit, ohne auffallend zu finden, dass darin Jesus selbst sich auf
das 4. Evglm {'(i-^prxTZ'zai jrspl Ifxoö Joh 20, 29) beruft. Ebenso leichtgläubig
nahm man den Bericht des Pilatus an Tiberius hin und gewisse Edicte der
römischen Kaiser zu Gunsten der Christen, auf welche sich schon die gleich-
zeitigen Apologeten berufen. Hinter Justin's grösserer Apologie stehen nämlich
1) eine VerfĂĽgung des Kaisers Hadrian an den Proconsul von Asien Minucius
Fundanus, 2) ein Schreiben des Antoninus Pius irpo? xö -kov/o)^ xyj? 'Acta?, 3) ein
Erlass Marc Aurel's, worin dieser Kaiser die wunderbare Errettung seines
Heeres durch das Gebet christl. Soldaten (das Wunder der sog. legio fulminata)
berichtet, welche im Jahre 174 mĂĽsste stattgefunden haben. Zum Beweis, wie
schnell solche untergeschobene ^) Schriften sich verbreiteten, citirt schon um die
Wende des Jahrh. (197 — 204) TertuUian das kaiserliche Schreiben, ohne zu
bedenken, wie wenig dasselbe zu der 177 unter demselben Fürsten verhängten
Christenverfolgung stimmt (Ad Scapul. 4. Apol. 5). Ebenso thut nach ihm
Eusebius (KG V, 5, 1 f Chron. ad. ann. 13. Marci Aur.) und bei ihm (KG V,
5, 4), wahrscheinlich schon vor Beiden, Claudius Apollinaris. An die Echtheit
des ersten SchriftstĂĽckes aber glauben Melito bei Eusebius (KG IV, 26, 10)
und dieser selbst (IV, 8, 6 f). Was das Zweite anlangt, so soll Melito in den
Apologien nach Eusebius (KG IV, 13, 8) seine Echtheit gleichfalls bestätigen,
während freilich in der hergehörigen Stelle jener Schrift, die Eusebius selbst
anderswo (IV, 26, 10) mittheilt, weder jenes untergeschobenen Erlasses, noch
der den Anklägern der Christen darin angedrohten Strafe, sondera nur solcher
Edicte Antonin's Erwähnung geschieht, die er an verschiedene griechische
Städte Tiepl coö jjLYjSev vetuxspiCeiv Ttepl -fiixtüv erlassen hat.
Berichten demgemäss die Schriftsteller, auf deren Angahen die
traditionellen Urtheile ĂĽber Kanon und kanonische BĂĽcher beruhen,
und welche als Zeugen für die Entstehungsverhältnisse der neutest.
Schriften angerufen werden, des offenbar Missverstandenen, an-
erkannt Ungeschichthchen, ja Fabelhaften genug, so verhält sich
*) Vgl. OvERBECK, Studien zur Geschichte der alten Kirche S 93 f. Keim,
Aus dem Urchristenthum S 181 f.
2X4: Geschichte des Kanons.
unser protestantisches Bewusstsein zu der von ihnen repräsentirten
Tradition ĂĽberhaupt nicht mehr einfach bejahend, erscheint mit-
hin die den Traditionsbeweis führende äussere Kritik mindestens
ungenĂĽgend.
3) Sehen wir vollends herĂĽber auf die Anwendung, welche das
kirchl. Alterthum in der Praxis von seinen etwaigen kritischen
Grundsätzen machte, so stellt sich das Urtheil noch ungünstiger.
Die Väter um 200 bringen es nie und nirgends über die Versiche-
rung hinaus, die neutest. Schriften hätten sich seit den apostolischen
Zeiten in der Kirche erhalten^). Bei Tertullian ist die Berufung
auf die Tradition der Sedes apostolicae (Praescr. haer. 19. 27) nur
Schein. Allerdings geht er fĂĽr die johanneische Abfassung von Apc
auf die Succession der Bischöfe zurück (Marc. 4, 5 ordo episco-
porum ad originem recensus in loannem stabit autorem). Aber
die Untersuchungen, welchen die alten Bischofslisten der Gemeinden
von Kom, Antiochia, Edessa unterzogen wurden, haben gezeigt, wie
solche Kataloge in dem bekannten kathohschen Interesse, die Suc-
cession der Bischöfe bis auf die apostolischen Zeiten hinauf reichen
zu lassen, schon im 2. Jahrh. nach Analogie und Symmetrie ent-
worfen wurden, ohne dass ihren Verfertigern historische Notizen
von irgend bedeutenderem Gewicht vorgelegen hätten. Je weiter
hinauf diese Bischofslisten reichen, desto fabelhafter werden sie.
Gibt doch der Bischof Dionysius von Corinth seine Gemeinde fĂĽr
eine gemeinsame Stiftung der Apostel Petrus und Pls aus (Euseb.
KG U, 25, 8), trotzdem dass ihm die Corintherbriefe bekannt sind,
vielleicht gerade wegen 1 Cor 1, 12. Schon die Zeit der werdenden
kath. Kirche war aber nicht mehr im Stande, die Entstehungsver-
hältnisse des Christenthums im objectiven Lichte zu erblicken, weil
ihr als unvermeidliches Medium der Betrachtung die Voraussetzung
diente, dass die Entstehung des Christenthums zusammenfalle mit
der Entstehung der Kirche. Die Tradition der kath. Kirche hat
daher ihren Ursprung in einer tedenziösen Hypothese; sie ist eine
Fiction, hervorgegangen aus dem BedĂĽrfniss, das jeweils Gegen-
wärtige als uralt, als ewig dagewesen darzustellen 2).
^) Th. Zahn RE, 2. Afl IV, S 143: „Aber mit dieser Versicherung war die
Sache auch wesentlich abgethan, und zu Forschungen in der bezeichneten Richtung
sehen sich die kirchUchen Theologen nicht dadurch veranlasst." Auch B. AVeiss
Ijckennt ThLz 1881, S 234, „dass nach dem Geist und nach den Mitteln jener
Zeit (des Can. Mur.) eine wirkHche Untersuchung ĂĽber den apostolischen Ur-
sprung einer überlieferten Schrift nicht mehr möglich war."
*) A. Harnack, Texte und Untersuchungen II, 2, S 108 : „Damals begann
jene weitgreifende Correctur der Greschichtc und der Literatur, die durch die
r
VI. Kap.: Die protestantische Kritik des Kanons. 215
Bei Clemens, bei Origenes vollends und seiner Schule, also bei
denjenigen Theologen, welche den Kanon im Detail ausbildeten,
mangelt fast jegliches historische Bewusstsein um die Urzeit der
Kirche und den Sinn der von dorther stammenden Literatur, ĂĽber-
haupt um die historischen Bedingungen der christl. Sache und "Welt-
anschauung. Thatsächhch verdankt Clemens der TrapaSoat? twv
avsxa^cv TTpsaĂźoTSpiov ganz Falsches ĂĽber Marcus (Euseb. KG. VI,
14, 5 f), dem „sehgen Presbyter", d. h. wahrscheinHch dem Pan-
tänus, aber das Vorurtheil vom paulinischen Ursprung von HGbr
sammt einer fadenscheinigen apologetischen Hypothese hierĂĽber
(Euseb. KG VI, 14, 4). Letzteres hat, vermehrt mit der eigenen
Vermuthung des Clemens, die Redaction des Briefes gehe auf einen
ApostelgehĂĽlfen zui'ĂĽck, von ihm Origenes ĂĽberkommen. Nichts
destoweniger spricht er bereits geradezu von a^ycfXoi avSps?, welche
Hbr als paulinisch überliefert hätten, so dass, wenn eine Gemeinde
den Brief so taxirt, sie keinen Tadel verdiene (Euseb. KG VI, 25,
13). Damit war sonach eine höchstens zwei Generationen alte
Lösung des Bäthsels, wie Pls Urheber zwar der Gedanken, nicht
aber der AVorte sein könne, bereits mit dem Glorienschein der
Tradition umgeben, und 100 Jahre später liest sogar ein Theodoret
aus den betreffenden Angaben des Eusebius heraus, dass alle Alten
fĂĽr die pauHnische Abfassung von Hbr eintreten (Op. IH, S 542
ed. Hai.). Und so beruhen die Urtheile der Kirchenväter über
die Herkunft neutest. Schriften theils auf exegetischen SchlĂĽssen
und Vermuthungen, deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit sich noch
controlliren lässt, wie z. B. des Eusebius Schluss aus 2 Tim 4, 6.
16 — 18 auf die Abfassung des letzten der Pastoralbriefe in einer
2. römischen Gefangenschaft^); theils aber sind sie Bestandtheile
einer in der alten kath. Kirche seit der Epoche ilu-er Stiftung zu
officiellem Ansehen gelangten Fable convenue, deren Entstehungs-
verhältnisse und Motive zuweilen, wie z. B. bezüglich der römischen
und der korinthischen Gründungsthätigkeit des Petrus, mit beleidi-
gender DeutHchkeit zu Tage hegen.
strenge Durchführung einer einzigen Fiction die wirkliche Geschichte auslöscht
und eine neue Geschichte gemacht hat. Diese Fiction war, dasa Alles, was in
den Gemeinden eben in Geltung stand oder in Geltung gesetzt werden sollte,
von den Aposteln — das Wort im strengen Sinne — herrühre."
*) H. HoLTZMANN, Die Pastoralbriefe S 38 f. Dasselbe gilt von dem hier
besprochenen Wissen des Hieronymus um die spanische Reise des Pls, wahr-
scheinlich auch von der Verbannung des Johannes nach Patmos und vielen
Nachrichten der Väter über die Lebensverhältnisse dos Lucas,
216 Geschichte des Kanons.
Niemand, der von der Entstehung des Gnosticismus eine Vorstellung hat,
nimmt heutzutage noch den Kirchenvätern, die dafür den Magier Simon verant-
wortlich machen, die mancherlei Sagen von diesem .gläubig ab. Aber die Fabel
von dem grossen Triumph, welchen Petrus ĂĽber diesen Simon zu Rom erficht
(Philos. 6, 20), und die Legende von dem ebendaselbst in siedendes Oel ge-
tauchten, aber unversehrt daraus hervorgegangenen Johannes (Tertull. Praescr. 36)
treten schon als Theile der römischen Localtradition zu einer Zeit auf, da kurz
zuvor der gleichfalls römische Can. Murat. eine förmliche Entstehungsgeschichte
des 4. Evglms mitgetheilt hatte. Bei dieser Gelegenheit erfahren wir noch,
dass der Apostel Johannes ĂĽberdies auch Apc abgefasst und mit seinen 7 Briefen
ein Prodecessor des an 7 Gemeinden schreibenden Pls gewesen ist. Letzteres
glaubt heute überhaupt Niemand mehr; Ersteres, die Identität des Verfassers
von Joh und Apc, ist so problematisch geworden als möglich. Derselbe Irenäus,
welcher durch eine nachweisbare Ueberlieferungskette mit dem Johannes, dem
auch er beide Schriften zuschreibt, zusammenzuhängen scheint, weiss trotz dieses
seines ausdrĂĽcklich hervorgehobenen Verkehrs mit JohannesjĂĽngern (V, 30, 1)
nur unrichtige Deutungen der apokalyptischen Räthselzahl 666 zu berichten
(V, 30, 3). Dass, wie am gleichen Orte berichtet wird, Apc unter Domitian ge-
schrieben sei, wollen selbst die traditionell gerichteten Theologen kaum mehr
glauben, und dass das 3. Evglm eine Niederschrift der Vorträge des Pls
gewesen sei (III, 1, 1), nimmt jenem hervorragendsten Vertreter dessen, was
altkirchl. Tradition heissen kann, heute angesichts von Lc 1, 1 — 4 Niemand
mehr ab. Ein nicht minder ungläubiges Verhalten erlaubt man sich, ohne einer
Censur zu verfallen, gegenĂĽber demselben Schriftsteller, wenn er aus dem Munde
von unmittelbaren SchĂĽlern des Johannes und aus dem 4. Buche des Papias
zustimmend anführt, in der Endezeit würden für die Gläubigen Weinstöcke
wachsen mit je 10,000 Aesten, der einzelne Ast mit je 10,000 Reben, die Rebe
mit je 10,000 Schösslingen, der Schössling mit je 10,000 Trauben, die Traube
mit je 10,000 Beeren, und jede Beere werde 25 Maass Wein geben, und aus
diesen, nachweisbar der jüdischen Apokalyptik angehörigen (Hen. 10, 19. Apc
Baruch 29, 5) Elementen einen durch den Apostel Johannes garantirten Aus-
spruch Jesu macht (V, 33, 3. 4. Patr. ap. I, 2, S 87 f). Wenn aber derselbe
Irenäus demselben Apostel das 4. Evglm zuspricht, so wird er auf einmal als
letzte Instanz, als treuer Zeuge und Träger einer unanfechtbaren Ueberlieferung
gewerthet, und ebenso alle Kirchenväter, wo sie nur Ansichten aussprechen,
die dem heutigen Stand des Kanons gĂĽnstig sind^). Aber was soll man denn
in den gar nicht seltenen Fällen anfangen, wo die Tradition, deren ehrwürdiges
Alterthum man preist, ihre ganze Unsicherheit schon durch innere Gespalten-
heit und Gegensätzlichkeit beweist? So besteht Dissensus gleich in Bezug auf
einen der wichtigsten Punkte der Evglienfrage, wenn nach Irenäus (III, 11, 1)
Lc, nach Clemens (bei Euseb. KG VI, 14, 5) Mr das letztgeschriebene Evglm
unter den Synoptikern ist, und im Passahstreite stossen sich bekanntlich petri-
nische und Johanneische Traditionen aufs Härteste.
^) ScHMiEDEL S 330 : „Es gilt, den unendlich oft wiederholten Satz, diese
oder jene neutest. Schrift sei bezeugt schon von (beispielsweise) Irenäus, Ter-
tullian und Clemens Alexandrinus, dahin abzuändern, dass sie erst von diesen
Männern bezeugt sei und auch dies nur insofern, als durch Anführung von
Citaten oder Nennung ihres Titels ihre Existenz bewiesen wird."
VI. Kap.: Die protestantische Kritik des Kanons. 217
4) Es steht somit fest, dass der alten Kirche weder ein kriti-
sches BedĂĽrfniss noch behufs Erforschung eines historischen That-
bestandes kritische Mittel und Grundsätze von hinreichend sohdem
Umfange zu Gebote standen, während die Leichtgläubigkeit ihrer
theologischen Vertreter um so grösser war. Aber noch mehr —
ihr Absehen bei Entscheidung über die Kanonicität einzelner Bücher
war auch keineswegs immer auf Klarstellung der geschichtUchen
Wahrheit gerichtet. Im Princip stand fest, dass nur sicher Aposto-
lisches kanonisch sein dĂĽrfe; in der Praxis hielt sich sogar Eusebius
in der Bestimmung dessen, was apostolisch und kanonisch sein sollte,
ledigHch an das Merkmal des Herkommens ^). Den praktischen Ent-
scheidungsgrund zur Beurtheilung dessen, was kanonisch heissen soll,
bildet ii airooToXiXY] 6p^oSo|ia (KG III, 25, 7. 31, 6. 38, 5), und in
Fällen, wo er die Lückenhaftigkeit seines Traditionsbeweises, die
Undurchführbarkeit des Grundsatzes der Apostolicität klar erkannte,
capituHrte er einfach mit dem kirchlichen BedĂĽrfniss, wie es jeder-
zeit auf „etwas Festes" drang (vgl. das alte und neue Schlagwort
schon Clem. Hom. 1, 3). In einem Athem kann er versichern, dass
es schlecht um die Echtheit von Jac steht (KG II, 23, 25 larsov
Ss W(; vo^-sostai) und dass das Urtheil der Mehrheit diesem Uebel-
stand Abhülfe leiste (©{xcog Ss la{X£V xal zoluzolq [istoc twv Xoittwv sv
jrXsiaraK; SsSYjiioaiaOjisvac ixxXYjoiatc)^). Noch ĂĽber ausgedehntere
Mittel, wenn es galt, Kritik zu ĂĽben, verfĂĽgte Hieronymus. Aber
in gleichem Maasse überwogen auch Schwäche und Eitelkeit; jedes
kritische Bedenken trat zurĂĽck hinter der Sorge um die eigene
Orthodoxie. Er weiss nur allzu guten Bescheid um die schweren
Bedenken, zu welchen die genannten Briefe hinsichthch ihrer äusseren
Bezeugung Veranlassung geben, ist aber der Ansicht, dass den An-
sprĂĽchen, womit sie auftreten, gleichsam als ein Ersatz fĂĽr die
LĂĽcken des gelehrten Zeugenbeweises die Ausdauer zu Gute komme,
womit sie praktisch zur Geltung gebracht wurden (bezĂĽglich Jac
Cat. 2: licet paulatim tempore procedente obtinuerit auctoritatem,
und bezĂĽghch Jud Cat. 4: auctoritatem vetustate jam et usu meruit).
Dass trotz des guten und begrĂĽndeten Wissens des Abendlandes
um den nichtapostolischen Ursprung sowohl von Hbr als von Hermas
beide Schriften im Morgenlande kanonisirt werden konnten, mag aus
der herrschenden Unkritik und dem ĂĽberwiegenden Interesse am
A. Harnack ZKG 1879, S 404; Texte und Untersuchungen 11, 2,
S 7 f . SCHMIEDEL S 328.
") HiLGENFELD S 164: „In der Aufnahme eines Theils der Antilegomena
scheint Eusebius seiner Ueberzeugung einen Stoss gegeben zu haben."
218 Gescliichte des Kanons.
Inhalte Erklärung finden. Dass aber Hbr im Abendlande auf die
Dauer zur paulinischen Hinterlassenschaft geschlagen wurde, konnte
nur geschehen bei einer Accomodationsfähigkeit der Tonangeber, des
in der ascetisch-conservativen Zeitrichtung befangenen Hieronymus
und des rein traditionsgläubigen Augustinus'), die unseren Glauben
an das Interesse der Kirchenväter für geschichthche Wahrheit be-
deutend ermässigt^). Was gerade damals den kritischen Trieb, von
dem frĂĽhere Zeiten manches Lebenszeichen gesehen hatten, rasch
und fast vollständig lahm gelegt und sogar Fälschungen nach grossem
Maassstabe hervorgerufen hat, das waren die dogmatischen Kämpfe,
welche die ganze Kirche seit den Zeiten des Eusebius bewegten^).
Bald genug behandelte man alle Fragen, die mit dem Begriff des
Kanons im Zusammenhang standen, ganz nach Analogie der dog-
matischen Fragen. Der Vater der Orthodoxie geht daher auch in
der grossen Angelegenheit des Kanonschlusses voran, und Rufin,
Hieronymus, Augustinus und Innocenz I. ĂĽbertragen sein ĂĽrtheil in
das Abendland, wo das BedĂĽrfniss nach handgreiflichem Wahrheits-
besitze noch massivere Formen aufwies.
Anfänglich konnte Athanasius (De incarn. 3. De decr. syn. Nie. 4. Epist.
fest. 11) noch die gĂĽnstigen Urtheile des Origenes ĂĽber Hermas zu einer Zeit,
da dieser im Abendlande nach dem Urtheil des Hieronymus (Cat. 10) paene
ignotus war, vertreten. Als sich aber die Gegner auf Hermas beriefen, wusste
sofort auch Athanasius besseren Bescheid und betonte den unkanonischen
Charakter des Buches (De decr. syn. Nie. 18. Ad Afros 5. Epist. fest. 39).
Nach solchem Maassstab war aber von jeher in der Kirche geurtheilt worden,
*) WoLD. Schmidt S 467: „Er ist, wie Hieronymus, den auf etwas Festes
und Fertiges gerichteten "WĂĽnschen jener Zeit nur entgegengekommen.'*
^) Hatch, Die Gresellschaftsverfassung der christlichen Kirchen im Alter-
thum (Deutsche Asg von A. Harnack) S 5: „Wir haben uns zu erinnern, dass
sie sämmtlich Advocaten gewesen und viele von ihnen Parteimänner." Vgl.
Hausrath S 127 f.
^) A. Harnack, Texte und Untersuchungen II, 2, S 223: „Das Zeitalter
des arianischen Kampfes, in welchem sich die Reichsordnung in der Kii'che
durchzusetzen begann, in welchem die verschiedenen provinzialkirchlichen Ord-
nungen aufeinander trafen, in welchem Gewohnheitsrechte, eben erst sanctionirt,
durch den grossen Umschwung der Dinge bald sich als nicht mehr haltbar er-
wiesen, in welchem endlich die inneren Stürme unaufhörlich Bischöfe wegfegten,
den Klerus spalteten, die Grenzen der Diöcesen verrückten, Uebergriffe unver-
meidlich machten — dieses Zeitalter scheint vor Allem dasjenige gewesen zu
sein, in welchem sich viele und verhängnissvolle Fictionen aus dem Dunkel an
das Tageslicht gewagt und sich in demselben behauptet haben. Unter diesen
Fictionen sind zwei die wichtigsten" — nämlich im Abendland die Zurück-
führung des römischen Symbols auf die Apostel (Symbolum apostolicum) und
die apostolischen Kirchenordnungen, Constitutionen u. s. w. im Morgenland.
VI. Kap.: Die protestantische Kritik des Kanons. 219
wie schon 150 Jahre vorher Tertullian beweist. Trotzdem nämlich, dass man
im Abendland den späteren Ursprung jenes Buches kannte, daher nur seinen
Privatgebrauch gestattete (Can. Mur.), niemals aber es zu den apostolischen
und kanonischen Schriften zählte, behandelt Tertullian es da, wo es ihm Dienste
leistet (De orat. 16, al. 12), als scriptura. Nach seinem Uebertritt zum Mon-
tanismus aber steht er dogmatisch anders dazu; jetzt weiss er (De pudic. 10. 20),
dass der Pastor moechorum auch in Rom nicht als ai)ostolisch gilt, obwohl
Zephyrin seine milde Busspraxis daraus rechtfertigt.
Gleichzeitig hatte Serapion von Antiochia gegen das Petrusevglm lange
nichts zu erinnern gefunden, bis er die Entdeckung machte, dass das Werk
gnostische Elemente in sich befasse; jetzt setzte er es ausser Gebrauch imd
damit war es ein 'l^suBsTctYprx'.pov geworden. Wäre es nur orthodox gewesen, so
hätte seiner Aufnahme in die Vorlesebücher nichts im Wege gestanden. Ihm
wäre der bei Gelegenheit des S 213 erwähnten Urtheils über Henoch formu-
lirte Grundsatz des Tertullian zu Gute gekommen : a nobis quidem nihil omnino
rejiciendum est, quod pertineat ad nos. Nach diesem Maassstabe verfuhr mau
sicherlich, wenn man sich endlich entschloss, 2 Pe in den Kanon zuzulassen').
Je länger, desto weniger Sorge machte man sich um den Verfasser einer Schrift,
wenn nur ihr Inhalt dem Geschmack und BedĂĽrfniss der Zeit zusagte^). Ver-
mochte aber die alte kathol. Kirche ihr eigenes religiöses Bewusstsein in einer
gegebenen Schrift nicht mehr zu erkennen, so schĂĽtzte auch das unzweifelhafteste
Alterthum und die beste Bezeugung dieselbe nicht gegen mancherlei Ungunst.
Jahrhunderte lang war Apc schon als prophetisches Orakel respectirt gewesen;
da ward man im Gegensatz zum Montanismus und Chiliasmus irre an ihr, und
von dem alexandrinischen Dionysius an datirt eine lange Reihe von griechischen
Vätern, die sie entweder dem Apostel absprechen oder stillschweigend aus dem
Kanon entfernen. Erst Athanasius hat dem Abendlande, welches sich in Ver-
theidigung der Homousie so gesinnungstĂĽchtig erwies, neben dem negativen
Urtheil über Hermas auch das positive über Apc abgenommen, während Hiero-
nymus sein geschichtliches AVisscn um die schlecht bezeugte Authentie von Hbr
zurückdrängte mit der Erwägung, nihil interesse cujus sit, cum ecclesiastici viri
sit et quotidie ecclesiarum lectione celebretur (Epist. 129 ad Dard. 3), und in
Befolgung dieses bequemen Grundsatzes bezĂĽglich 2 und 3 Joh sogar ortho-
doxer und katholischer ward, als der gleichzeitige Papst (Damasus) selbst ge-
wesen ist. Zu dieser Zeit des ausgewachsenen Kirchenthums fragt Augustin
nur nach der Allgemeinheit einer Annahme und beurtheilt hiernach ihren Werth.
Tenebit igitur hunc modum in scripturis canonicis, ut eas quae ab omnibus
accipiuntur ecclesiis catholicis praeponat eis quas quaedam non accipiunt; in eis
») Steck ThZSch 1884, S 44: „Das Urtheil der Kirche war eben in
solchen Dingen in erster Linie ein Werthurtheil. Was ist heilsam, was ent-
spricht dem richtigen Glauben, was kann die Kirche erbauen und vor den
Gefahren der Irrlehre schĂĽtzen? Das war die Hauptfrage, auf die es vor
Allem ankam."
*) ZuMPT, Das Geburtsjahr Christi 1869, S 10: „Jene ganze Zeit war
ohne geschichtlichen Sinn, die Studien i)hilosophi8ch und rhetorisch; die christ-
lichen Schriftsteller fĂĽhrten die Vertheidigimg ihrer Religion mit den AVafieu,
welche ihnen diB Bildung ihrer Zeit gewährt. Nur um Dogmatik kümmerten
sie sich."
220 Geschichte des Kanons.
vero quae non accipiuntur ab omnibus praeponat eas, quas plures gravioresque
accipiunt, eis quas pauciores minorisque auctoritatis ecclesiae tenent (De doctr.
Christ. 2, 8). Offenbar ein rein illusorisches Verfahren! Nachzuweisen wäre
eigentlich das Alterthum eines Urtheils gewesen; dem nicht mehr nachweisbaren
Alterthum substituirt er die kirchliche Mehrheits-Entscheidung in der Gegen-
wart*). Der ßückschluss aus dieser auf das Alterthum ist der Nerv der kath.
Traditionslogik. Es geschieht noch recht viel, wenn man ausnahmsweise einmal
im 4. oder 5. Jahrh. noch Zeugnisse anfĂĽhrt von Papias, Polykarp und anderen
Autoritäten des Alterthums. Schon Eusebius aber beruft sich vielfach nur auf
Origenes, welcher seinerseits nur nach Verbreitung und Anerkennung der BĂĽcher
gefragt hat. Indessen sind selbst diese Fälle, in welchen man sich überhaupt
auf bestimmte Angaben von Zeugen einlässt, Ausnahmen. In der Regel hält
man es für selbstverständlich, dass die Bücher von denjenigen Verfassern her-
rĂĽhren, welchen die Tradition sie beilegt. Zumal dann ist solches der Fall,
wenn ihr Inhalt dem Eürchenglauben adäquat befunden wird. Denn die ge-
schlossene Lehreinheit des apostolischen Zeitalters und seine Uebereinstimmung
rückwärts mit dem AT, vorwärts mit der fixirten Kirchenlehre bildet eine allen
Kirchenvätern gemeinsame Voraussetzung, deren Schranke immer unübersteig-
licher wird, während gleichzeitig die Liebhaberei für Zahlenspiele bei Fest-
stellung der Vierzahl der Evglien (S 152 f), der Siebenzahl der katholischen
und auch der auf die doppelte Siebenzahl gebrachten Plsbriefe (S 148, 171, 174 f)
wirksam erscheint.
Aus dem Gesagten erhellt, dass die patristische Tradition seit
dem Zeitalter der arianischen Kämpfe gar nichts mehr bedeutet,
dass sie dagegen beachtenswerthe Fingerzeige vor Allem da ent-
halten wird , wo sie ĂĽber die durch die Entstehung der Kirche
bezeichnete Grenzlinie, d. h. etwa über das Jahrzehend 170 — 80,
wirkhch hinaufreicht. Zeugnisse der nächsten 70 Jahre nach dem
Ende des apostolischen Zeitalters fallen ungleich mehr in's Gewicht
als die der 1700 Jahre, welche seitdem verflossen. Nun sind aber
die Zeugnisse, welche uns bezĂĽglich der neutest. Schriften zwischen
70 und der Mitte des 2. Jahrh. zu Gebote stehen (bei den aposto-
lischen Vätern und Justin), ausserordentlich dünn gesäet und zudem
oft zweideutig, unklar und dunkel. Um so mehr ist das aus so
spärlichen Resten bezüglich der Entstehungsverhältnisse der neutest.
Schriften herzustellende Ergebniss nach einem Maassstabe, der zumeist
nur dem eigenen Inhalte und dem gegenseitigen Verhältnisse dieser
*) Wo das Interesse besteht, sich über diesen Thatbestand zu täuschen,
da hilft die Fiction von der ab ipsius praesentiae Christi temporis bestehenden
Ăźuccessio episcoporum (C. Faustum 11, 5. 33, 6). Wo er aufrichtiger zu Werke
geht, sagt er einfach z. B. von Hbr: me movet auctoritas ccclesiarum orien-
talium, quae hanc quoque in canonicis habent (De peccat. mer. 1, 27). Ebenso
von den Acta des Andreas und des Johannes: si illorum essent, recepta
essent ab ecclesia (C. advers. legis et prophetarum 1, 20); ebenso wĂĽrde der
Briefwechsel Jesu mit Abgar, wäre er echt, längst im Kanon stehen (C.Faust. 28, 4).
I
VI. Kap.: Die protestantische Kritik des Kanons. 221
Schriften entnommen ist, zu prĂĽfen und auf dem Wege der rein
inneren Kritik zu ergänzen. Zwar werden seit etwa 180 die Zeug-
nisse reichlicher und wir haben von jetzt an eine constante Tradition.
Aber diese selbst erstreckt nur ausnahmsweise einmal ihre Wurzeln
in eine tiefere Vergangenheit; denn eben damals vollzog sich jener
Umschwung, in dessen Folge die Entstehung der Kirche mit der
Entstehung des Christenthums identificirt und die ursprĂĽnglichen
Verhältnisse des letzteren durchweg von schiefen Voraussetzungen
aus beurtheilt wurden *). Ueberhaupt aber ist, wenn einmal zwischen
dem angeblichen Verfasser einer Schrift und ihrer ersten Erwäh-
nung schon ein Zeitraum von einem halben bis zu einem ganzen
Jahrh. in der Mitte liegt, damit fĂĽr eine Zeit, die der Buchdrucker-
presse noch entbehrte, offenbar die weiteste Möglichkeit der Irrung
gegeben 2).
Viel wichtiger als die ausdrĂĽcklichen Aussagen der Kirchen-
väter über die Entstehungsverhältnisse der neutest. Schriften sind
die nicht ausdrĂĽcklich abgelegten Zeugnisse, die sie durch ihr that-
sächhches Verhalten über Vorhandensein und Benutzung dieser
Schriften hefern. In dieser Beziehung kann Schritt fĂĽr Schritt der
Beweis geliefert werden, dass die einzelnen Bestandtheile des NT
fast genau in derselben Reihenfolge, in welcher sie innerhalb der
kirchl. Literatur allmälig in Sicht treten, zuvor auch in's Dasein
getreten sind. So gefasst stimmen äussere und innere Kritik durch-
aus ĂĽberein.
5) Bei diesem Befunde wird die innere Kritik das letzte Wort
doch auch in solchen Fällen mitzusprechen haben, wo schon die Ab-
hör der Zeugen, d. h. die Tradition, zu einem einheitlichen End-
ergebniss zu führen scheint. Wenn beispielsweise — um nur ein
einziges Moment, die schriftstellerischen Verwandtschaftsverhältnisse
der neutest. Autoren unter sich, hervorzuheben — das 4. Evglm
die Gegensätze des apostolischen Zeitalters nicht blos, sondern auch
die schriftlichen Erzeugnisse desselben nachweisbar zur Voraussetzung
hat und von den letzteren , also vorab von Plsbriefen und von
*) IrrefĂĽhrend trotz ihrer Richtigkeit ist daher die Bemerkung von Lut-
HARDT S 38: „Solchen Zeitaltern der Kirche ist um so mehr ein traditioneller
und conservativer Sinn eigen." Richtiger Zahn, Hermas S 3: Die grossen
Kirchenlehrer der altkatholischen Zeit stehen der hauptsächlich dunkeln Zeit
doch zu fem, und ihr eigener geschichtlicher Blick reicht nicht weit genug
zurĂĽck."
*) Welcherlei Irrthümer selVjst unter der Herrschaft der Presse möglich
sind, siehe bei H. Holtzmann, Recht und Pflicht der Kritik 1874, S 24 f.
222 Geschichte des Kanons.
den synopt. Evglien, auch wohl von Act und Apc, in Abhängigkeit sich
befindet, so fĂĽhrt ein solcher Thatbestand auf die Frage, ob das Werk
von einem Urapostel herrühren kann, auch wenn alle Yäter, seit
Theophilus und Polykrates diese Frage längst bejaht haben, ja auch
wenn es sich selbst fĂĽr die Niederschrift eines Augenzeugen ausgeben
sollte. Ein Brief, welcher von der aus den Plsbriefen zu erschliessenden
Weise der Urapostel das Reich Gottes zu verkĂĽndigen abweicht
und dafür in den Gedankengängen, Ausdrucksformen und Sprach-
grenzen jener Briefe sich bewegt, berechtigt zu der Frage, ob er
wirklich von Petrus herrĂĽhren kann, auch wenn schon Polykarp ihn
gelesen hat, ja selbst wenn jener Name als der des Autors auf der
Zuschrift geschrieben steht. Umgekehrt rufen Briefe, welche wie
Tim und Tit von der paulinischen Weise des Evglms abweichen,
ihr theilweise sogar zuwiderlaufen, dafĂĽr aber Kenntnissnahme von
beiden Lucasschriften verrathen, die Frage hervor, ob sie aus der
Feder des Pls geflossen sein können, trotzdem sie schon im Kanon
der alten kath. Kirche stehen und den Namen des Apostels an der
Spitze fĂĽhren. Treten zu dem beispielsweise allein betonten Momente
noch andere, wie Berücksichtigung späterer Zeitverhältnisse in einem
angeblich urapostolischen Document, Nachweisbarkeit seines Alibi
auf frĂĽheren Stationen der literarischen und kirchl. Entwickelung,
so wächst in demselben Maasse auch die Grösse des Fragezeichens,
welches die innere Kritik hinter die Tradition ĂĽber die betreffende
Schrift setzen muss.
Aber bedroht dasselbe Fragezeichen nicht auch den persönlichen Charakter
der betreffenden Autoren? Sofern es sich nämlich herausstellen sollte, dass
manche Schriften des NT im Widerspruche mit der altkirchlichen Ueberlieferung
nicht blos, sondern auch mit ihren eigenen Angaben apostolischen und anderen
bekannten Männern der neutest. Geschichte von späteren Verfassern nicht ohne
Absicht und Bewusstsein untergeschoben sind. Berechtigt uns ein solcher Be-
fund nicht zu der Klage, das Christenthum sei auf Täuschung erbaut? Auf
diesem Punkte ist unsere Empfindungsweise nicht blos wenig antik, sondern sie
ignorirt auch einen zu jeder Zeit gleich stark wirkenden Drang des die Aussen-
welt in sich nachbildenden und verarbeitenden Geistes, die zeitliche Ununter-
brochenheit eines Prozesses, wo sie erfahrungsmässig nicht zu constatiren ist,
mit Mitteln der eigenen Phantasie herzustellen und die LĂĽcken der Beobachtung
durch Einschaltung derjenigen Momente, die zufällig nicht zu beobachten waren,
zu ergänzen. Für ein Zeitalter, welchem der Gedanke einer Entwickelung durch
Gegensätze, Rückbildung und Umschwung noch nicht erreichbar, das Bedürfniss,
die jedesmalige Gegenwart als direct gewolltes und herbeigefĂĽhrtes Product
einer göttlichen Wirkung zu begreifen, um so unabweisbarer war, bestand in dieser
Beziehung geradezu ein psychologischer Zwang. Was zwar von den Aposteln
nicht selbst geschaffen worden war, nichts desto weniger aber als ein mehr oder
weniger mannigfach vermitteltes Ergebniss ihrer Lebensarbeit sich eingestellt
VI. Kap.: Die protestantische Kritik des Kanons. 223
hatte, das wusste die interpolirende Verstandesoperation späterer Greschlechter,
ausgehend von der Voraussetzung, dass die immer sich selbst gleiche Kirche
mit Einem Schlage von den Aposteln in's Leben gerufen worden sei, nach-
träglich auf die eigene Rechnung jener zu bringen^). Schwierigkeiten standen
einem solchen Unternehmen um so weniger im Wege, als mit dem rein objectiv
historischen Interesse auch der Begriff des geistigen Eigenthums nur der Neuzeit
angehört und nicht zurückdatirt werden darf in Zeiten, welchen er fremd war.
Im Allgemeinen ist das Alterthum ĂĽberhaupt fĂĽr die Frage, was geschrieben
steht, interessirter als fĂĽr die andere, wer etwas geschrieben hat^). So treten
schon in der hebräischen Literatur die wirklichen Verfasser der Geschichts-
bücher ganz in den Hintergrund, während Namen, welche die Tradition z. ß. den
Büchern Moses', Josua's, Samuel's vorgesetzt hat, offenbar nur darum gewählt
sind, weil ihr Inhalt diesen Männern gewidmet ist. Weiter geht es schon, wenn
der sog. Prediger sich ausdrĂĽcklich als eine Rede Salomo's gibt, der ihn doch,
selbst nach conservativstem Urtheile, nicht abgefasst haben kann, und ungeachtet
so vieler bestimmt lautender Ueberschriften lassen sich die Sprüchwörter (Prv)
auf Salomo, die Psalmen auf David schwerlich auch nur so zurĂĽckfĂĽhren, wie
die Pandekten auf Justinian. Vollends zeigt das Buch der Weisheit wie der
Name Salomo's zur Etiquette fĂĽr eine gewisse Schriftstellerei geworden ist. Und
nicht minder begegnet uns in der apokalyptischen Literatur die Manier, Weisen und
Propheten des Alterthums mit Bezug auf neueste Vorkommnisse Orakel in den
Mund zu legen (Henoch, die zwölf Patriarchen, Moses, Jeremia,Baruch,Daniel, Esra).
Aehnlichen Grundsätzen folgte aber auch das classische Alterthum, wenn
z. B. griechische und römische Geschichtsschreiber ganz unbedenklich und meist
ohne sich darüber zu äussern, ihren Helden Reden in den Mund legen, welche
einfach Eigenthum der betreffenden Schriftsteller sind. Offenbar besteht zwischen
solchem Verfahren und eigentlicher Unterschiebung ganzer Schriftwerke kein
sachlicher oder sittlicher Unterschied. „In beiden Fällen werden eben einem
Anderen Aeusserungen zugeschrieben, die er nicht wirklich gethan hat, und ob
dies schriftliche oder mündliche, längere oder kürzere sind, ist durchaus uner-
heblich." „Wenn Plato seinen Sokrates ganze Bände hindurch sagen lässt,
was er in seinem Leben nie gesagt oder gedacht hat, und wenn er diese Reden
recht geflissentlich an geschichtliche Veranlassungen anknĂĽpft und mit allem
Schein der geschichtlichen Wirklichkeit zu umgeben sucht, wenn Xenophon,
Aeschines und andere Sokratiker in ihrer Art ebenso verfahren sind, so kann
man nicht sagen, diese Männer wollten jene Reden nicht für geschichtlich aus-
geben. Das Richtige ist vielmehr, dass sie gegen die geschichtliche Wahrheit
mit Ausnahme weniger Darstellungen vollkommen gleichgĂĽltig sind, dass ihnen
das Geschichtliche nur ein unselbstständiges Vehikel ihrer Gedanken ist"'). Es
handelt sich in solchen Fällen um eine gemeinübliche, unverfängliche Ein-
kleidungsform. FĂĽr das Verfahren, welches Cicero in seinem Buche ĂĽ])er die
Freundschaft einschlägt, darin er seine Ansichten nicht in eigenem Namen
vorträgt, sondern dem berühmten Laelius in den Mund legt, rechtfertigt er
sich mit dem grösseren Ansehen, welches dadurch dem Gesagten erwächst, also
^) Vgl. 0. Liebmann, Die Klimax der Theorien 1884, S 80, 94 f. Dazu
HoLTZMANN PrK 1884, S 269 f. Auch C. HĂĽlsten, Synopt. Evglien S 154 f.
«) Vgl. hierüber Zkllkr S 305 f.
») Zeller S 309.
224 Geschichte des Kanons.
mit einem Grundsatz, welcher fĂĽr diese ganze Classe von Literatur maassgebend
ist (De amic. I, 4 genus autem hoc sermonum, positum in hominum veterum
auctoritate et eorum illustrium, plus nescio quo pacto videtur habere gravitatis).
Mit dem Namen eines angenommenen Verfassers bezeichnet sonach das
Alterthum ĂĽberhaupt nur die Tendenz und den Inhalt einer Schrift in bĂĽndigster
Weise. So gut und auf ähnlichem Wege, wie zuvor der platonische Dialog, konnte
in christlichen Kreisen auch der apostolische Brief zu einer bestimmten Form
schriftstellerischer Darstellung werden. Jener wie dieser hatte sich in einem
bestimmten Kreis von concreten Lebensverhältnissen erzeugt, welche die Bedin-
gungen enthielten für weitergehende Productivität in derselben Richtung und unter
denselben Formen. Sollten daher Briefe wie 2The,Eph,Tim,Tit,Pe eine derartige
Erklärung verlangen, so würden sie eine trotz aller aufgewandten Kunst doch
naive Form schriftstellerischer Thätigkeit repräsentiren, möglich in einer Zeit,
welche die Sorgen kritischer Geschichtsschreibung nicht kannte, dafĂĽr aber desto
mehr sittliche und religiöse, speculative und dogmatische Gährung in sich be-
fasste. So wenig glaubte man damit ein Unrecht zu thun an den Männern,
welchen man Schriften unterschob , dass Jamblichus die Pythagoreer dafĂĽr nur
lobt, dass sie ihre Werke, auf eigenen Ruhm verzichtend, dem Meister der
Schule zugeschoben haben ^), oder dass der Verfasser der Legende von Pls und
Thekla, über seine Erdichtung zur Rede gestellt, erklären konnte, er „habe das
aus Liebe zu dem Apostel gethan" (id se amore Pauli fecisse). Fast mit den-
selben Worten motivirt der Verfasser einer apokryphischen Kindheitsgeschichte
sein Beginnen (amor ergo Christi est cui satisfacimus) ^), während Can. Mur. die
(Weisheit Salomo's zu Ehren desselben von seinen Freunden abgefasst worden
sein lässt (S 149 f) — ein bezeichnendes Urtheil, in welchem theils ein gewisser
kritischer Trieb, soweit er erwacht ist, sich mit der herkömmlichen Annahme
auszugleichen sucht, theils aber in der Art, wie dieses geschieht, die ganze
Unbefangenheit zu Tage tritt, womit damals geĂĽbt und taxirt wurde, was wir
Heutige Fälschung und Unterschiebung nennen. Ebenso beurtheilt der Ver-
fasser von Act die Reden , welche er nach zweifelsohne nur allgemeinen An-
haltspunkten den Aposteln Petrus und Pls in den Mund legte. War man aber
einmal so weit, so war von da nur noch ein Schritt zu Versuchen, unter des
Pls oder des Petrus Namen auch zu schreiben. Es ist dies nicht anders zu
beurtheilen, als wenn inmitten des 19. Jahrh. Jemand den Dr. Martin Luther
zum Redner an die eigene vorgerĂĽcktere Zeit einfĂĽhren wollte ^). Das Bewusst-
sein geistiger Einheit liegt dabei zu Grunde. Man will die alten Heroen nicht
sterben lassen, sondern immer neu sollen sie aufleben in jedesmal veränderter
Gestalt, so wie eben die jedesmalige Gegenwart sie brauchte. „Grosse, hervor-
ragende Geister des Alterthums beurkunden auch dadurch die Grösse ihrer
Bedeutung, ihre das ganze Bewusstsein der Zeit beherrschende Macht, dass
was in ihrem Geiste gedacht wird, auch nur in ihrem Namen gesagt werden zu
können scheint. Es ist nur die Fortwirkung ihrer überwiegenden Persönlichkeit,
dass man sie auch noch nach ihrem Tode reden und schreiben lässt, wie sie im
') Zeller S 48, 310.
'^) Schade, Liber de infantia Mariae et Christi salvatoris ex codice Stutt-
gartensi 1869, S 11.
") Luther's Wiederkunft und Ansprache an das Geschlecht dieser Zeit,
Berlin 1844. Schon 1817 Hess Bretschneider „Luther an unsere Zeit" reden.
I
VI. Kap.: Die protestantische Kritik des Kanons. 225
Leben geredet und geschrieben haben" ^). Gerade dem Pls, als dem vorzugs-
weise schriftstellerisch thätigen Apostel, entsprach auch ein derartiges Nach-
leben, wie er denn auch in der That derjenige berĂĽhmte Namen der Christen-
heit ist, der für eine derartige Thätigkeit Späterer zuerst in Anspruch genom-
men wurde, während Jakobus, Petrus und Johannes ihm nur folgten.
Nach Analogie dieser Erscheinungen will es auch beurtheilt sein,
wenn die schriftstellerischen Erzeugnisse des christl. Alterthums von
der ältesten üeberlieferung vielfach zugleich fortgebildet werden, so
dass sie fast mit jeder neuen Abschrift eine Ueberarbeitung zu finden
scheinen. Man hielt oft weniger auf ein neues Copiren bestehender
Texte als auf fortgesetztes Anpassen derselben an neu sich gestaltende
Verhältnisse, an fortrückende Entwickelungen. Man dachte den be-
zĂĽghchen Schriften Jugend und Wirksamkeit zugleich zu wahren,
indem man sie von Zeit zu Zeit neu herausgab. Schon Celsus sagt
nicht unrichtig, die Christen hätten das Evglm aus der ersten Schrift
drei-, vier- und vielfach umgebildet (Orig. Geis. 2, 27). In der That
weisen sowohl unsere synopt. Evglien , als die zur Famihe des
Hebräerevglms gehörigen Werke Umbildungen ursprünglicher Stoffe
im Sinne fortrĂĽckender Zeiten und auseinander gehender Interessen
auf. Fast ebenso reich ist die Genealogie judenchristl. Apokalypsen
(Henoch und die SibyUinen) und Apostelgeschichten (die Clementinen)
und ein noch bekannteres Beispiel fortschreitender Erweiterung
bieten die Ignatianen. In verschiedene Schichten, die sich in noch
zu erkennenden Zeitunterschieden über einander lagern, zerfällt end-
lich auch die ganze Literatur der Symbole, der Liturgien und der
Rechtsordnungen, welche nach und nach, am unverhĂĽlltesten erst in
den Zeiten der Reichskirche, ihren Anspruch auf apostolische Her-
kunft geltend macht ^). Da diese Literatur mit ihrem Wachs thume
>) BaĂĽr, Paulus II, S 120 f.
') BezĂĽglich der RechtsbĂĽcher (Doctrinae, Constitutiones, Canones aposto-
lorum u. dgl.) vgl. A. Harnack, Texte und Unters. II, 1, S 223: „Man formte
apostolische Kirchenordnungen, indem man entweder die Apostel gemeinsam
oder auch jeden Einzelnen der Reihe nach reden liess. Diese neuen Kirchen-
ordnungen sollten ältere Ordnungen mit bescheideneren Titeln und der neuen
Zeit nicht mehr zusagendem Inhalt verdrängen; daher das Aufgebot höchster
Autorität nöthig war." S 239: „Zugleich aber änderte man in diesen Büchern
selbst fortwährend, indem man Veraltetes ausmerzte oder corrigirte und Neues
einschob. Das Ergebnias dieser Entwickelung war, dass in den verschiedenen
Provinzen der Reichskirche seit dem 4. .laluh, kirchliche RcclitsbĂĽcher in ver-
schiedenen Recensionen in Ansehen standen, deren Abfassung man direct auf
die Apostel selbst — hier und da durch Vermitteluug eines Amauuensis wie
des Clemens — zurückführte, ja es kam so weit, dass die einzelnen Rechts-
Holtzmann, Einleitang. 2. Auflage. 1 e
226 Geschichte des Kanons.
ganze Jahrhunderte ausfĂĽllen konnte, so wird es wenigstens nicht
a Hmine abzulehnen sein, wenn die Kritik auch bezĂĽglich Tim und
Tit, ferner Eph und Col, endlich Jud und 2 Pe zu analogen Resul-
taten gelangt, ja vielleicht auch in Bezug auf Apc nicht bei einer
einmahgen Geburtsstunde stehen zu bleiben vermag.
Satzungen an die einzelnen Apostel vertheilt wurden und oft ganz junge und
neue gesetzliche Bestimmungen, die eben nöthig erschienen, einem Petrus oder
Philippus u. s. w. in den Mund gelegt wurden." S 265: „Uebrigens ist ein
genaues Studium dieser Interpolationen namentlich auch den neutest. Kritikern
zu empfehlen .... da die allgemeinen literarischen Zustäiide im 2. und 4.
Jahrh. nicht wesentlich verschieden waren".
Besonderer Theil.
15«
\ \
Erstes Kapitel: Die paulinisclien Briefe.
Das Leben des Heidenapostels ist oft genug dargestellt worden.
So weit es ĂĽberhaupt historisch erkennbar ist, ist es bedingt von
den Resultaten der Kritik von Act einerseits, den zu besprechenden
Briefen anderseits.
"Wir nennen aus den Zeiten der älteren Apologetik "William Paley
(Horae Paulinae, ĂĽbersetzt von Henke 1797), aus der Uebergangszeit die "Werke
von J. T. Hemsen (Der Apostel Paulus 1830) und Karl Schrader (Der Apostel
Paulus, 5 Bde 1830 — 36). AVeitere "Verdienste im Einzelnen haben sich erworben
Menken (Blicke in das Leben des Apostels Paulus 1828), H. A. Schott (Er-
örterungen einiger wichtiger Punkte in Pauli Leben 1832), A. Tholuck (Ein-
leitende Bemerkungen in das Studium der paulinischen Briefe StKr 1835,
S 364 f-, Vermischte Schriften 11, S 274 f), Köllner (Geist, Lehre und Leben
des Apostels Paulus 1835) und Paret (JdTh 1858, S 1 f). In umfassender
Weise ist die geschichtliche Betrachtung erst durch Baur's „Paulus" (1845, 2.
Afl 1866 — 67) angeregt worden. Im Anschlüsse an ihn haben Heinrich Lang
(Religiöse Charaktere I, 1862, 2 Afl 1872 •, Das Leben des Apostels Paulus
1866) und A. Hausrath (Der Apostel Paulus 1865, 2. Afl 1872) geistvoll aus-
gefĂĽhrte Geschichtsbilder, Renan (St. Paul 1869) und Krenkel (Paulus, der Apostel
der Heiden 1869) anders geartete, aber z. Th. eigenthĂĽmliche Darstellungen
geliefert, während "Winer (Biblisches Real Wörterbuch, 3. Afl II, S 209 f) und
H. A. "W. Meyer in der Einleitung zu Rm (Commentar ĂĽber das NT IV, 6. Afl
S 1 f ) präcise Zusammenfassungen des . Thatbestandes geben. Eine geschicht-
liche Entwickelung seiner Gedankenwelt findet sich (abgesehen von der dem
„paulinischen Lehrbegriff^ gewidmeten Literatur) bei A. Sabatier (L' apotre
Paul, esquisse d'une histoirc de sa pensee 1870, 2. Asg 1882) und 0. Pfleiderer
(Der Paulinismus 1873; Lectures on thc influence of the apostle Paul on the
development of christianity 1885). Dazu kommen noch die Biographien von
Fleury (1853), CoNYBEARE Und HowsoN (1852, 3. Afl 1864), Beets (aus dem
Holländischen von Gross 1857), Bungener (1867), Vallotton (1870), Thomas
Lewin (1874), J. "W. Straatman (1874), Moriz Schwalb (1876), H. Rodriguez
(1876), Krähe (1878, 2. Afl 1883), Vix (1879), Farrar (1879), Kämmlitz (1881),
A. Dewes (1882), WOLD. Schmidt (RE, 2. Afl XI, 1883, S 356 f i, W. Beyschlag
(HbA 1884, S 1145 f), 0. H. Taylor (1884), J. Stalker (1884), Hatoh (Encycl.
Britannica 70, 1885, S 415 f), Berchter (1885).
Zu den Briefen vgl. im Allgemeinen (die specicllo Literatur bei den ein-
zelnen Ueberschriften) : Flatt, Vorlesungen ĂĽber Rm 1825, Cor 1827, Gal und
230 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
Eph 1828, Phl, Col, The und Phm 1829, Tim und Tit 1831. K. Schrader
(Bd 4 und 5 des oben genannten Werkes 1835~3Q). , H. Olshausen, Biblischer
Commentar über sämmtliche Schriften des NT : Bd 3 und 4 (Um, Cor, Gal,
Eph, Col, The) seit 1835, 2. Afl 1840—44, Bd 5 von W esinger (Phl, Tim, Tit,
Phm) und Ebrard (Hbr) 1850. De "Wette, Kurzgefasstes exegetisches Hand-
buch zum NT, Bd2 seit 1835: Rm 4. Afl 1847, Cor 3. Afl von Messner 1855,
Gal und The 3. Afl von Möller 1861, Col, Phm, Eph, Phl 2. Afl 1847, Tit,
Tim, Hbr 3. Afl von Möller 1867. H. A. W. Meyer, Kritisch-exegetischer,
Commentar ĂĽber das NT: Bd 4 Em 1836, 7. Afl von B. Weiss 1886, Bd 5 1
Cor 6. Afl von Heinrici 1881, Bd 6 2 Cor 6. Afl von Heinrici 1883, Bd 7 Gal
6. Afl von Sieffert 1881, Bd 8 Eph 6. Afl von W. Schmidt 1886, Bd 9 Phl,
Col, Phm 4. Afl von LĂĽnemann 1874, Bd 10 The 1852 von LĂĽnemann, 4. Afl
1878, Bd 11 Tim und Tit 1850 von HĂĽther, 5. Afl von B. Weiss 1886, Bd
13 Hbr von LĂĽnemann 1855, 4. Afl 1878. H. Ewald, Die Sendschreiben des
Apostels Pls 1857. I. P. Lange, Theologisch-homiletisches Bibelwerk, NT: Bd
6 Rm von Lange und Fay, 3 Afl 1880, Bd 7 Cor von Kling, 2. Afl 1865, 3.
Afl von Braune 1876, Bd 8 Gal von Schmoller, 3. Afl 1875, Bd 9 Eph, Phl,
Col von Schenkel 2. Afl 1867 und von Braune 2. Afl 1875, Bd 10 The von
AuBERLEN und RiGGENBACH, 3. Afl 1884, Bd 11 Tim, Tit, Phm von v. Ooster-
ZEE, 3. Afl 1874, Bd 12 Hbr von Moll, 3. Afl 1877. J. Ch. K. v. Hofmann,
Die h. Schrift NT: Bd 1 The 1862, 2. Afl 1869. Bd 2, 1 Gal 1863, 2. Afl
1872. Bd 2, 2. 1 Cor 1864, 2. Afl 1874. Bd 2, 3 2 Cor 1866, 2. Afl 1877.
Bd 3, Rm 1868. Bd 4, 1 Eph 1870. Bd 4, 2 Kol, Phm 1870. Bd 4, 3 Phl
1871. Bd 5 Hbr 1873. Bd 6 Tim, Tit 1874. A. Bisping, Exegetisches Hand-
buch zum NT : Bd 5, 1 Rm 3. Afl 1870. Bd 5, 2. 1 Cor, 3. Afl 1883. Bd 6,
1. 2 Cor, Gal, 3. Afl 1883. Bd 6, 2 Eph, Phl, Col. 2 Afl 1866. Bd 7,
1 The, Tim, Tit, Phm, 2 Afl 1864. Bd 7, 2 Hbr, 2 Afl 1865. E. Reuss, La
Bible NT HI, Les epitres Pauliniennes, 2 Bde 1878. K. v. d. Heydt, Exege-
tischer Commentar zu neun Briefen des Apostels Pls, 2 Bde 1882.
Mit Paulus beginnt die literarische Existenz des Christenthums,
sofern die als seine Hinterlassenschaft geltenden Briefe den ver-
hältnissmässig ältesten Theil des Kanons bilden. Mindestens ist
dies von den echten zu sagen, wiewohl ganz ohne Anfechtung seitens
der Kritik kein Bestandtheil dieser Sammlung gebheben ist.
Es lässt sich jedoch in dieser Beziehung eine Classification durchführen,
welche zugleich mit der chronologischen Abstufung zusammentrifft, wenn wir
unterscheiden :
1) The, Gal, Cor, Rm als die 6 in die Missionsthätigkeit des Apostels
fallenden Sendschreiben. Unter ihnen sind nur die beiden The auch von der
TĂĽbinger Kritik (noch vertreten von Th. Ziegler, Geschichte der christl. Ethik
1886, S 72) angefochten worden, während die 4 übrigen die paulinischen Ho-
mologumenen im modernen Sinne des Wortes bilden. Wenigstens in Bezug auf
sie lässt sich noch ein genereller Echtheitsbeweis in der Weise führen, wie ihn
im Gegensatz zu Toland und den Freidenkern die ältere Apologetik (Paley)
fĂĽr alle zusammen unternommen hat. Die von Evanson, B. Bauer, A. D. Loman,
A. Pierson und S. A. Naber unternommenen Angriffe gehören theils bereits
der Geschichte der Kritik an, theils werden sie dermalen fast ausschliesslich
I. Kap. : Die paulimschen Briefe. 231
innerhalb der holländischen Theologie verhandelt^). — Jedenfalls bilden die 4
grossen Briefe schon rein lexikalisch ein eigenes Sprachgebiet innerhalb des
NT. Unter den 1850 "Wörtern, die letzteres umfasst, eignen jenen gegen 320,
(mit 1 und 2 The ĂĽber 340) ausschliesslich, davon die Mehrzahl (ĂĽber 180) den
Korintherbriefen, Rm gegen 90, Gal etwa 30 angehören^). Aber auch die all-
gemeine Anlage haben die Briefe dieser Classe miteinander gemein. Sie beginnen
mit Grussformeln, Danksagungen gegen Gott, Lob oder Tadel der betreffenden
Gemeinden und schliessen mit Privatangelegenheiten und SegenswĂĽnschen. Un-
erfindbar, und durchaus originell stehen sie auch stilistisch genommen da, sofern
die griechische Sprache, welche von Haus aus einer ganz anderen Vorstellungs-
welt zum Ausdruck gedient hatte, hier erst mĂĽh- und gewaltsam dazu gebracht
wird, als Form fĂĽr einen Inhalt zu dienen, der zwar in alttest. und jĂĽdischen
Gedankenbildungen AnknĂĽpfungspunkte findet, in der Hauptsache aber als etwas
Neues, zuvor nie Dagewesenes erscheint. Nur die Uebersetzung der LXX, von
welcher Paulus kaum je bewusst abweicht^) und der er zum guten Theil seine
Terminologie verdankt, liefert formell, der synoptische Evangeliencyklus mate-
riell mancherlei Factoren, welche sich dem Exegeten der Plsbriefe als schon
bekannte Grössen zur Verfügung stellen. Trotzdem bleiben sie dunkel und
schwerverständlich (2 Pe 3, 16) wie wenige Producte des Alterthums, zumal da
die correcte Form, die rhetorische Rundung und kĂĽnstlerische Vollendung clas-
sischer Produkte hier nicht anzutreffen sind. Daher die Anakoluthen, Nachläs-
sigkeiten, Zwischensätze, Auslassungen. Um so grossartiger wirkt die ungesuchte
Rhetorik des mit voller Kraft arbeitenden Geistes in Cor, die unerbittliche
Stärke der Argumentation trotz der störenden Gedankensprünge in Gal, trotz
der verschlungenen Schlussreihen in Rm, allenthalben die gleiche geistreiche
Speculation und mystische Tiefe. FĂĽr dialektische BegrĂĽndung stehen dem
Apostel eine Menge eigenthĂĽmlicher Formeln zu Gebote. Trotzdem kann die
geniale Conception oft mehr geahnt, als nachgewiesen werden, wie ĂĽberhaupt
diese Briefe nicht gelesen, sondern studirt sein wollen. In bunter Fülle drängen
sich Schwierigkeiten, entsprungen aus dunkler KĂĽrze des GefĂĽges oder aus Ab-
bruch des Gedankens. Auf Schritt und Tritt begegnen alle A rten von redne-
rischen Figuren, Antithesen, Steigerungen, Allegorien, Ausrufungen, Fragen. Es
ist ein tief angelegter, durchgearbeiteter, dabei ausserordentlich lebendiger, stets
in ebenso gewaltiger, wie unruhevoller Production begriffener und affectvoller
Geist, dessen Ausdruck eine solche Schreibweise ist. Insofern liegt neben ihrer
materiellen Unerfindbarkeit (S 98) der Beweis fĂĽr die Echtheit solcher Schriften
auch in der für sich selbst redenden Originalität ihrer Form.
2) Phm, Col, Eph, Phl als die sog. Gefangenschaftsbriefe, welche sofern
echt erst der Periode von Cäsarea und Rom angehören. Schon in der Form
neu ist die Theilung ixx 2 Hälften, die sich in Col und Eph wie die theoretischn
*) Sonst erfreuen sie sich noch des Beifalles von Dr. M. Igel, Blicke in
die Religionsgeschichte zu Anfang des zweiten christl. Jahrhunderts: II. Der
Conflict des Heidenthums mit dem Christenthum in seinen Folgen fĂĽr das Juden-
thum 1883, S 17, 81 f, 88. Vgl. dagegen H. Oort ThT 1883, S 509 f.
'^) B. A. Lasondeb, Specimen litcrarium exhibens discjuisitioncs de liuguae
Paulinae idiomate, 2 Bde 1866.
') E. F. KaĂĽtzsch, De veteris Testamenti locis a Paulo apostolo allegatis
1869.
232 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
und die praktische Kehrseite zu einander verhalten. Der Inhalt weist mehr oder
weniger Differenzen auf, welche in das Gebiet der biblischen Theologie fallen.
Am wenigsten Schwierigkeiten bietet Phm, am leisten Eph. An letzterem
Punkt hat die Kritik eingesetzt, um weiterhin Col als theilweise dieselben An-
griffspunkte bietend zu berĂĽhren und Phm wenigstens noch leicht zu streifen,
während umgekehrt die Apologetik Phm als Operationbasis benutzt, um von
da zunächst Col, wo dieselben Personalien und Situationen wiederkehren, sicher-
zustellen, Eph aber als gleichzeitig damit entstandenen Zwillingsbrief zu begreifen.
So tritt immerhin noch die Mehrzahl fĂĽr die Echtheit aller oder der meisten
dieser Briefe ein. Die strenge Schule verwirft sie sämmtlich ; de Wette, Ewald,
und Renan geben wenigstens Eph, Hilgenfeld, Rovers, Davidson, Weizsäcker
auch Col, überdies 2 The auf und zählen 7 Plsbriefe, Andere, wie Schenkel,
Beyschlag zählen ihrer dagegen 10, indem sie nur Tim, Tit, Hbr verwerfen.
3) Tim und Tit als die auf alle Fälle der späteren Lebensperiode des
Apostels angehörigen, übrigens besonders seit Eichhorn verdächtig gewordenen
Pastoralbriefe, welche in der That ein ganz anderes Gepräge tragen.
4) Hbr als der Brief, ĂĽber den in der alten Kirche zwar das Urtheil eine
Zeit lang schwankte, dessen paulinische Autorschaft aber in neuerer Zeit fast
allgemein preisgegeben wurde.
Die einzelnen Briefe sind erst mit der Zeit gesammelt und mit
einander verbunden worden. Die Meinung, sie seien nach ilirem
Umfange geordnet^), lässt sich fast vollkommen durchführen, sobald
man annimmt, dass die Gemeindebriefe den Briefen an Einzelne
vorangehen. Nur Eph ist etwas länger als Gal. Wahrscheinlich
aber gestaltete sich die kath. Ordnung nach einer willkĂĽrhchen Rang-
ordnung der Gemeinden (vgl. S 145). Doch war die Anordnung nicht
ĂĽberall die gleiche (vgl. ĂĽber Marcion S 135, ĂĽber Can. Mur. S 149).
Bemerkbare Störungen haben später noch die beiden Eindringlinge,
Hbr und Laodicenerbrief, verursacht^). Sicherlich stand der Apostel
in sehr regem brieflichen Verkehr. Aus 1 Cor 16, 3. 2 Cor 11,
28. Col 4, 16 geht hervor, dass ihm das Abfassen von Briefen etwas
Geläufiges war, dass die Veranlassung dazu täglich nahe lag. Paulus
selbst schrieb zwar selten, nennt vielmehr im Eingang oder Schluss
gewöhnHch Gehülfen, die auch seine Schreiber waren. Wahrschein-
lich hat er eigenhändig nur an die Galater^) und an Philemon (19)
geschrieben. Dagegen sind Rm (16, 22), 1 Cor (16, 21), Col
(4, 18) und 2 The (3, 17) erweisHch dictirt (S 25 f). Wo sich
der Schreiber nicht, wie Rm 16, 22 Tertius, ausdrĂĽcklich be-
*) Laurent, Neutestamentl. Studien 1866, S 43 f.
2) VoLKMAR bei Credncr S 397 f.
*) Nur Wenige, zumal Bleek, Wieseler und Hopmann, aber auch Gardt-
HAUSEN 8 298, vertreten noch die ältere Auslegung von Gal 6, 11, als habe
Paulus den ganzen Brief selbst geschrieben; die Meisten lassen ihn nur 6, 11- 18
eigenhändig beifugen.
Die Briefe an die Thessalonicher. 1. Die Christengemeinde zu Thessalonich. 233
zeichnet, ist er wohl im Mitbriefsteller zu suchen (1 Cor 1, 1
Sosthenes, 2 Cor 1, 1 Timotheus). Dem Apostel machte das
Schreiben Mühei er dictirte also, und daraus erklärt sich das Un-
geordnete und wenig Gefeilte seiner Schreibweise. Die Exegese hat
selbst mit der Möglichkeit zu rechnen, dass nachträgliche Zusätze*)
oder Randbemerkungen^) in den Text aufgenonmien werden mussten,
wodurch dieser freilich nicht durchsichtiger werden konnte. Oft
genug mochte dem Apostel das Dictiren zu langsam gehen, er kam
während der Schreiber seine Buchstaben malte, auf neue Gedanken,
verlor den Faden und veranlasste auf diese Weise exegetische Pro-
bleme, deren etliche vielleicht für immer unlösbar bleiben.
Die Briefe an die Thessalonicher.
Specialcommentare von Pelt (1830), Schott (Epistolae Pli ad Thessalo-
nicenses et Galatas 1834), Baumgarten- Ă–RĂĽsros (Commentar ĂĽber die Briefe an
die Philipper und Thessalonicher 1848), Koch (1849, 2. Afl 1855), Iowett (The
epistles of St. Paul to the Thessalonians, Galatians, Romans 1856), Ellicott
(1865), Eadie (1877), Hutchinson (1883. Dazu A. B. van der Vies, De beiden
brieven aan de Thessalonicensen 1865. "W. C. v. Manen, Onderzoek naar de echt-
heid van Paulus tweeden brief aan de Thessal. 1865. H. Holtzmann BL V,
1875, S 499 f. T. F. Westrik, De echtheid van den tweeden brief aan de
Thessal. 1879. P. ScnmoT, Der erste Thessalonicherbrief neu erklärt nebst
einem Excurs ĂĽber den zweiten gleichnamigen Brief 1885. H. v. Soden StKr
1885, S 263 f.
1. Die Christengemeinde zu Thessalonich.
In der Handelsstadt an der Nordspitze des thermaischen Meer-
busens, welche zugleich Vorort des 2. unter den 4 Bezirken Mace-
doniens war, wohnten neben der griechisch-römischen Bevölkerung
wie heute, so damals auch zahlreiche Juden, deren Synagoge nach
Act 17, 1 AnknĂĽpfungspunkt fĂĽr die Entstehung einer christlichen
Gemeinde gebildet hat. Der Hergang lässt sich aus Act 17, 1 — 10.
18, 1. 5 vgl. mit 1 The 1, 1. 5. 7. 8. 2, 9. 3, 1—6 mit genügen-
der Vollständigkeit feststellen. Nur Kleinigkeiten sind controvers
gebheben.
1) Die Gemeinde wird bald nach Act 17, 1. 4 (nur Juden und Prose-
lyten) als eine gemischte (Holsten JprTh 1876, S 151), bald nach 1 The 1,
9. 2, 14 (nur Heiden) als eine wesentlich heidenchristliche betrachtet; so die
Meisten.
2) Die 3 bis 4 Wochen des paulinischen Aufenthaltes in Thessalonich
Act 17, 2 scheinen fĂĽr BegrĂĽndung des Christenthums daselbst nicht auszu-
reichen (Wieseler, Chronologie S 40. RbĂĽss, Gesch. I, S 70. van Manen
') Renan S 232 f.
») Laurent S 3 f.
234 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
S 37. V. Soden S 289). Aber gerade die KĂĽrze dieser Frist wurde Anlass zu
sofortiger Sendung des Timotheus und zur Correspondenz.
3) Die Differenz, dass Timotheus nach 1 The 3, 1—6 von Athen wieder
zurĂĽckgesandt wurde und dem Apostel gĂĽnstige Kunde von Thessalonich nach
Korinth brachte, dagegen nach Act 17, 14—16. 18, 5 Silas und Timotheus,
die in Beröa zurückgebliebenen, den Apostel zwar in Athen einholen sollten,
daselbst auch von ihm erwartet wurden, aber erst in Korinth wirklich trafen,
wird zu Gunsten bald von Act (Hug, 4. Afl, II, S 293. Reuss Ep. Paul. I, S 26.
V. Soden S 291), bald von 1 The (Hausrath III, S 200) gelöst; auch die Har-
monisirungsversuche erklären bald 1 The nach Act (Wieseler S 249), bald Act
nach 1 The (P. Schmidt S 41, 95); vgl. dagegen Overbeck bei de Wette zu
Act 4. Afl S 273.
2. Veranlassung und Inhalt des 1. Briefes.
Am liebsten wäre Paulus so schnell als möghch selbst wieder
zu einer Gemeinde zurĂĽckgekehrt, die er allzu frĂĽh hatte verlassen
müssen; den Juden, die ihn dazu genöthigt (Act 17, 5 f), hat er
dies noch nicht vergessen (1 The 2, 15. 16). Tag und Nacht
quälte ihn der Gedanke an die neugestiftete Gemeinde, die er in
einem Zeitpunkte, da sie sich eben aus der Atmosphäre des Heiden-
thums herausheben sollte, ausser Augen verloren hatte (3, 10). Um
so begieriger ergriff er die nächste Gelegenheit, sich der Ver-
waisten anzunehmen, und da er auch durch die Sendung des Timo-
theus nicht vollständig beruhigt worden war, reagirte er auf die,
von diesem nach Korinth gebrachte, Botschaft mit dem ersten und
grösseren unserer beiden Sendschreiben, welches etwa ^53^ spätestens
^^^^^eschrieben ist, während des anderthalbjährigen Aufenthalts in
Korinth (1, 1. 3, 6 = Act 18, 5). Gleich nach dem Eingangsgruss
(1, 1) legt ein freier Herzenserguss die persönlichen Beziehungen
des Apostels zur Gemeinde dar, spricht dankbare Freude aus ĂĽber
den ungev/ohnten Erfolg seiner Wirksamkeit unter den Thessa-
lonichcrn (1, 2 — 10), gehobene Erinnerung an die bei ihnen in
MĂĽhe und Arbeit, aber auch in Kraft und Segen verlebten Tage
(2, 1 — IG), endlich noch Sehnsucht sie wiederzusehen (2, 17 — 3, 10).
Ein Wunsch für die Förderung ihres Christenstandes (3, 11 — 13)
schliesst diesen 1. Theil ab. Erst der 2. lässt deutHcher erkennen,
von welcher Natur die von Timotheus gebrachte Kunde gewesen
ist. Besprechung der aus dem frĂĽheren heidnischen Leben der Ge-
meindegUeder herrührenden sittHchen Schäden (4, 1 — 12) leitet über
zu der Hauptsache, den Belehrungen über die Parusie (4, 13—5, 11),
woran sich eine Eeihe von Ermalmungen bezĂĽglich des Gemeinde-
lebens knüpft (5, 12—24). Briefliches (5, 25—28) bildet den
Scliluss.
Die Briefe an die Thessalonicher. 3. Veranlassung u. Inhalt des 2, Briefes. 235
Das Schreiben ist somit motivirt durch gewisse bedenkliche
Erscheinungen, die innerhalb der BrĂĽderschaft selbst zu Tage ge-
treten waren. Ueberall unfertige, unzulängliche Zustände! Bald
zeigte es sich, dass die heidnische Zuchtlosigkeit im Geschlechts-
verkehr auch innerhalb der neuen Gemeinde noch stark nachwirkte
(4, 3 — 5); ja selbst die brüderliche Liebe zog in der grossen Handels-
stadt öfters den Kürzeren gegenüber dem specuHrenden Kaufmaims-
geiste (4, 6). Gleichzeitig fehlte es auch nicht an solchen, welchen
die saure Arbeit um das tägliche Brod eine zu äusserliche und
gemeine Sache dĂĽnkte, als dass ein Christ sich ihr zu Liebe in
seinem Nachdenken und Reden ĂĽber die himmlischen Dinge ein
Maass auferlegen sollte (4, 11. 12. 5, 14; vgl. 2 The 3, 6—12).
In frommer Müssiggängerei erforschte man die Zukunft und ge-
tröstete sich demnächstiger Umkehr aller Weltverhältnisse. Zu be-
dauern fand man nur, dass einige Gemeindeglieder schon innerhalb
der kurzen Spanne Zeit, die verflossen war, gestorben waren. An
ihren Gräbern hatte sich der erste Stachel des Zweifels in die Seelen
der JĂĽnger gebohrt. Viele Erlebnisse dieser Art sind zwar in der
kurzen Zwischenzeit kaum denkbar. Aber fĂĽr die, sei es auch nur
wenigen, Todten schienen eben die glänzenden Aussichten nicht
mehr zu bestehen, auf welche hin sie Christen geworden Ovaren; die
Theilnahme am demnächst zu errichtenden messianischen Reiche
war ihnen, den zuvor Weggestorbenen, versagt (4, 13 — 18). Eine
um so angelegentlichere Sorge war es fĂĽr die Ueberlebenden, sich
selbst von der Nähe des Tages zu überreden-, darauf, dass jeden-
falls sie ihn erleben sollten, schien ihnen alles anzukommen (5, 1).
Von untergeordneter Bedeutung ist die Controverse der Exegeten, ob der
Cap. 2 bemerkbare apologetische Ton durch persönliche Verdächtigungen des
Apostels seitens Solcher veranlasst war, welche ihm die junge Gemeinde ab-
trĂĽnnig machen wollten; so gegen die Mehrzahl Hilgenfeld S 241, Sabatier
S 90, P. Schmidt S 25 f, 96, nach welchen Juden, Hofmann (I, 2, Afl
S 193, 276) und v. Soden S 302 f, 306 f, nach welchen Heiden die Urheber
der Verleumdungen gewesen wären. Gegen die Hypothese einer nur prophylak-
tischen Abwehr vgl. P. Schmidt S 93 f, 99 und v. Soden S 304 f.
3. Veranlassung und Inhalt des 2. Briefes.
Bald darauf, nach 2 The 3, 2 vielleicht in der Zeitnähe von
Act 18, 6 oder 12. 13, erscheint Paulus in der Lage, abermals
einen Brief nach Thessalonich richten zu mĂĽssen, welcher durch neu
eingelaufene Nachrichten über die dortigen Gemeindezustände motivirt
sein könnte (3, 11 axo6o[JLcv). Unter fortgesetzten Verfolgungen
(solche waren noch 1 The 1, 6. 2, 14. 3, 3. 4 als etwas Neues
236 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
behandelt worden) waren die Gremeindeglieder standhaft geblieben
(2 The 1, 4). Dagegen war die Mahnung- des Apostels, sich keinen
GrĂĽbeleien bezĂĽglich des Zeitpunktes der Wiederkunft hinzugeben,
weniger von Erfolg begleitet. Vielmehr hatte sich in der Gemeinde
das aufgeregte uud ungeduldige Harren auf den „Tag" gesteigert;
theils waren "Weissagungen und Lehrvorträge gehört worden, welche
lauteten, als sei derselbe schon so gut wie da (Ivsanrjxs), theils hatte
ein angebhch vom Apostel herrĂĽhrender Brief diese Erwartungen
genährt (2, 2). Daher ein 2. Sendschreiben nach dem Eingangs-
gruss (1, 1. 2) zuerst in Form einer Danksagung die Standhaftig-
keit der Gemeinde in den Verfolgungen belobt (1, 3 — 12), dann
zur Hauptsache (2, 1 — 12) übergeht, zu der Belehrung über den
Tag des Herrn, der noch nicht da sein kann, weil die vor seinem
Eintreten zu erwartende Erscheinung des avO-pcöTroc t"^? avofiiac
ebenfalls noch der Zukunft angehört. Zuerst muss nämhch die
Bosheit ihren Gipfel erreichen, d. h. auftreten der avTL>CÂŁi{iÂŁVo?,
„welcher sich überhebt über alles, was Gott oder Heiligthum heisst,
also dass er sich in den Tempel Gottes setzt und von sich selbst
kund thut, er sei Gott" (2, 4). Insgeheim wirke zwar diese, ĂĽber
alle aus der gemeinen SĂĽndhaftigkeit entnommenen Vorstellungen
hinausgehende, Gottesfeindschaft schon jetzt. Was aber ihr un-
verhülltes Hervortreten noch hindert (tö v.a.zkyo'J), ist den Thessa.
lonichern schon bekannt. Es folgt hierauf die ZurĂĽckfĂĽhrung dieses
Lehrstückes auf seinen praktischen Zweck (2, 13 — 17), dann ein
vorläufiger Schluss (3, 1 — 5). Nur wie ein Nachtrag wird noch
eine besondere Unterweisung bezüghch der amxTO)? ^rspiJuaioövTs^,
d. h. derjenigen, welche nicht mehr am gewöhnlichen Tagewerk
festzuhalten waren, angefügt (3, 6 — 16). Ein eigenhändiger Gruss
(3, 17. 18), der zugleich als Zeichen der Echtheit gelten soll, be-
schliesst den Brief.
4. Echtheit.
AVenn die angegebenen Abfassungsverhältnisse in sich vollkommen
haltbar und klar sind, so möchte wohl dieser Umstand als der
sicherste StĂĽtzpunkt der Echtheit gelten. Indessen steht letztere
keineswegs unbedingt fest, und namentlich verhält es sich in dieser
Beziehung mit dem 2. Briefe wieder anders als mit dem 1. Gegen
die paulinische Abfassung des 2. äusserte zuerst J. E. Ch. Schmidt
(1801, 1804, 1809) gewisse Zweifel, die dann von Schrader (V,
S 41 f). Mayerhoff (Der Brief an die Cplosser 1838, S IX),
Kern (ZTh 1839, 2, S 145 f) und auch von de Wette in der
Die Briefe an die Thessalonicher. 4. Echtheit. 237
1. und 2. Asg seines Lehrbuches getheilt wurden. Nachdem diese
Bedenken von demselben de Wette in den späteren Asgn, ausser-
dem aber auch von Heydenreich, Reiche, Guericke, Pelt,
Schott bekämpft worden waren, schärfte Baur (II, S 94 f, 341 f)
die von den bisherigen Bestreitern gebrauchten Waffen imd richtete
den Angriff zugleich auch gegen die Echtheit des 1. Briefes. In-
dessen ist auf diesem Punkte ein nicht geringes Schwanken inner-
halb des Lagers der Kritik selbst bis zu dieser Stunde bemerkbar.
Während Noack (Der Ursprung des Christenthums 1857, II,
S 313 f), A. B. VAN der Vies (1865) und Volkmar (Mose Pro-
phetie und Himmelfahrt 1867, S 114 f, 160) beide Briefe verwerfen,
auch HĂĽlsten (JprTh 1875, S 425 f. 1876, S 58 f, 282 f. 1877,
S 731 f) und Steck (ebend. 1883, S 509 f) ausdrĂĽckHch die ĂĽn-
echtheit des 1. behaupten, haben LiPSius (StKr 1854, S 905 f),
Hn.GENFELD (S 239 f, 642 f). Weisse (Philos. Dogmatik I, 1855,
S 146; Beiträge zur Kritik der pauHnischen Briefe 1867, S 9)
und VAN Manen (1865) das Urtheil der Unechtheit wieder auf den
2. beschränkt, den auch Hausrath (Neutest. Zeitgeschichte, 2. Asg
II, S 254 f. III, S 198, 506), 0. Pfleiderer (Paulinismus S 28),
Bahnsen (JprTh 1880, S 681 f) und Weizsäcker (S 258 f, 521)
aufgeben, während P. Schmidt (S 127 f), Davidson (I, S 338 f,
347 f) und Hase (Kirchengeschichte I, 1885, S 284) darin Ueber-
arbeitung einer (geringfĂĽgigen) paulinischen Grundlage erblicken.
Als Apologet ist zuletzt Westrik aufgetreten (vgl. dagegen H. Holtz-
mann ThLz 1880, S 26 f).
Die Debatte bewegt sich um folgende Punkte:
1) Mangel des antijudaistischen Themas der Plsbriefe; dafĂĽr conciliato-
rische Stellung, kein cn.Tzöo'zo'koc, in der Aufschrift, keine Polemik wider das
(resetzeschristenthum. Aber nicht blos kennt der paulinische Lehrbegriff seine
Entwickelungsstadien, auch der Horizont einer blutjungen Heidengemeinde kommt
in Betracht (P. Schmidt S 77, 97 f, 100 f). Der apostolische Titel war noch
nicht Gegenstand des Streites und der Eifersucht geworden (Sabatier, 2. Afl
S 89 f).
2) Der Inhalt bringe nur aus Act Bekanntes. Aber vgl. 1 The 1, 9. 2, 14
(gegen Act 17, 1. 4. 5) und 3, 1—6 (gegen Act 17, 14. 15. 18, 5).
3) Die Briefe weisen Reminiscenzen aus 1 und 2 Cor auf. Aber ähnliche
Verhältnisse, wie sie in Thessalonich und Korinth statt hatten, bringen auch
ähnliche Maassnahmen (eigene Reisepläue, Sendungen von Apostelgehülfen) und
Auseinandersetzungen (apologetische Berufungen auf das eigene Gewissen und
uuf das Zeugniss der Leser fĂĽr den Apostel) mit sich (P. Schmidt S 102 f. H.
V. SoDKN S 289 f). Auffällig bleibt nur 2 The 3, 7—9 (-- 1 Cor 9, 4. 12. 2
Cor 11, 7—9). 14 (= 1 Cor 4, 14, 5, 9. 11. (i, 5. 15, 34), wobei auch das nur
â– ^, 9 begegnende Motiv der Handarbeit des Apostels zu beachten (um Andern
v'm Beispiel der Arbeitsamkeit zu geben). An Apc erinnert ausser dem ganzen
238 Besonderer Theil. Die paulmischen Briefe.
Inhalt von 2 The (vgl. S 239) auch 1 The 1, 3 (die paulinische Trias ubtt?,
i/L'^ärcri, eXict? combinirt mit Apc 2, 2 epYOV, xoito?, oTCop-ovY]).
4) Unpaulinisches in der Sprachform. Dieselbe weist aber in 1 The neben
18 sonst im NT nicht wieder begegnenden Wörtern durchaus paulinischen
Grundcharakter und nicht wenig ganz specifisch paulinische AusdrĂĽcke und
Wendungen auf, daneben allerdings auch einzelne BerĂĽhrungen mit Eph, Tim,
Tit, Hbr, Lc und Act (van Manen S 122 f. P. Schmidt S 75 f. von Soden S 264 f).
Dagegen liefert 2 The eine auffallend grosse Anzahl von ganz eigenthĂĽmlichen
AusdrĂĽcken und Bezeichnungsweisen, wie sie sich weder bei Pls noch ĂĽberhaupt
im NT wiederfinden (Westrik S 77 f), wozu noch eine Reihe charakteristischer
Abweichungen von 1 The kommen, wie s&x^aptaxElv o(psiXo|AÂŁv 1, 3. 2, 13 fĂĽr
£u^aptoToö/i£V (1 The 1, 2. 2, 13), die Ersetzung von d'soc, durch xopio? (^^ Grott,
was bei Pls nur in alttest. Citaten sicher der Fall ist) in den Formeln 6 v-öpioc,
TYj? etpTiVY]? 3, 16 (vgl. 1 The 5, 23), "Yi-^aTz^it-hoc, otco y.optou 2, 13 (vgl. 1 The
1, 4), TzioToc, b xopto? 3, 3 (vgl. 1 The 5, 24), 6 v.öpioc, xateui^üvai 3, 5 (vgl.
1 The 3, 11).
5) Mit Ausnahme von 2 The 2, 1 — 12 ist der ganze 2. Brief eine z. Th.
erweiternde, z. Th. steigernde Wiederholung paralleler Stellen des 1., so dass
schon daran eine ältere Hypothese scheitert, welche ihn nicht blos echt, sondern
auch vor dem 1. geschrieben sein liess (H. Grotius, Bunsen, Ewald, van der
ViEs, Laurent S. 49 f).
6) Das viele Reden von Briefen 2 The 2, 2. 15. 3, 17 passt in eine Zeit,
fĂĽr welche der Apostel nur noch in seiner Hinterlassenschaft existirte, besser
als in den Anfang seiner Wirksamkeit, wo namentlich auch das Zeichen der
Echtheit 3, 17 befremdet.
7) Die Briefe lassen die ĂĽblichen Citate aus dem AT vermissen. An
Reminiscenzen dagegen mangelt es nicht.
8) Die Philippica wider die Juden 1 The 2, 14 — 16 ist um so auffallender,
als sie nach Sinn und Ausdruck an Mt 23, 32 = Lc 11, 49 — 51 erinnert. Doch
könnte Pls wie 1 The 4, 15 so auch hier h X6yü> xüptoo sprechen, und an
geschichtlichen Anlässen zur Urtheilsbildung scpö-aosv Itc' ahzohc, tj opY*)^ et?
tkloc, fehlt es nicht (W. Grimm StKr 1850, S 774. P. Schmidt S 86 f. von
Soden S 298).
9) Zur frĂĽhen Abfassungszeit stimmen nicht Stellen, welchen zufolge die
Thessalonicher schon als Christen allgemein bekannt sind (1 The 1, 7. 8. 4, 10)
Vorsteher haben (5, 12), schon eine Reihe von Todesfällen beklagen (4, 13 f),
bereits die RĂĽckkehr des Apostels erwarten (2, 18. 3, 10. 11). Die obige Dar-
stellung der Veranlassung des 1. Briefs dient wohl zur Erledigung dieses und
des vorigen Punktes.
10) Die Briefe sind erst in Can. Mur. direct nachweisbar. Aber schon
Marcion hatte sie, und Reminiscenzen finden sich bei den apostolischen Vätern
(Westrik S 10 f), auch in den Test. XII patr. (Levi 6 = 1 The 2, 16).
5. Der eschatologische Hauptpunkt.
Das „schlagende Hauptargument"; welches man unter diesen
Contro verspunkten vermisst (ReĂĽss, Gesch. I, S 73), hegt in der Be-
handlung des eschatologischen Themas. Im 1. Brief schwinden alle
Schwierigkeiten, sofern die RĂĽcksicht auf die Gestorbenen 1 Cor 15,
%.-
Die Briefe an die Thessalonicher. 5. Der eschatologische Hauptpunkt. 239
auf die Lebenden 1 The 4 eine gemsse Verschiedenheit der Ge- -- 7 ^
Sichtspunkte von vornherein bedingt (v. Soden S 275 f, 282 f). Die /Jo^- «^
Erörterung geht nur durch die sinnHche Ausmalung einer aTudviTjatc at^^jjf '
£v vsfpsXai? 4, 17 über 1 Cor 15, 51. 52. 2 Cor 5, 1 — 4 hinaus.
Und welcher später Schreibende hätte eine Besorgniss erfinden sollen,
welche nur angesichts der ersten, in einer Messiasgemeinde vor-
gekommenen, Todesfälle begreiflich wird? Welcher Falsarius sollte
nach dem Tode des Pls diesen schreiben lassen 1 The 4, 15 r^^x.ĂĽz
Ol CwvTs? Ol 7:spiX£i7rö[X£V0t SIC TYjv Trapooaiav ? Dagegen kann Pls,
wenn er nach 1 The 5, 2. 3 den Thessalonichem das Eintreten der
f^fispa als Sache des unberechenbaren Momentes dargestellt hat,
nicht zugleich gelehrt haben, wie 2 The 2, 5 vorausgesetzt ^vird.
Dort gibt es keinerlei Anzeichen der, wie ein Dieb in der Nacht | ^pTl
hereinbrechenden, Parusie; von der unbedingten Unbestimmbarkeit L «.
der letzteren haben die Leser ein klares Wissen (axpiĂźw? oiSais);
hier dagegen wird vorausgesetzt, dass Pls sie schon mit dem In-
halte von 2, 3. 4 bekannt gemacht hat, demzufolge die Nähe des
Endes durch einen allgemeinen Abfall, durch das Auftreten eines
avTiXÂŁi(iÂŁV0(; und dessen Attentat auf den Tempel signalisirt wird, zu
welchen 3 Indicien nach 2, 6. 7 noch das Verschwinden des xats^^wv
tritt. Sind das Alles aus dem Rahmen sonstiger paulinischer Eschato-
logie heraustretende Neuigkeiten, so erklären sich solche Züge dafür j
um so durchgängiger aus Apc. So die aTroaraaia 2, 3 aus Apc 13, \/^W/j^-
4. 8. 12. 14. 15, die Selbstvergötterung und Gotteslästerung 2, 4 ^
aus Apc 13, 6. 12. 14. 15. 19, 20, die Trapouaia xai' ivepYsiav "^^^^ /jJkoeAM
aaiavä sv TüdcoTj] Sovajxst xal aY]|Astoi(; %at i^paaiv t]>£u3oo<; 2, 9 aus Apc
13, 2. 12—14. 16, 13. 19, 20, der oiöc vif, aTrwXsiac 2, 3 über-
haupt aus dem st? ajrcoXstav oTuaYstv Apc 17, 8. 11; daher auch mit
dem hier gesetzten r^v xal ou% lortv das [loaiTJpiov vif avo[jLiac 2, 7
zusammenhängen muss. So gut wie 6 avo{io<; ist auch der seinem
Offenbarwerden im Wege stehende Ttai^wv 2, 7 ein Individuum, das
zugleich eine Sache vertritt (tö xax^^^ov 2, 6). Dies passt nur auf
die römische Staatsmacht, deren Repräsentant der dennahge Kaiser
ist, ähnlich wie Apc 13, 1. 17, 11 (so schon Tertull. Apol. 32. De
resurr. carn. 24). Dem entsprechend werden die Leiden der Christen-
heit 2 The 1, 5 — 7 aus dem Gesichtspunkt der vergeltenden Ge-
rechtigkeit betrachtet (Apc 6, 10 f. 7, 14, 11, 18), wie denn auch
die ^775X01 Süvd(jL£ü)(; aotoö 1, 7 an Apc 19, 14, das itöp ^Xoyöc
I, 8 an Apc 19, 12, der SXe^po? alwvtoc 1, 9 (gegen Rm 5, 18.
II, 22. 1 Cor 15, 22. 28) an Apc 20, 10, der bei der Parusie den
avTiX£t[jL£vo<; mit seinem Munde tödtende Herr 2, 8 an Apc 19, 15,
240 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
21 erinnert. Der Brief ist somit geschrieben, um die apokalyptische
Eschatologie in die paulinische Gedankenwelt zu ĂĽbertragen (2,
1 — 12) und gewisse Manifestationen der apokalyptischen Stimmung,
welche in der Praxis missliebig bemerkt wurden, zurückzudrängen
(3^ Q — 10). Somit könnte 2 The frühestens kurz vor oder umJO
abgefasst sein (Schmidt, Kern, Baijr, van der Vies, Volkmar,
Davidson). Nur weil er den Antichristen im Gnosticismus erblickt,
setzt Hilgenfeld den 2. Brief in die Zeit Trajan's herab (S 650f;
ähnlich auch C. Hase, Lehrbuch der Kirchengeschichte, 10. Afl
, /p. S 69. Bahnsen JprTh 1880, S 696 f). Dann mĂĽsste freihch der
■^'^ 2, 4 erwähnte Tempel, an dessen Fortdauer der Briefsteller glaubt
wie der Urheber von Apc 11, 2, das geistliche Heiligthum der
christl. Kirche bedeuten. Im Uebrigen aber ist heute nicht die
Frage, ob der Brief in das nachapostolische Zeitalter herabzudrĂĽcken
sei, sondern ob er nicht gegentheils in die Lebzeiten des Apostels
hinauf reiche, folglich echt und bald nach 1 The (um 54) geschrieben
sein mĂĽsse.
Dieses Ziel zu erreichen sind 2 Wege beschritten worden:
1) Der &vTixÂŁi|XÂŁVO(; wird gedacht als aus dem Schoosse des Judenthums
hervorgehend, als Held der bereits Ausbruch drohenden jĂĽdischen Rebellion;
psychologisch stimme dies zu 1 The 2, 14—16; Präformationen zu solchem
Bilde des Antichrists seien gegeben theils in den falschen Propheten und
Messiasen Mt 24, 5. 11. 23 — 26, theils in den wunderthätigen Magiern Act
8, 8 f. 13, 6 f., theils in der Apotheose des Agrippa Act 12, 21 f. So Schnecken-
burger (vgl. E. Böhmer JdTh 1859, S 405 f), Mangold (bei Bleek S 507 f),
Schenkel (ChristusbĂĽd S 69, 239 f ) und besonders B. Weiss (StKr 1869, S 20 f ;
Theol. des NT S 217 f). Aber die aiioQzaoia 2 The 2, 3 hat mit der Politik
nichts zu thun; Ausdrücke wie 6 av^O-ptoTco? x-rjc; avo|JLia; 2, 3, tö |JLuax-^piov ttj?
^vojxta? 2, 7, 6 avofxo? 2, 8, dazu auch der danielische Prototyp des Antichrists,
Antiochus Epiphanes, und die zeitgenössische Erinnerung an das die apo-
kalyptische Phantasie wieder belebende Attentat Caligula's auf den Tempel
(Josephus, Bell. 11, 10, 1) weisen mit aller Bestimmtheit auf heidnischen Boden;
auch hat in dem Bilde von Israel's Zukunft E,m 11, 25 f, ĂĽberhaupt in der
ganzen Vorstellung des Apostels vom Volk der Verheissung ein jĂĽdischer Anti-
messias keinen Raum.
2) Den ötviixeijAsvo? fanden schon Zeitgenossen Augustin's (De civ. Dei
20, 19) in Nero, cujus jam facta velut Antichristi videbantur. Der xate^wv
wäre also der Kaiser, unter dem Pls den Brief geschrieben hätte, Claudius, ent-
weder als „der Inhaber" des Thrones (Döllinger, Christenthum und Kirche in
der Zeit der Grundlegung S 288) oder als der einstweilen noch bestehende
Riegel, qui claudit (Hitzig, Geschichte des Volkes Israel S 583). Aehnlich
auch Renan (St. Paul S 255) und Märcker (Einige dunkle Umstände im Leben
des PI« 1871, S 11). Aber die unter Nero geschriebene Stelle Rm 13, 1 f
verräth nichts weniger als das Bewusstsein, dem Regimente eines satanischen
&vo\i.o(i zu unterstehen, und Ausdrücke wie ÄTcoxaXüTC'ceaO'ai 2, 3. 8 und napoocia
Der Brief an die Galater. 1. Die galatischen Gemeinden. 241
2, 9 deuten wenigstens nicht auf simple Thronfolge; zum Antichristen endlich
wurde Nero, der anfangs zahm aufgetreten (Suet. Nero 9), erst durch den
Christenmord 64 gestempelt, welches Ereigniss Pia gerade 10 Jahre lang vorher-
gesehen haben mĂĽsste.
Der Brief an die Galater.
Specialcommentare von Winer (1821 4. Afl 1859), Paulus (Des Apostels
Pls Lehrbriefe an die Galater- und Römerchristen 1831), Rückert (1833),
Matthies (1833), Usteri (1833), Schott (vgl. oben S 233), Sardinoux (1837),
Windischmann (1843), Baumgarten-Crusius (1845), Hilgenfeld (1852), Jowett
(vgl. oben S 233), Jatho (1856), Trana (1857), Wieseler (1859), J. B. Lightfoot
(1865, 5. Afl 1880), Ellicott (1854, 4. Afl 1867), Eadie (1869), Brandes (1869),
C. HĂĽlsten (Das Evangelium des Paulus I, 1: Der Brief an die Gemeinden
Galatiens und der erste Brief an die Gemeinde in Korinth 1880) , Schaff
(1881), Wörner (1882), Philtppi (1884), Köhler (1884), Beet (1885).
1. Die galatischen Gemeinden.
In durchaus eigenthĂĽmHcher Weise fanden sich in dem Gebirgs-
land zwischen den FlĂĽssen Halys und Sangarius orientahsche und
classische Culturelemente, phrygische und griechische Religionstypen,
römische und keltische Staatsformen zusammen. Während die seit
etwa 280 v. Chr. daselbst ansässigen barbarischen Horden — FaXa-
zoLij Gallograeci — in den grösseren Handelsstädten, wie Ancyra
(Sitz des römischen Proprätors) , Pessinus (Cybeletempel) und
Tavium (an Stelle des alten Gordium) griechischer Cultur und
Sprache sich accomodirten, soll man auf dem Lande noch zur Zeit
des Hieronymus (Prol. in libr. II comm. in ep. ad Gal.) eine
Sprache ähnhch der in der Gegend von Trier gesprochenen gehört
haben ^).
*) lieber die ethnographischen und historischen Notizen vgl. Hermes,
Rerum galaticarum specimen 1828. Wieseler, Commentar ĂĽber den Brief an
die Galater 1859, S 521 f. Contzen, Die Wanderungen der Kelten 1861.
Perrot, De Galatia provincia romana 1867-, Exploration archeologique de la
Galatie 1872. F. Sieffert, Galatien und seine ersten Christengemeinden ZhTh
1871, S 257 f. W. Grimm StKr 1876, S 199 f. Th^rry, Histoire des Gaulois
10. Afl 1877. Droysen, Geschichte des Hellenismus III, 1, 2. Afl 1877. Th.
Mommsen, Römische Geschichte V, 1885, S 308 f. Speciell handelt es sich
darum, ob die Galater Germanen waren, (so Hermes, Hua, Winer, RĂĽckert,
Meyer, Hilgenfeld S 250, HĂĽlsten I, 1, S 43, Beyschlag, Griechenthum und
Christenthum 1875, S 77 und besonders Wikseler, Die deutsche Nationalität
der kleinasiatischen Galater 1877; Zur Geschichte der kleinasiatischen Galater
1879) oder Kelten (Dieffenbach, Celtica II, 1, S 7 f. Rettberg, Kirchen-
geschichte Deutschlands I, S 19. F. Sieffert S. 260 f. W. Grimm S 205 f.
SchĂĽrer ThLz 1877, S 419 f. 1879, S 226 f. Hertzbkrg StKr 1878 S 525 f).
Vgl. auch Liohtfoot 3. Afl S 235 f.
Holtzmann, Einleitung. 2. Auflage. ig
242 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
Wichtiger fĂĽr uns ist, dass Josephus (Ant. XVI, 6, 2) auch von Juden
in Galatien weiss, so dass unter den Streitpunkten gleich
1) die Frage sich einstellt, ob das jĂĽdische Clement auch in der Christen-
gemeinde vertreten war, wofür 3, 2. 13. 14. 23 — 25, 4, 3. 5 sprechen dürfte
(gegen Schneckenburger, Baur, Hilgenfeld, von Hofmann, HĂĽlsten und Weiz-
säcker) ; die grosse Mehrzahl bildeten jedenfalls die geborenen Heiden (3, 3. 29.
4, 8-12. 17. 21. 5, 2. 3. 6, 12. 13).
2) Einzig unter allen echten Plsbriefen ist Gal an eine ganze Reihe von
Gemeinden adressirt (1, 2), und wo immer auch sonst im NT galatische Christen
Erwähnung finden, geschieht es wie 3, 1 ohne Angabe bestimmter Oertlichkeiten
(1 Cor 16, 1. Act 16, 6. 18, 23. 1 Pe 1, 1. 2 Tim 4, 10). Der geographische
Begriff FaXatia wird daher entweder im Sinne der alten Landschaft, die nördlich
von Bithynien und Paphlagonien, östlich von Pontus, südöstlich von Kappa-
docien, sĂĽdlich von Lykaonien, westlich von Phrygien umschlossen ist (so die
herkömmliche Annahme, auch noch Grimm, Hilgenfeld, Hülsten, Vülkmar,
Schaff, Sieffert bei Meyer zu Gal 6. Afl S 6 f), oder aber im Sinne der seit
25 V. Chr. bestehenden römischen Provinz verstanden, welche auch Pisidien,
Isaurien und Lykaonien umfasste, so dass die „Galater" die Einwohner von
Antiochia, Ikonium, Lystra und Derbe Act 13, 14 — 14, 23 sein könnten (Jüh.
JoACH. Schmidt, Niemeyer, Paulus, Böttger, Mynster, Ulrich, Thiersch, Renan,
Weizsäcker, Hausrath, Paulus 2. Afl S 216 f, 261 f ; Zeitgeschichte 2. Afl HI,
5. 135 f. H. H. Wendt bei Meyer zu Act, 5. Afl S 341. Jacobsen, Die Quellen
der Apostelgeschichte S 17). Im populären Sprachgebrauch wenigstens heissen
freilich Pisidier und Lykaonier keineswegs Galater; auch wäre eine solche Auf-
fassung nicht im Sinne von Act, da hier Pls und Silas von Syrien und Cicilien
aus (15, 41) nach Derbe und Lystra 16, 1 (vgl. die aus GrĂĽnden umgekehrte
Ordnung 14, 6) kommen, worauf 16, 2 Ikonium erwähnt wird; erst auf die
„Städte Lykaoniens" (14, 6) folgen als weitere Reisestationen 16, 6 Phrygien
und Galatien — ein verwirrendes Hysteronproteron, wenn unter Galatien nur
wieder Lykaonien gemeint sein sollte. Daran hängt
3) die Frage, ob Pls die galatischen Gemeinden (deren GrĂĽnder er nach
Gal 1, 6 f. 4, 13 f. 19 ist) auf der 1. oder 2. Missionsreise gestiftet habe. Ersteres
nach Annahme derer, welche die Gemeinden in der Provincia Galatiae suchen,
Letzteres nach der exegetischen Tradition (auch HĂĽlsten S 35 f), sofern Pls
als er Act 18, 23 zum zweitenmal Galatien berĂĽhrt, die dort vorfindlichen
Jünger „stärkt", woraus folgt, dass der 16, 6 erzählte erste Eintritt in raXaxtxv]
X^wpa den Moment der GemeindegrĂĽndung bezeichnet. Freilich wird gerade
hier eine derartige Thätigkeit nicht berichtet, ja sogar ausgeschlossen für den
Fall, dass xcuXuä-evTe? mit ^iyjX'Ö'Ov gleichzeitig gedacht wäre. In Wahrheit will
es begrĂĽnden, warum die Apostel nicht sofort in das proconsularische Asien
vordrangen. Endlich aber breitet der Verfasser von Act, dem die Frage nach
der Beschneidung der Heidenchristen mit dem Apostelconvent fĂĽr abgeschlossen
galt, ĂĽber die unerfreulichen Ereignisse in Galatien ĂĽberhaupt einen Schleier,
2. Paulus und die Galater.
Bei seinem ersten Durchzug durch Galatien war Pls nach 4,
13. 14 durch einen jener 2 Cor 12, 7 — 9 beschriebenen Krankheits-
anfälle zu längerem Aufenthalte gezwungen gewesen. Damals kam
es zu den ersten Bekehrungen. Aber das Gal 3, 2. 5. 4, 6. 6, 1
Kac
Der Brief an die Galater. 2. Paulus und die Galater. 243
beschriebene Glaubensleben ging bald einer sehr gefährlichen Krisis
entgegen anlässlich des jetzt zum erstenmal auf dem Kampfplatze
erscheinenden sispov soaYYdXtov der Judaisten (1, 6).
Ein unausgefochtener Streit besteht darĂĽber, ob Pls gewisse Erfolge der
judenchristlichen Bearbeitung der Galater schon bei seiner 2. Anwesenheit unter
ihnen vorgefunden und bekämpft habe, was aus 1, 9. 4, 16. 18. 20. 5, 3. 21
geschlossen werden will (Hemsen, Schott, RĂĽckert, Credner, Neudecker,
Wieseler, Schaff, Sieffert, Hilgenfeld, Reuss, Lipsros, Hausrath, HĂĽlsten,
Weizsäcker S 224 f), oder ob er erst bald nach seiner Abreise von der plötzlich
eingetretenen Gefahr erfuhr, wofĂĽr man 1, 6. 3, 1. 5, 8 geltend macht (Eichhorn,
DE Wette, Ne ander, Bleek, Renan, Philippi, Schenkel S 65 f). Ausgleichend
nimmt A. H. Pranke (StKr 1883, S 133 f j eine in sich getheilte Strömung
der Opposition wahr, sofern die Juden, welche von Anfang an in den galatischen
Gremeinden sich befunden haben, nachträglich von Jerusalem aus Verstärkung
gefunden hätten („Evolution innerhalb des galatischen Gemeindelebens"); mit
dem „eklektischen Judenthum", das ihm noch in Galatien selbst entgegen-
getreten war, sei er persönlich fertig geworden, mit den jerusalemischen Send-
lingen und Gesetzeseiferern dagegen musste er den Kampf brieflich aufnehmen j
vgl. dagegen Hilgenfeld ZwTh 1884, S 333 f. Mangold bei Bleek S 549 f
(ĂĽbrigens unter Anerkennung eines doppelten Angriffs der Judaisten auf die
paulinische Position in Galatien).
Klar ist nur die Position der xapaaaovTs? (1, 7. 5, 10) und
avaaraToövTsc (5, 12) selbst. Ihre Schlagwörter heissen aTuepfia 'Aßpaa{jL
(3, 16) und lspooaaX7]{i tjtlc sadv {iTJiYjp '^[jlwv (4, 26). Die Schrift-
beweise, die Pls gegen sie aufbietet, zeigen, wie sie es meinten.
Das AT , darauf jener immer verwies , wisse nichts von einer Ab-
schaffung des Gesetzes ; wer in den Bund Gottes trete, mĂĽsse auch
die entsprechenden Verpflichtungen auf sich nehmen; wer sich der
Verheissungen getrösten wolle, müsse das Gesetz, an dessen Beob-
achtung sie geknĂĽpft sind, erfĂĽllen. Insonderheit verleihe erst die
eschneidung dem Menschen die wahre Vollendung; nur aus Miss-
gunst sei sie ihnen bisher vorenthalten worden (3, 3. 4, 16), ja nur
zur grössten Gefalir ihrer Seligkeit; denn der Mensch bedürfe
sclilechterdings der Zucht des göttlichen Gesetzes ; die Freiheit, die
Pls verkĂĽndigt, fĂĽhre zur sittlichen Laxheit (5, 13 f). Gegen die
Urapostel, die ihrerseits dem Gesetz seine Ehre liessen, könne Pls,
der angebliche Apostel, gar nicht aufkommen, zumal er, was er
ĂĽberhaupt von Jesus und seiner Sache zu sagen weiss, nur von
jenen überkommen haben kann (1, 1. 10 — 12. 18. 19) und sich
ihnen dalier auch melirfach stellen und unterordnen musste (1, 11 f.
2, 1. 6. 9). Alles fasst sich zusammen in die Forderung, die noch
der Jude Trypho als Heilsbedingung dem »lustin stellt (Dial. 8):
1) soll man sich beschneiden lassen (5, 2), 2) die heiligen Zeiten
16*
244 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
(„den Sabbath und die Feste und die Neumonde Gottes") beob-
achten (4, 10), 3) ĂĽberhaupt das ganze Gresetz respectiren (3, 2 f).
Unklar bleibt dabei freiHch noch Manches^ so ganz besonders
die gegenseitigen Anschuldigungen, hier Pls predige selbst gelegent-
hch die Beschneidung (5, 11), dort die Beschnittenen seien selbst
nicht willens, ihre LebensfĂĽhrung dem Gesetze zu unterwerfen (6, 13
TrspiTSTiiYjiisvoL, währcud die Lesart 7r£ptT£[xvö[j.£voi auf Proselyten inner-
halb der Gemeinde hinzuweisen scheint). FĂĽgt man zu diesen con-
troversen Punkten noch die zahlreichen Probleme der Exegese —
Stellen wie 1, 10. 2, 4. 14 — 18. 3, 20 werden niemals eine Aus-
legung finden, bei der es sein Bewenden haben muss — so dürfte
Gal, scheinbar eines der durchsichtigsten StĂĽcke des NT, zu den
schwierigeren Räthseln desselben zählen.
3. Veranlassung und Inhalt des Briefes.
Als Pls schrieb, war noch keineswegs die Mehrzahl der Galater
abgefallen (1, 7. 3, 3. 4, 9. 17. 21. 5, 10) oder gar beschnitten
worden (5, 2. 3. 6, 12. 13). Nur an den jĂĽdischen Festzeiten hatte
man Gefallen gefunden (4, 10). Aber das eben erst der Natur-
religion entwachsene Christenthum der Galater war nicht reif fĂĽr
die GeistesreHgion (4, 8); viel einleuchtender erschien das iispov
eoaYYsXiov mit der Handgreiflichkeit seiner Forderungen und der
irdischen Geschichthchkeit seiner UrsprĂĽnge. So drohte der gering-
fĂĽgige Sauerteig bereits die Masse anzustecken (5, 9). Pls muss
fürchten, die Galater möchten den Geist vergeblich empfangen
haben (3, 4), vergeblich auch möchte seine Arbeit an ihnen ge-
wesen sein (4, 11). Fast sieht es aus, als mĂĽsse er wieder von
vom anfangen (4, 19). Daher das unmittelbare Eintreten in rem,
der leidenschaftliche Unmuth des Anfangs (1, 6. 3, 1), welcher erst
allmälig einer milderen Stimmung Raum gibt (4, 19. 20), während
er gegen die Verstörer sich fortwährend steigert (5, 7 — 12. 6,
12. 13); daher aber auch der Mangel alles weiteren Brieflichen
— keine Erkundigungen oder Nachrichten, keine Aufträge oder
GrĂĽsse.
Vielmehr ist der Brief schon im Eingang (1, 1 — 5) wie im
Schlüsse (6, 11 — 18) dem unmittelbar praktischen Zwecke dienstbar,
die galatischen Gemeinden von dem Abgrunde, an dessen Rande
sie stehen, zurĂĽckzufĂĽhren. Die Hauptmasse des Briefs wird her-
kömmlicher Weise nach den Gesichtspunkten der Theorie (1, 6 — 5,
12) und Praxis (5, 13 — 6, 10) geschieden. Aber im lehrhaften
Theil selbst haben Bauk (I, S 285) und Hilgenfeld (zuletzt Einl.
Der Brief an die Galater. 4. Datum des Briefes. 245
S 255 f) die historisch-apologetische Ausführung (1, 6 — 2, 21) von
der rehgionspliilosophischen ĂĽber die Stellung des Gesetzes inner-
halb der Heilsökonomie (3, 1 — 5, 12) getrennt. Da aber auch
5, 13 — 24 zur Abrundung; des lehrhaften Gehaltes das Seine bei-
trägt, resultirte zuletzt Dreitheilung des Briefes nach dem Schema
Holsten's (Zum Evglm des Paulus und des Petrus S 239 ; Prote-
stanten-Bibel S 711 f, 748; Pls I, 1, S 60 f; ähnlich auch Saba-
TiER S 119; vgl. auch Schaff S 5; Kahler S 22 f): 1) Beweis
des göttUchen Ursprungs des pauhnischen Evglms durch den Nach-
weis der Unmöglichkeit des Gegentheils auf historischem Wege
(1, 6 — 2, 21); 2) Beweis des Vollanrechtes der gläubigen Heiden
an dem Segen der Messiasverheissung durch Widerlegung der Be-
hauptung, dass das Erbe des messianischen Heils an Beschneidung
und Gesetz gebunden sei (3, 1 — 4, 1 1) ; 3) Beweis, dass die Lebens-
gerechtigkeit des Gläubigen durch den ihm verliehenen Geist von
innen heraus geweckt werde, im Gegensatz zu der vorgespiegelten
Nothwendigkeit emer durch Unterwerfung unter Beschneidung und
Gesetz herzustellenden Lebensgerechtigkeit (4, 12 — 6, 10).
4. Datum des Briefes.
Wahrscheinlich ist der Brief „bald" (1, 6) nach dem Act 18,
23. 19, 1 vorausgesetzten Aufenthalt seines Verfassers in Galatien,
also zu Ende 55 oder zu Anfang 56 entstanden, entweder noch auf
der Reise nach Ephesus oder in den ersten Zeiten des Aufenthaltes
daselbst.
Wollte man ihn frĂĽher sogar vor den Apostelconvent setzen (J. D
IVIicHAELis, Koppe, Keil, Schmidt), so soll er jetzt wenigstens noch auf der
2. INIissionsreise um 53 oder 54 entstanden sein, nach Hausrath vor der Ueber-
fahrt nach Macedonien (Pls S 267; Zeitgeschichte III, S 136), nach Schenkel
bald nach dem Aufenthalte in Philippi (Christusbild S 66, 225), nach Renan
zwischen der 2. und der dritten Reise (St.-Paul S. 313). DafĂĽr spricht, 1) dass
Gal 1, 18 f. 2, 1 f nur von zweimaliger Anwesenheit des bekehrten Pls in
Jerusalem die Rede ist, die Reise Act 18, 22 (indess möglicherweise so un-
historisch wie die 11, 30. 12, 25 erwähnte, die man bei der Combination von
9, 26. 15, 4 mit Gal 1, 18 f. 2, 1 f auch iguorirt) also noch in der Zukunft zu
liegen scheint; 2) dass nach Gal 2, 5 tva tj iX-rjö-eia toö eha-^-^tkioo 8ta|jLelvT(y npbq
6jxä? die galatischen Gemeinden zur Zeit des Apostelconventes schon bestanden
zu haben scheinen; 3) dass 2, 1. 13 Barnabas als den Gemeinden, die dann in
Lykaonien zu suchen wären (was freilich in Frage steht), als bekannt voraus-
gesetzt scheint (vgl. indessen 1 Cor 9,6). Jedenfalls sieht Pls Gal 4, 13 bereits
auf eine zweimalige Anwesenheit unter den Galatern zurĂĽck; fiele die 2. mit
Act 16, 4 zusammen, so hätte Pls damals die Leser schlechterdings mit den
Ergebnissen der kurz zuvor in Jerusalem gepflogenen Verhandlungen, deren
Objekt sie ja als Heidenchristen bildeten, bekannt machen mĂĽssen. Statt dessen
246 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
wird ihnen der ganze Handel 2, 1 f wie eine bisher unbekannte Neuigkeit mit-
getheilt (ohne otSaxe hi u. s. w.), und auch Stellen wie 1, 6 f. 3, 1 f. 4, 21 f.
5, 2 f erklären sich wenigstens leichter unter der Voraussetzung, dass den
Galatem die ganze Streitfrage neu war.
Ein zu spätes Datum ist es, wenn man den Brief in den letzten Zeiten
des ephesinischen Aufenthaltes (Schaff) oder auf der Reise nach Korinth
(LiGHTFOOT, Sanday) odcr gar in Korinth (Bleek) geschrieben sein lässt. Dafür
könnte man nur geltend machen die Verwandtschaft des Inhalts mit Rm und
dass die galatischen Verhältnisse 1 Cor 16, 1 noch geordnet erscheinen, während
die dort berĂĽhrte CoUecte fĂĽr Jerusalem Anlass bieten konnte zu der Be-
schuldigung des ct'^d'puiKooc, TTEi^stv 1, 10, was 2 Cor 5, 11 noch unbefangen ge-
schieht. Eine ganz eigenthĂĽmliche Combination vertritt Volkmar, dem zu-
folge der Brief sogar noch aus Antiochia, aber erst nach Act 18, 22 im Jahre
55 erlassen wäre (ThZSch 1885, S 39 f, 69). Seit Theodoret Hess man den
Brief sogar erst in Rom geschrieben sein, wie ihn denn noch Köhler (Versuch
ĂĽber die Abfassungszeit der epistolischen Schriften im NT 1830, S 125 f) und
ScHRADER (I, S 216 f) fĂĽr das letzte Werk des Pls hielten.
5. Echtheit.
B. Baüer's Kritik ist in selbstständiger Weise wieder aufgenommen und
weitergeführt worden von den Holländern A. Pierson (De bergrede S 98 f;
Verisimilia S 26 f) und A. D. Loman (vgl. oben S 192 f). Aufgeboten werden
Argumenta e silentio, neue Zurechtlegungen des marcionitischen Streites, neue
Ansetzungen clementinischer Schriften und vor Allem Umkehr der bisherigen
Auffassung des schriftstellerischen Verhältnisses zwischen Pls und Justin, um
zu beweisen, Gal sei um 120 in WeiterfĂĽhrung einer schon in Act angelegten
Pauluslegende entstanden. Vgl. dagegen Prins, De brief van Pls aan de Gala-
tiers tegenover de bedenkingen van Dr. A. Pierson 1879. BlĂĽm ThT 1879,
S 285 f. Schölten, Bijdragen 1882, S 29 f. W. C. van Manen ThT 1886,
S 319 f.
Die Briefe an die Korinther.
Specialcommentare von Billroth (1833), Rückert (1836—37), Osiander
(1847—58), MoNNERON (1851), A. Maier (1857—65), Neander (herausg. von
Beyschlag 1859), HĂĽlsten (vgl. oben S 241), G. Heinrici (Das erste Send-
schreiben des Apostel Paulus an die Korinthier 1880), A. Klöpper (Commentar
ĂĽber das zweite Sendschreiben an die Gemeinde in Korinth 1874), Stanley
(5. Asg 1882), Beet (1882, 3. Afl 1885), Lias (First epistle to the Corinthians
1886). Dazu P. W. Schmiedel EWK Sect II, 39, S 77 f. I. F. Räbiger
Kritische Untersuchungen ĂĽber den Inhalt der beiden Briefe des Apostels
Paulus an die korinthische Gemeinde 1847, 2 Afl. 1886.
1. Paulus in Korinth.
Korinth, die Hauptstadt der Provinz Achaia, war damals kaum
mehr eine specifisch griechische Stadt zu nennen. Einerseits wirkte
die römische Färbung der Neugründung (Colonia JuHa Corinthus)
stark nach, andererseits war Corinthus bimaris überhaupt Stätte des
Weltverkehrs geworden, und speciell asiatisch ist das Institut der
Die Briefe an die Korinther. 2. Die Parteien in Korinth. 247
heiligen Freudenmädchen (korinthische Aphrodite =- phönicische
Astarte). Auf diesem Boden hat der Apostel, der ihn mit eigen-
thümlichem Zagen betrat (1 Cor 2, 1 — 4), die tiefsten BUcke in
die sittHchen Zustände der von griechisch-römischer Bildung über-
zogenen Völker gethan. Nach Act 18, 4 — 6 hätte er sich mit seiner
Predigt an seine Volksgenossen, erst als sie ablehnten, auch an
Heiden gewandt, wogegen man u. A. als Argumentum e silentio
1 Cor 2, 1 f. geltend macht ^). Sicher besteht zur Zeit der Briefe
die Majorität der Gemeinde aus geborenen Heiden (1 Cor 6, 9. 10.
^10, 14—21. 12, 2. 2 Cor 6, 14—7, 1), darunter nur wenig Leute,
mit welchen man sich in der Welt sehen lassen kann (1 Cor 1,
26 — 28). Nach Act 18, 7 wäre ein grösserer Erfolg erst ein-
getreten, nachdem der Apostel seine Sache auch äusserlich von der
Synagoge getrennt und im Hause des Proselyten Justus eine Central-
stätte für seine Wirksamkeit gefunden hatte. MögHch, dass der jetzt
bekehrte Synagogenvorsteher Crispus Act 18, 8 in dem Täufling
1 Cor 1, 14 zu suchen ist. Auch nach 7, 18. 9, 20. 10, 32. 12, 13
hat es nicht ganz an jĂĽdischen Mitgliedern gefehlt. Jedenfalls war
Paulus vorsichtig, als ein weiser Baumeister (1 Cor 3, 10) an seine
Aufgabe in Korinth herangetreten. Anderthalb Jahre (Act 18, 11)
verwandte er auf ihre möglichst gründliche Lösung, so dass er dieser
Gemeinde gegenĂĽber sich so recht als Vater weiss (1 Cor 4, 15).
2. Die Parteien in Korinth.
Nachdem der Apostel mit Aquila und Prisca Korinth verlassen
hatte, traf mit letztgenanntem Ehepaar der Alexandriner Apollos in
Ephesus zusammen, wurde fĂĽr das pauhnische Christenthum gewon-
nen und mit Empfehlungsbriefen nach Korinth gesandt (Act 18,
24 — 27). Die kunstmässige und rednerisch ausgeschmückte Form,
in welcher er während des Apostels Abwesenheit seine Lehre vor-
trug, war der hellenischen Christengemeinde wahlverwandter, als die
herbe, schmucklose AVeise des Paulus (1 Cor 1, 17. 2, 1 — 5. 3, 1. 2).
Ohne Zweifel bewegte sich die neue Predigt vorzugsweise in alle-
gorischer und typologischer Schrifterklärung, während der Kern des
pauHnischen Evglms darĂĽber in den Hintergrund trat. In der That
erwiesen sich die Aufschlüsse, welche vermöge solcher Mittel der
AVissbegierde geboten wurde, so zugkräftig, dass nicht blos neue
Mitgheder gewonnen wurden, sondern auch in der Gemeinde selbst
das Ansehen des 2. Stifters wider den 1. und dann natĂĽrlich auch
Vgl. Heinbici S 7 f, 23 f. Holstbn S 186 f. Weizsäcker S 97,
1_
248 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
wieder das des alten Lehrers wider den neuen mit eifersĂĽchtiger
Leidenschaft geltend gemacht wurde. Unter allen Umständen kann,
da die Predigt des Apollos sich wenigstens nicht grundsätzlich von
derjenigen des Paulus unterschied (3, 5 — 9), der Gegensatz zwischen
Pauhnern und Apolloniern in erster Linie nur ein Gegensatz des Ge-
schmackes und der persönlichen Liebhaberei gewesen, eine Spannung
aber erst daraus geworden sein, nachdem Apollos einen Schauplatz
verlassen hatte, den er auch später nicht mehr aufsuchen mochte
(16, 12).
Grösseren Schwierigkeiten unterliegt die Beurtheilung der 3.
und namentHch der 4. unter den 1 Cor 1, 12 namhaft gemachten
Parteirichtungen, die sich nach dem Abgang des Paulus einstellten.
Sicher zwar ist folgender Thatbestand. Schon 1 Cor 4, 3. 18. 9,
I. 3 sind herabsetzende UrtheĂĽe ĂĽber den apostolischen Charakter
des Paulus berĂĽcksichtigt. Aber der Satz 1 Cor 9, 2 iq atppaYk (J-oo
T-^C aTToaroX-^c ojxei^ sais sv %opt(p muss 2 Cor 3, 2 nicht blos wieder
aufgenommen, sondern auch mit grösserem Aufwände von apologe-
tischen Mitteln bewährt werden. Denn es waren pharisäische Juden-
christen (2 Cor 11, 22) mit Empfehlungsschreiben (von Jerusalem)
versehen (3, 1) nach Korinth gekommen, um sich in den Wirkungs-
kreis des Paulus einzudrängen (10, 13 — 16), daselbst das Ansehen der
Urapostel (11, 5. 12, 11), die Nationalprärogativen Israel's (5, 12.
II, 18) zur Geltung zu bringen, die Nothwendigkeit eines hand-
greifHchen Offenbarungsglaubens (im Hintergrunde steht das mosaische
Gesetz 3, 6 f) gegenĂĽber dem dunkeln (4, 3) Evglm des Pls dar-
zuthun und ĂĽberhaupt dem Gemeindeleben daselbst die, ihrer An-
sicht zufolge allein zuverlässigen, Bürgschaften einer legitimen Ent-
wickelung erst mitzutheilen. Das eoa^Y^^tov srspov 11, 4 ist somit
dasselbe wie Gal 1, 6, und was von den galatischen Gegnern gesagt
ist (S. 243) gut auch von den korinthischen. Nur mit der Forde-
rung der Beschneidung hielten die letzteren noch zurĂĽck, um dafĂĽr
eine desto systematischere Opposition der Person des Heidenapostels
zu bereiten und ihn womöglich aus seinem Gebiete herauszudrängen
(10, 8. 11, 13—15).
Was sich fragt, ist blos dies, ob die Anhänger dieser importirten Oppo-
sition als ol TOD KYjcpä oder als ol toö Xptaxoö zu gelten haben. In jenem Falle
(so noch Räbiger, Bisping und Meyer) bleibt für Deutung des Bekentnisses
lyu) 5^ Xpiotoö ein weiter Spielraum offen, welcher seit 100 Jahren in der That
mit einem Walde von Hypothesen angepflanzt worden ist; vgl. die Acten des
erst durch Baur (vgl. oben S 187) bedeutsam gewordenen Streites bei H. Holtz-
MANN ZwTh 1885, S 233 f und bei Räbiger S 1 f). Einen trefflichen Wegweiser
durch das Dickicht würde allerdings die Erklärung 1 Cor 3, 22. 23 bieten, falls
Die Briefe an die Korinther. 3. Veranlassung u. Inhalt des 1. Briefes. 249
durch sie das letzte der 4 Bekenntnisse irgendwie als das richtige bezeichnet
wäre (so nach patristischem Vorgang Räbiger). Empfangen dagegen 1 Cor 1,
12 alle 4 Parteirufe gleiche "Werthung und fallen ol xoü Xpioxoö mit den Pau-
linern, Apolloniern, Petrinern unter dasselbe Gericht, so erscheint es angezeigt,
in oE xoü flexpou den jüdisch gefärbten Theil der von Pls selbst gesammelten
Gemeinde, im Verhältnisse zu den Christuslenten also die mildere judenchrist-
liche Richtung (de Wette, Wieseler, Reuss), die fanatischen Paulusgegner
aber in den Christusleuten zu finden (Beischlag), deren Bekenntniss nach der
Analogie des IlauXof), 'ATtoXXio, Kf](pä elvai zugleich auf irgendwelche empirische
Verbindung mit dem geschichtlichen Messias, vielleicht geradezu auf auxoTcxat xoö
xop'oo schliessen lässt (Thiersch, Hilgenfeld, Klöpper, Hausrath, Holsten,
Mangold, Schmiedel, Weizsäcker). Dass Jesus weder selbst das Gesetz ange-
griffen , noch seine JĂĽnger mit der Ausserkraftsetzung desselben beauftragt,
dass er das nationale Band nicht verleugnet und mit seiner Wirksamkeit sich
innerhalb der theokratischen Reichsgenossenschaft gehalten hat, war sonach ihr
Hauptargument gegen die Competenzen, die sich Pls zuschrieb. In diesem Sinne
will auch das Xp-.axoö elvai 2 Cor 10, 7 verstanden sein, welche Stelle die
Identität der 2 Cor 10 — 13 bekämpften Gegner mit den Christusleuten darthut
und dieselben als eine um palästinische Eindringlinge geschaarte Partei charak-
terisirt, deren Bösartigkeit der Apostel erst zwischen dem 1. und 2. Briefe voll-
kommen erproben sollte (xtvi«; 1 Cor 4, 18 = 2 Cor 10, 2. 12), so dass ihr
Signalement erst in diesem zu finden ist.
3. Veranlassung und Inhalt des ersten Briefes.
Aber auch davon abgesehen, war in Korinth lange nicht Alles
in Ordnung. Wie man in rĂĽcksichtsloser Ausdehnung des Anspruches
auf christl. Freiheit keinen Anstoss daran nahm, Einladungen zu
heidnischen Opfermahlzeiten anzunehmen (1 Cor 10, 27) und im
Tempel zu schmausen (8, 10), so mochte auch der christliche Sklave
sich gegen die auf ihm lastende Knechtschaft sperren (7, 21); die
Weiber aber bethätigten ihre zunächst auf religiösem Boden er-
folgte Emancipation im socialen Leben durch schleierlose Kopf-
tracht (11,2 — 15) und Redefreiheit in den Versammlungen (14, 34 — 36).
In Streitigkeiten ĂĽber das Eigenthum suchte man vor heidnischem
Tribunal Recht (6, 1), während sonst nicht nur die Synagogen-
gemeinschaft, sondern auch der griechische Cultverein solche Dinge
von sich aus zu erledigen Hebte. Die MateriaHen fĂĽr gemeinsame
Bundesmahle pflegte der Cultverein durch Beiträge der Genossen-
schaftsmitgheder zu beschaffen. Die korinthische Christengemeinde
schloss sich dieser Uebung in der Form an, dass dabei Jeder das
von ihm selbst Mitgebrachte ass, was nur zur Beschämung der die
Mehrheit bildenden Düi'ftigen ausfallen konnte (11, 17 — 34). Aber
auch manche Liebhabereien fĂĽr Spiel des Geistes und der Rede,
für mysteriöse Kundgebung und ekstatisches Wesen begleiteten die
aus den Heiden gesammelten Gläubigen in den neuen Stand her-
250 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
ĂĽber. Nicht blos die pneumatische Kraftprobe der GlossolaHe (12,
1 f . 14, 1 f ) wurde überschätzt, sondern auch, die begeisterte Rede
ĂĽberhaupt in einer Weise geĂĽbt, welche auf den ĂĽnbetheiligten den
Eindruck heiliger Raserei machen konnte (14, 23). Allenthalben
gingen die Korinther ihre eigenen Wege und setzten sich gleich-
gĂĽltig ĂĽber das hinaus, was als ĂĽbereinstimmende Sitte der ĂĽbrigen
Christenheit (11, 16. 14, 33. 36), als apostolische Ueb erlief erung
galt (11, 2. 23. 15, 1). Selbst den gemeinschaftlichen Glauben an
die zukĂĽnftige Auferstehung bedrohte hellenische Dialektik mit Auf-
lösung (15, 12). Schon dies, noch mehr aber die altgewohnte
Zuchtlosigkeit in geschlechtlicher Beziehung, welcher ja die geborenen
Heiden bisher unbefangen gehuldigt hatten und nunmehr schwer
entsagen mochten (5, 9—11. 6, 12—19. 2 Cor 6, 14—18. 12, 21),
konnte nur dazu dienen, des Apostels Geistes- und Freiheitsevglm
in den Augen der an Zucht- und Familienordnung gewohnten Juden-
christen zu compromittiren. Schon einmal hatte er desshalb von
Ephesus aus eine schriftliche Mahnung zur Keuschheit an die Ge-
meinde ergehen lassen (1 Cor 5, 9). Nachher erfuhr er von einem
in Korinth vorgekommenen, besonders ärgerlichen Fall, dass näm-
lich Einer mit seiner Stiefmutter in verbotenem Umgang lebte (5, 1).
Zugleich erhielt er auch Kunde von dem verheerenden Parteiwesen,
und zwar durch das Gesinde der Chloe (1, 11). Die stärksten Auf-
forderungen zu einer neuen Ansprache an die Gemeinde bot endlich
ein Brief, welchen die Gemeindeversammlung an den Apostel ab-
fassen und wahrscheinhch durch Stephanas, Achaicus und Fortunatus
ĂĽberbringen Hess (16, 17). Denn dieser Brief, wiewohl offenbar in
grosser Selbstgefälligkeit darauf hinzielend, dem Apostel einen sehr
hohen Begriff von der christl. Einsicht und Freiheit der Gemeinde
beizubringen, konnte doch nur den Erfolg haben, die tiefgehenden
sittUchen Schäden, daran sie litt, vollends blos zu legen. Zunächst
waren des Apostels Forderungen in seinem frĂĽheren Briefe ĂĽber-
spannt worden , um mit der Möglichkeit auch die Pflicht ihrer Be-
folgung um so zweifelhafter erscheinen zu lassen (5, 9 — 11). Daran
schlössen sich Anfragen zunächst bezüglich ehelicher Verhältnisse
(7, 1 TTEpl §£ wv k((A^0Lze) , dann bezüglich des Götzenopferfleisches
(8, 1 Tuepi 81 Twv stöwXo^UTwv) , bezüglich der Geistesgaben (12, 1
TTspl §e zm 7rv£ü{xaTixto)v) , bezüghch der CoUecte (16, 1 Tuspl Ss rr^c
XoYia(;) und bezĂĽglich der RĂĽckkehr des Apollos (16, 12 irspl 8k
'AttoXXw TOD aSsX^oö). In den meisten dieser Fälle lagen Streitfragen
vor, bezüglich welcher die Majorität sich kurzer Hand die Zustim-
mung des Pls zu ihrem keineswegs sehr rĂĽcksichtsvollen Verhalten
Die Briefe an die Korinther. 4. Veranlassung u. Inhalt des 2. Briefes. 251
ZU verschaffen gedachte. Alle diese Vorkommnisse und Zustände
boten Veranlassung genug, nicht blos den Timotheus nach Korinth
zu senden (4, 17. 16, 10 ; vgl. Act 19, 22), sondern auch den zurĂĽck-
kehrenden Gesandten das Schreiben mitzugeben, welches sonach noch
in Ephesus abgefasst worden ist (1 Cor 16, 5. 8. 19).
Auf Gruss (1, 1 — 3) und Eingang (1, 4 — 9) folgt sofort die
Besprechung und Verurtheilung des Parteiwesens (1, 10 — 4, 21),
verbunden mit der Vertheidigung der kunstlosen Weise, in der Pls
das Evglm predigt , und mit ZurĂĽckfĂĽhrung so verdriesslicher
Irrungen und Spaltungen auf den falschen Stolz, welcher sich selbst-
gewählter Führer zu rühmen liebt. Solche Ueberhebung um so
vollständiger zu dämpfen, dient eine Erinnerung an die schreiendsten
Uebelstände, an welchen das Gemeindeleben der Korinther litt.
Der Apostel verlangt ernste Bestrafung des Blutschänders (5, 1 — 8)
und berĂĽhrt zugleich die schlechte Ausrede, womit die Gemeinde
sich seinen frĂĽheren Mahnungen , den Umgang mit UnzĂĽchtigen ab-
zubrechen, zu entziehen versucht hatte (5, 9 — 13). Anschliessend
hieran missbilligt er auch das Laufen vor heidnische Gerichte
(6, 1 — 11). In eine allgemeine Rüge der eingerissenen sittlichen
Erschlaifung läuft dieser erste Theil aus (6, 12 — 20). Der allgemeine
Charakter desselben bestand darin, dass lauter Uebelstände zur
Sprache gebracht wurden, die dem Apostel auf mĂĽndlichem Wege
kund geworden waren, Beziehungen auf schriftliche Aeusserungen
der Gemeinde nur ausnahmsweise vorkamen (5, 10. 6, 12). Das
umgekehrte Mischungsverhältniss hat im 2. Theile statt, wo der
Apostel den Gemeindebrief zur Hand nimmt, um ihn Punkt fĂĽr
Punkt zu beantworten: 1) Ehefragen (7, 1 — 40); 2) das Götzen-
opfer (8, 1 — 11, 1); 3) die Gemeindeversammlungen (11,2 — 14, 40),
wobei zuerst (11, 2 — 16) und zuletzt (14, 34 — 36) die Stellung der
Frauen, hauptsächlich aber das Herrenmahl (11, 17 — 34) und die
pneumatische Rede (12, 1 — 14, 33) Behandlung finden ; 4) die Auf-
erstehung der Todten, die einzige dogmatische Darlegung des Send-
schreibens (15, 1 — 58); 5) die Collecte (16, 1—4) mit angehängten
Reiseplänen (16, 5 — 11); 6) Rückkehr des Apollos (16, 12), woran
sich allerlei Briefliches knüpft (16, 13— -24.)
4. Veranlassung und Inhalt des zweiten Briefes.
Das eben skizzirte Sendschreiben sollte dem bereits abgereisten
Timotheus noch zuvorkommen (16, 10) und kurz vor der Osterzeit
58 in Korinth eintreffen (5, 7). Nach Pfingsten bricht Pls selbst
von Ephesus auf (16, 8j. Noch im Herbste desselben Jahres (nach
252 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
jĂĽdischer oder macedonischer Rechnung zu Beginn des folgenden/
vgl. 2 Cor 8, 10), ist das 2. Sendschreiben abgefasst und zwar in
Macedonien (2, 13. 7, 5. 8, 1. 9, 2. Act 20, 1), wo Pls den Som-
mer zubrachte, um in Korinth zu ĂĽberwintern (1 Cor 16, 6). Vor-
her sollte aber dieser zweite Brief daselbst anlangen. Mit Ueber-
bringung war derselbe Titus beauftragt (2 Cor 8, 6. 16-24), der ihn
auch durch direct an den Apostel gebrachte Nachrichten veranlasst
hatte (7, 5. 6). Der Aufenthalt dieses Geschäftsträgers in Korinth
war von Erfolg begleitet gewesen. Aus zahlreichen Wendungen er-
hellt, dass die grosse Mehrheit der Gemeinde sich dem Apostel
ergeben erwiesen hatte (2, 3. 5. 3, 2. 6, 11—13. 7, 4. 7—16. 9, 2);
die Gegner erscheinen als wenige und fremde (3, 1. 10, 2. 7. 11.
12. 11, 4. 13. 21 f), bei deren Schilderung er zu einem ihm be-
freundeten Leserkreis spricht (11,2. 11. 12, 11 — 19). Eingeschüchtert
aber waren sie darum noch keineswegs. Zwischen ihnen und Pls
handelt es sich jetzt um Sein oder Nichtsein. Feindseligste Angriffe
gelten ebenso seiner persönlichen Würde wie seiner apostolischen
Machtvollkommenheit. Ein VerfĂĽhrer sollte er sein (6, 8), der alles
nur aus sich selbst schöpfe (3, 5), sich selbst predige (4, 5) und empfehle
(3, 1. 4, 2. 5, 12. 6, 4. 10, 12). Mit Berufung auf seine Christus-
vision und auf seine Ekstasen bezeuge er sich nur als einen ĂĽber-
spannten Thoren (5, 13. 11, 1. 16. 12, 1 — 7). Nur in seinen Brie-
fen, nicht aber in seiijem persönHchen Auftreten wisse er zu impo-
niren (10, 1. 9 — 11. 11, 6. 21). Brieflich werfe er sich zum Herrn
des Glaubens der Gemeinde auf (1, 24); ja er gebrauche seine
Macht wie zum Verderben einzelner Glieder (7, 2), so zur Zerstö-
rung des Ganzen (10, 8. 13, 10) — Letzteres mit Beziehung auf die
den SĂĽndern angedrohten Gottesurtheile (1 Cor 5, 4. 2 Cor 13, 2),
wobei man andererseits wieder auf die mangelnde Fähigkeit hinwies,
die Worte mit entsprechenden Thaten zu bekräftigen (13, 3. 6). Im
Zusammenhang damit fĂĽhrte man es auf Feigheit und ZweizĂĽngigkeit
zurĂĽck, wenn sein angekĂĽndigter Besuch in Korinth immer wieder
hinausgeschoben wurde (1, 15 — 23). Zu allen diesen, als Signale-
ment seines Bildes ausgestellten, ZĂĽgen sollte evidenter Mangel an
solider BegrĂĽndung seiner amtlichen AnsprĂĽche eine Kehrseite von
gleich werthlosem Gepräge bilden. Schien er doch die Schäden seines
Apostelrechts selbst zu empfinden und einzugestehen, wenn er, auf
seine Befugniss, Unterhalt von der Gemeinde zu nehmen, ver-
zichtend, lieber von seiner Hände Arbeit lebte (1 Cor 9, 1 — 14.
2 Cor 11, 7 — 12), wobei diejenigen, welche für ihre Person einer
bequemeren Praxis huldigten, ja nach des Pls ĂĽrtheil die Gemeinde
Die Briefe an die Korinther. 4. Veranlassung u. Inhalt des 2. Briefes. 253
aussaugten (11, 20), sich nicht scheuten, ihn zu verdächtigen, als
halte er sich dafür an der Collecte schadlos (12, 16 — 18).
In dem so veranlassten Briefe sehen wir desshalb den Apostel
mit der Feststellung seines erschĂĽtterten apostolischen Ansehens,
mit Yertheidigung seines persönlichen Charakters , mit Entwaffnung
unversöhnUcher Feinde beschäftigt. Man merkt, wie viel ihm an
Erhaltung der Position gelegen ist, welche er in Korinth errungen
hatte. Das Sendschreiben will daher die Gemeinde auf die jetzt
endlich bevorstehende Ankunft des lange entfernt Gewesenen vor-
bereiten, sie in diejenige Verfassung bringen, welche er vorfinden
musste, wenn seine Ankunft nicht das Signal zum Ausbruche leiden-
schaftUcher Erörterungen von unberechenbarem Verlaufe werden
sollte. Der Plan des Briefes liegt darum ausgesprochen in der
Bemerkung 10, 6 ev ÂŁTOt[i({) s^ovcs? iY.8i%fpoi'. :raoav TcapaxoYJv, otav
tcXyjpcdO"^ 6[jlc()v ri oTiazoT]. Der Erreichung des letzteren Zweckes
sind die sieben ersten Kapitel gewidmet, beginnend mit Gruss (1, 1. 2)
und Dank für Bettung aus schwerer Lebensgefahr (1, 3 — 11), fort-
schreitend zu Auseinandersetzungen wegen Abänderung seines Beise-
planes (1, 12 — 2, 4), dann Befriedigung aussprechend über die Er-
ledigung eines peinlichen Falles, der leicht Anlass zu gänzHchem
Bruche zwischen dem Apostel und der Gemeinde hätte geben können
(2, 5 — 11); hierauf in reicher Ausführung gegenüber allen Verun-
glimpfungen der Menschen, ja selbst gegenĂĽber allen Erniedrigungen
des Geschicks die Hoheit des apostohschen Amtes feiernd, wie es
Pls führt (2, 14—7, 1); zurückkehrend endlich zu dem Ausgangs-
punkte (2, 12. 13), den Nachrichten , die Titus brachte, und auf
Grund derselben die volle Versöhnung des Apostels mit der Ge-
meinde constatirend (7, 2— 16).
Die 2. Hälfte des Briefes zerfällt in 2 ungleiche Theile (Kap. 8,
9 und 10 — 13). Aus guten Gründen (vgl. 12, 16 — 18) wird das
Collectenwerk, welches immer noch lässig betrieben worden war
(8, 16 f. 9, 4 f), nicht wie 1 Cor 16, 1 — 4 am Schlüsse, sondern
schon im 8. und 9. Kap. empfohlen. Erst nachdem so zwischen ihm
und der Gemeinde Alles bereinigt , die Gegner aber isolirt worden
waren, holt der Apostel wider diese zu einem letzten Hauptschlag
aus in den 4 Schlusskapiteln, welche das AffectvoUste enthalten,
was er jemals geschrieben hat ; hier entladen sich die gewitter-
schwangeren Wolken , welche schon im 1. Theil zuweilen (2, 17.
3, 13. 4, 2. 4. 5, 12) wie im Wetterleuchten geglĂĽht hatten. Leider
fehlen uns directe Nachrichten ĂĽber den Erfolg dieser gewaltigen
Schutz- und Trutzrede.
254 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
5. Verhältniss der beiden Briefe zu'einander.
Unsicher geblieben sind die Entstehungsverhältnisse der Korin-
therbriefe nur, wenn man sie in ihrem gegenseitigen Verhältniss auf-
fasst, während die Situation, welcher jeder für sich genommen ent-
stammt, vöUig klar erscheint.
In jener Beziehung bewegt sich eine lebhafte, und noch immer nicht ab-
geschlossene Debatte (vgl. die Acten derselben bei H. Holtzmann ZwTh 1879,
S 455 f) um folgende Fragen:
1) Ist Timotheus, der 1 Cor 4, 17. 16, 10. 11 nach Korinth gehen und
wieder zu Pls zurĂĽckkehren soll, auch 2 Cor 1, 1. 19 bei ihm ist, wirklich dort
gewesen? 2 Cor berichtet darĂĽber nichts und so leugnen Schmidt, Bertholdt,
Schleiermacher, Neander, Credner, RĂĽckert, de Wette, Maier, Hausrath,
Davidson die Ausrichtung seiner Mission.
2) Sollte gleich dem 1 Cor 5, 9 erwähnten Brief nach Korinth, welchen
übrigens Hilgenfeld und Franke (StKr 1884, S 544 f) in 2 Cor 6, 14—7, 1
wenigstens zum Theil erhalten sehen, ein 2. verloren gegangen sein, der zwischen
unseren beiden erhaltenen geschrieben und 2 Cor 2, 4. 7, 8. 9. 12 gemeint wäre ?
Derselbe mĂĽsste u. A. zur EinfĂĽhrung und Beglaubigung des Titus gedient haben.
So Olshausen, Credner, Neander, Beyschlag, Ewald, Reuss, Godet, van Rhijn
und die sub 3 und 4 zu Nennenden.
3) Bezog sich dieser Zwischenbrief auf den 1 Cor 5, 1 f berĂĽhrten Fall,
so dass es sich um Ausführung oder Sistirung des 5, 3 — 5 vorgeschriebenen
Verfahrens handelt (Bleek, Krenkel, Eylau, Klöpper, Davidson, Meyer),
oder auf eine völlig neue Situation, als deren Kern eine offene Schmähung des
Apostels in der Gremeindeversammlung resultiren wĂĽrde?
4) Kann überhaupt 2 Cor 2, 5 — 8. 10 den Blutschänder betreffen? Ist
der äSixTj^ei? 7, 12 der Vater des Blutschänders oder nicht vielmehr Pls selbst,
der 2, 5 — 11 Verzeihung für jene Beleidigung anbietet? Letzteres nach Mangold,
Hilgenfeld, Weizsäcker und Schmiedel.
5) War Titus, welchen Pls nach Korinth gesandt hatte und auf seiner
RĂĽckkehr zwar nicht in Troas 2, 13, dafĂĽr aber in Macedonien, 7, 5. 6 auch
wirklich antraf, und dessen Nachrichten den 2. Brief veranlasst haben, mit dem
er abermals nach Korinth geht (8, 6. 17), schon vor diesen beiden Reisen ein-
mal dort gewesen (so Schrader, Billroth, J. G. MĂĽller einerseits, Hausrath
und Schmiedel andererseits), oder fällt 12, 18 mit der 7, 6 f. 14 f erwähnten
Reise zusammen?
6) Geht die 2 Cor 10—13 vorausgesetzte Situation der im übrigen Briefe
erkennbaren voraus, so dass der sub 2 in hypothesi erschienene Zwischeubrief
in jenen Kapiteln (Hausrath's „Vierkapitelbrief" 1870, im Wesentlichen ver-
treten auch von Schmiedel) wieder zu erkennen wäre?
7) Ist die 1 Cor 16, 1 — 4 angeordnete, nach 2 Cor 8, 6 von Titus in's
Werk gesetzte CoUecte auch 12, 16—18 gemeint? Und ist letztere Stelle mit
7, 2 als in Einem Briefe stehend denkbar? Jenes leugnet Schulze, dieses
Hausrath.
8) Ist zwischen 1 Cor und 2 Cor etwa auch wieder ein Gemeinde-
Bchreiben der Korinther an Pls anzunehmen, gleich dem 1 Cor 7 — 16 erledigten?
So Bleek und Hofmann.
Die Briefe an die Korinther. 5. Verhältniss der beiden Briefe zu einander. 255
9) Nöthigt trotzdem, dass 1 Cor 2, 1 blos eine einzige frühere Anwesen-
heit des Pls in Korinth, nämlich die 17? jährige Act 18, 11, vorausgesetzt
scheint und Pls im 1. Brief ĂĽberhaupt von den Korinthem durch mĂĽndhche
und schriftliche Mittheilungen, nicht aber durch erneute eigene Anschauung
Kunde hat, der 2. Brief zur Annahme einer in Act nicht erwähnten Anwesenheit
des Apostels in Korinth? So wegen 2 Cor 2, 1. 12, 14. 21. 13, 1. 2 (vgl. auch
1 Cor 16, 7) Bleek, Wurm, Schneckenburger, J. Gr. MĂĽller, Osiander, W. Grimm,
VoLKMAR und die sub 10 zu Nennenden.
10) Hatte dieser von Reiche, Lange, de Wette, Baur, Märcker, Schölten,
Renan, Hilgenfeld, Heinrici und Davidson ĂĽberhaupt geleugnete Zwischen-
aufenthalt in der Zeit Act 18, 11 (Michaelis, J. E. Chr. Schmidt, Schott, Anger,
Völter) oder in der Periode Act 19, 10 und zwar vor 1. Cor (Schrader,
Ne ander, Credner, Billroth, Olshausen, RĂĽckert, ReĂĽss, Wieseler, Otto,
Schenkel, Hofmann, Meyer, Hausrath, Klöpper, Holsten, Schmiedel) oder
endlich zwischen 1 Cor und 2 Cor (Ewald, Weizsäcker, Eylau, Krenkel, Hagqe,
Weiffenbach, Mangold) statt?
11) Hat Pls vor 1 Cor, sei es im 5, 9 erwähnten Brief, sei es mündlich,
durch Timotheus ein baldiges directes Kommen nach Korinth angekĂĽndigt,
welchem Plan er nachträglich 1 Cor 16, 5 — 7 die Landroute über Macedonien
vorzieht, so dass eĂźouXofjLviv 2 Cor 1, 15 ĂĽber die Abfassung von 1 Cor 16, 5
hinaus und auf den 1. Reiseplan zurĂĽckgreift, der im Gegensatz zu 1 Cor 16, 5
den Besuch in Macedonien nur als einen von Korinth unternommenen Ausflug
(2 Cor 1, 16) darstellte? So die gewöhnliche Auffassung gegen Hausrath,
Schmiedel und Mangold, welche 1 Cor 16, 5 — 7 den ursprüglichen Plan finden,
bezüglich des Verhältnisses von 2 Cor 1, 15 zu 12, 14. 20. 21. 13, 1 aber ver-
schiedenartige, unter sich differirende Combinationen treffen.
12) Stellt 2 Cor 10 — 13 den vorausbedachten Schlusstheil des Briefes
dar, oder ist derselbe dem Apostel nur gleichsam unter der Hand erwachsen
(Ewald), wenn er nicht gar ursprünglich ein selbständiges Schreiben dargestellt
hat (Semler, Mich. Weber, Weisse, Davidson)?
Soweit diese Fragen ĂĽberhaupt mit einiger Sicherheit beant-
wortet werden können, mag als leitende Directive die Beobachtung
der engen Zusammengehörigkeit beider Briefe gelten. Allzuviele
Zwischenereignisse werden undenkbar, wenn doch 2 Cor 1, 8 — 10.
2, 12. 13 sich unmittelbar an die Situation 1 Cor 16, 8. 9 an-
schliesst , wenn ferner 2 Cor 1, 12 auf 1 Cor 2, 4 — 14, ebenso
2 Cor 1, 13—17. 23 auf 1 Cor 16, 5 zurücksieht, wenn 2 Cor
1, 17. 23. 10, 1. 2. 10. 11 den Ton von 1 Cor 4, 18-21 fortsetzt,
wenn 2 Cor 1, 24, tq ^ap TUiaret sonjxaTe den Erfolg der Ermah-
nung 1 Cor 16, 13 nnrixeTE ev tq niozBi bezeugt, wenn der Ausdruck
a^vö«; Iv T(j) 7cpdY{jLaTt 2 Cor 7, 11 auf lOiauiT] Tropveta 1 Cor 5, 1
zurückweist, wie Iv TrpoowTrq) Xptaxoö 2, 10 auf Iv T(j) ovcftatt toö
xopioo Yjiwv 'iTjaoö 1 Cor 6, 4 und speziell der Satan 2 Cor 2, 11
auf 1 Cor 5, 5, das tcsv^eiv 2 Cor 12, 21 auf 1 Cor 5, 2, so dass
auch ToioöToc 2 Cor 2, 6. 7 mit totoOroc 1 Cor 5, 5 und xiq 2 Cor 2, 5
256 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
mit TIC 1 Cor 5, 1 identisch sein wird, ĂĽberhaupt die Selbigkeit des
ganzen Hintergrundes von Vorgängen, Stimmungen und Interessen
fast als erwiesen gelten kann.
Der Brief an die Römer.
Specialcommentare von Tholuck (1824, 5. Afl 1856), Klee (1830), Benecke
(1831), Paulus (vgl. oben S 241), Rückert (1831, 2. Asg 1839), Reiche (1833—34),
Glöckler (1834), KÖLLNER (1834), Stengel (1836, 2. Afl 1854), C. F. A. Fritzsche
(1836—43), Nielsen (deutsch von A. Michelsen 1843, 2. Afl 1856), Baumgarten-
CrusiĂĽs (1844), Krehl (1845), Reithmayr (1845), Philippi (1848, 3. Afl 1866),
VAN Hengel (1854-59), Umbreit (1856), Hodge (1856), Jowett (vgl. oben S 233),
Th. Schott (1858), Arnaud (1863), Ortloph (1865— 66),Volkmar (1875), M. Stuart
(3. Asg 1876), GoDET (1879, 2. Asg 1883, deutsch von Wunderlich 1881- 82),
Oltramare (1881— 82), Ch. Hoffmann (Bibelforschungen, 2 Bde 1882—84), E. Otto
(Bibelstudien 1883), Riddle (1884), J. T. Beck (1884), Beet (5. Asg 1885),
C. W. Otto (1886), E. Böhmer (1886). Dazu Holsten, JprTh 1879, S 95 f,
314 f, 680 f. 0. Pfleiderer ebend. 1882, S 506 f. Gräfe, Ueber Veranlassung
und Zweck des Römerbriefes 1881. W. Mangold, Der Römerbrief und die
Anfänge der römischen Gemeinde 1866-, Der Römerbrief und seine geschicht-
lichen Voraussetzungen 1884. Lorenz, Der Römerbrief 1884; Das Lehrsystera
im Römerbrief 1884.
1. Datum und Inhalt.
Den "Winter des Jahres, in welchen beide Korintherbriefe fallen,
verbrachte Pls in Korinth (Act 20, 2. 3) und schrieb, wahrschein-
lich gegen FrĂĽhjahr 59, im Hause des von ihm selbst getauften
Gajus (Rm 16, 23 = 1 Cor 1, 14) unseren Brief. Auch dadurch,
dass die 1 Cor 16, 1-3. 2 Cor 9, 4 bestellte Collecte Rm 15, 26
vollendet erscheint und sowohl Rm 16, 21 als Act 20, 4 Timotheus
und Sosipater (Sopater) in der Umgebung des Pls erscheinen, ist
die Situation, welcher der Brief angehört, gesichert (vgl. Bleek
S 535 f. Schenkel BL V, S 115. Wieseler, Zur Geschichte der
neutest. Schrift und des Urchristenthums 1881, S 91 fj.
Der Brief trägt mit Ausnahme des Schlusskapitels den Cha-
rakter eines Sendschreibens und zerfällt in 2 Hauptmassen (Volkmar:
„Heilsbelehrung" und „Heilsermahnung"), welche durch a{j.YJv 11, 36
und den neuen Anfang 12, 1 deutlichst geschieden sind. Aber auch
die 11 Kapitel des lehrhaften Haupttheiles zerfallen in 2 ungleiche
Theile, sofern die 8 ersten Kapitel und dann wieder die 3 folgen-
den sich enger zusammenschliessen^). Der Eingang (1, 1—17) läuft
*) Als Proben verschiedener Formulirungen des Gegensatzes mögen hier
auftreten Mangold: Rechtfertigung der Heilslehre und der Mi;:sionspraxis des
Apostels ; Holsten : Rechtfertigung des Inhaltes und des Erfolges seiner Heils-
predigt; Pfleiderer: dogmatische und geschichtliche Exposition.
Der Brief an die Römer. 1. Datum und Inhalt. 257
aus in thematischer Charakterisirung des paiiUnischen Evgbns als
56va[JLi<; d-BOĂĽ st? awt'/jpiav Tudvct T(j) TĂĽLarsDOvri (1, 16) und Aufstellung
der StxatoaDVY] -O-soö Ix Triarso)? biq Tütaiiv (1, 17) als Kern und Wesen
desselben. Diese Gottesgerechtigkeit aus Glauben, nicht aus Wer-
ken, wird begrĂĽndet und gerechtfertigt gegenĂĽber den Einwendungen,
welche sich dem jüdischen Be^vusstsein dagegen zunächst vom reli-
giösen (1, 18 — 5, 21), dann auch vom sittlichen Standpunkte aus
(6, 1 — 8, 39) aufdrängen müssen. Die 1. Gruppe beschreibt das
neue Heilsprincip der Gottesgerechtigkeit gemäss seiner Voraus-
setzung, der allgemeinen Sündhaftigkeit (1, 16—3, 20), als einen
Universahsmus der Gnade (3, 21-30), für dessen Wahrheit (ähn-
lich Avie Gal 3, 1 — 4, 7) eine dreifache Beweisführung erfolgt: aus
den Zeugnissen der alttest. Heilsgeschichte (Rm 3, 31 — 4, 25), aus
den Erfahrungen des christl. Gemüths (5, 1 — 11) und aus der all-
gemeinen Entwickelungsgeschichte der Menschheit, die in Adam und
Christus ihren beherrschenden Angelpunkt hat (5, 12—21). Aber
auch den ethischen Forderungen genĂĽgt die paulinische Heilslehre ;
daher in der 2. Gruppe zuerst die Forderung, als mĂĽsse die Frei-
heit vom Gesetz eine Freiheit zur SĂĽnde sein , zurĂĽckgewiesen
(6, 1 — 7, 6), sodann der aus der vorausgesetzten Zusammengehörig-
keit von SĂĽnde und Gesetz gezogene Schluss, dass Pls letzteres
selbst zur Sünde mache, widerlegt (7, 7 — 25), endlich aber gezeigt
wird, dass das Evglm sich gerade auch in Bezug auf die sitthche
Aufgabe als Suvai^tc si<; awTYjfjiav erweise (8, 1 — 39). Aber nicht
blos am Inhalt, sondern auch an dem thatsächlichen Erfolg der
paulinischen Predigt musste das Judenchristenthum Anstoss nehmen,
sofern derselbe mit einer schweren Schädigung des auserwählten
Volkes verbunden war. Daher wird dieser Erfolg, Massenbekehrung
unter den Heiden, Zurückdrängung Israels in die Minorität, nach-
dem ihn Pls mit Schmerz constatirt (9, 1 — 5), zuerst vom Stand-
punkte des göttlichen Determinismus aus gerechtfertigt (9, 6—29),
dann aber als Ergebniss einer Verschuldung Israels begreiflich gemacht
(9, 30 — 11, 10). Zum Schlüsse wird der so harte ßathschluss
Gottes, der zeitweilige Verwerfung mit sich fĂĽhrt , auf einen , die
Beseligung Aller erzielenden, Heilsrath zurĂĽckgefĂĽhrt, so dass auch
Pls mit seiner Heidenmission nur im Interesse seines Volkes han-
delt, welches dadurch zur Eifersucht gereizt werden und Rettung
finden soll (11, 11—36). Wie das Evglm sich als 8üva|xtc ek ocDnr]-
fviav auch im Leben der Gemeinde bewährt, zeigt der praktische
Theil, der das Prinzip der christl. Heiligung an die Spitze stellt
(12, 1. 2), sodann in 2 Hauptabschnitten (Lorenz: christhche Moral
Hol tz mann, Einleitang. 2. Anflago. j<9
258 Besonderer Theil. Die paulinisclien Briefe.
und christliche Toleranz) erstlich das Verhalten der Gläubigen
untereinander (12, 3—16) und zur Welt (12, 17—13, 10) regelt,
woran sich eine Schlussermahnung zur Selbstzucht knĂĽpft (13, 11 - 14),
zweitens aber eine specielle, auf Ausgleichung innergemeindlicher
Differenzen gerichtete, Ermahnung bietet (14, 1—15, 13). Den
Epilog bilden persönliche Bemerkungen (15, 14 — 33), Empfehlungen
(16, 1. 2) und Grüsse (16, 3—16), Warnung vor Irrlehrern (16,
17 — 20), Erwähnung der grüssenden Umgebung (16, 21 — 23) und
Schlussdoxologie (16, 24—27).
2. Die Leser.
Die berĂĽhmte Debatte ĂĽber den Juden- oder heidenchristlichen Charakter
der Mehrheit (nur darum handelt es sich zur Zeit noch) der römischen Gemeinde
hat mehrere Stadien durchlaufen. Das altherkömmliche Urtheil lautete auf
Heidenchristenthum. Nur Koppe (NT perpetua annotatione illustratum, Bd 4,
3. Afl 1824, S 13) hatte die Gremeinde für judenchristlich erklärt, welches Urtheil
Baur (zuerst ZTh 1836, 3, S 114) wieder aufiiahm und neu begrĂĽndete. Nach-
dem ihm ScHWEGLER, Reuss, Krehl, Thiersch, van Hengel gefolgt waren,
schien diese Annahme in Folge der ersten Arbeit von W. Mangold (1866)
längere Zeit über das Feld siegreich zu behaupten; gegen einzelne Anhänger
der traditionellen Annahme, wie Hofmann, Riggenbach, Wieseler, Philippi und
DiETZscH standen jetzt kritische Theologen wie Straatman, Rovers, Seyerlen,
Krenkel, Luoht, conservative wie K. Schmidt, Th. Zahn, Historiker wie Renan,
Hausrath, H. Schiller, aber auch, wiewohl mit entschiedener Betonung des
blosen Majoritätsverhältnisses, Volkmar, Lipsiüs, Sabatier, Ritschl, Holsten,
Schenkel, Weiffenbach, E. Otto. Ein Rückschlag erfolgte durch Weizsäcker's
Eintreten zu Gunsten der alteren Beurtheilung , wobei jedoch eine juden-
christHche Minorität anerkannt blieb (JdTh 1876, S 248 f). Ebenso votirten
A. Harnack, Neubaur, GtOdet, Oltramare, "Weiss, Bleibtreu, 0. Pfleiderer,
J. T. Beck, Lechler, Gräfe, Schlatter (StKr 1886, S 582 f), in Hitzig's
Nachfolge auch Kneücker (Die Anfänge des römischen Christenthums 1881,
S 9, 11, 47), während Mangold (1884) und Hülsten (PrK 1885, S 195 f)
ihren Standpunkt behaupteten. Eine Vermittlung ist in dem Sinne einer Unter-
scheidung zwischen nationalem Charakter und religiöser Richtung versucht
worden. Die Leser sollen nach Beyschlag (StKr 1867, S 627 f; HbA S 1153),
dem sich modificirend Kneucker (S 23 f) anschliesst, Proselyten, also geborene
Heiden (so schon de Wette, auch Joseph Langen, Geschichte der römischen
Kirche bis zum Pontificat Leo's I, 1881, S 24 f, 33), aber nicht umsonst durch
die Schule des Judenthums hindurchgegangene Heiden, also wesentlich judaistisch
denkende Proselyten gewesen sein. Aehnlich H. Schultz (JdTh 1876 S 105),
während zwischen Beyschlag und Weizsäcker vermittelnd Schürer das Problem,
ein nicht-jüdisches Christenthum vorstellig zu machen, das von Pls unabhängig
entstanden und auch nicht im Besitze der prinzipiellen Sicherheit des gesetzes-
freien Standpunktes gewesen sei, zu lösen sucht durch Hinweis auf die freiere
Stellung der hellenistischen Diaspora zum Ceremonialwesen (ThLz 1878, S 359.
1882, S 420. 1884, S 333 f).
Die Frage hängt, wie man sieht, zusammen mit den Vorstellungen be-
Der Brief an die Römer. 2. Die Leser. 259
züglich der Vorgeschichte der römischen Gemeinde, worüber Neubaur eine voll-
ständige Uebersicht der Literatur gibt (Beiträge zu einer Geschichte der römischen
Christengemeinde in den beiden ersten Jahrhunderten 1880). Diese Geschichte
lässt sich zu Gunsten eines jüdischen Ursprungs und judenchristlichen Charakters
der Gemeinde auf keinen Fall mehr in demjenigen Sinne verwerthen, wie auf
Grund der mit Irenäus (LH, 1, 1. 3, 2) anhebenden patristischen Tradition die
kath. Kirche gethan hat, indem sie den Petrus zum Stifter und ersten Bischof
der römischen Christenheit erhob^). Selbst wenn der paulinische Grundsatz,
nicht auf fremden Grund zu bauen, wie er E,m 15, 20. 21 gerade der Gemeinde,
um die es sich handelt, gegenĂĽber zum Ausdruck gelangt, nur fĂĽr das Morgen-
land Geltung gehabt hätte oder als Nachbildung von 2 Cor 10, 15. 16 zu be-
urtheilen wäre, durfte Pls eine von Petrus gegründete Gemeinde nach Gal 2, 9
auf keinen Fall aufsuchen. Da nun aber auch er nicht Stifter der Gemeinde
sein kann, vielmehr in Rom schon längere Zeit Christen gewesen zu sein scheinen,
ehe Pls dahin schrieb (Rm 13, 11. 16, 7?), erhebt sich die Frage, woher diese
nach Rom oder wie an sie in Rom das Christenthum gekommen sei.
Nach Einigen wäre die Gemeinde von Anfang an heidenchristlich und
paulinisch gewesen. Paulinische Männer haben bald nach 40 (Wieseler, Zur
Geschichte der neutest. Schrift 1880, S 62) bei Gründung der römischen Ge-
meinde mitgewirkt, ja geradezu das Christenthum nach Rom gebracht (Godet I,
S 87 f. C. W. Otto S 8). Oder die aus verschiedenen Gegenden des Reiches
zufällig in Rom sich begegnenden Gläubigen sind erstmalig von Aquila und
Prisca, als diese aus dem Orient zurĂĽckgekehrt waren, zu einer (wesentlich
paulinischen) Gemeinschaft gesammelt worden (Oltramare I, S 81 f, 90 fj.
Speciell wären es Gläubige aus Puteoli und Ostia gewesen, welche sich in Rom
sammelten, ohne irgendwie mit der Synagoge in BerĂĽhrung zu treten (Renan,
L'antechrist S 7 f). Jedenfalls ist die Rechnung mit mehr zufälligen Ursachen
(so Oltramare S 85 f. Wieseler S 58, Reuss, Ep. Paul. IT, S 7) der sie zu
Gunsten einer sehr fi^gwĂĽrdigen Hypothese verwerfenden Ansicht Kneucker's
(S 7) vorzuziehen. Anstatt mit einem römischen Aufenthalt des Titus um 52,
also zu einer Zeit, da dieser Titus noch nirgends in der beglaubigten Geschichte
aufgetaucht ist, zu rechnen (so KneĂĽcker S 9 f, 17, 25, 42 f, 57, vgl. dagegen
H. Holtzmann ZwTh 1881, S 411 f), dĂĽrfte man eher aus 1, 12. 2, 16. 15,
14. 15. 22—24. 30—32. 16, 17. 25 (Kneücker S 13), mit noch mehr Recht
vielleicht aus dem xotco? ot^ax'^? 6, 17 (Weiss S 315. Pfleiderer S 495 gegen
Lipsius, Hülsten, Gräfe S 47) auf eine im Allgemeinen für Pls günstige
Stimmung in Rom schliessen. Näher besehen halten aber alle diese Beweise
nicht Stich (Weizsäcker S 419 f), imd lässt sich nichts behaupten, was über
') Die Katholiken (z. B. noch Hundhausen, Die beiden Pontifikalschreil)en
des Petrus I, S 15 f, 21 f ) fassen nach einer auf Eusebius und Hieronymus zu-
rĂĽckgehenden Anleitung Act 12, 17 im Sinne einer Reise nach Rom, wo Petrus
von der Synagoge aus das Christenthum verbreitet haben soll. So auch Thiersch,
Kirche im apost. Zeitalter, 3. Afl S 95, 97. Ewald, Apost. Zeitalter, 3. Afl S607.
Vgl. dagegen Kneücker S 56. Die darauf erbaute Theorie von einem 25jährigen
römischen E])iskopat des Petrus haben selbst katholische Gelehrte, wie Hug,
Klee, A. Maier, aufgegeben; auch Langen zeigt, dass Petrus, der um 53 noch
in Jerusalem und Antiochia ist (Gal 2, 7 f. 11 f), unmöglich vor Pls in Rom
gewesen, ĂĽberhaupt frĂĽhestens um 63 dahin gekommen sein kann (S 17 f, 23 f, 40 f).
17*
260 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
allgemeine Bekanntschaft der römischen Christen mit dem Missionswerke des
Pls und über persönliche Verbundenheit mancher Mitglieder der Gemeinde mit "
ihm (falls nämhch 16, 3—16 nach Rom adressirt ist) - hinausginge. Eher schon
darf man damit rechnen, dass „Ausländer von Rom" nach Act 2, 10 als Zeugen
der Entstehung der ersten Christengemeinde erscheinen und dass, falls sie als
nicht wieder nach Rom zurückkehrend zu denken wären ("Wieseler S 56), es
doch sonst an Verkehr zwischen der römischen und der syrischen Judenschafb
keineswegs mangeln konnte. Thatsache ist die ausserordentliche Ausbreitung,
welche das Judenthum in Rom gefunden, seitdem Pompejus 64 v. Chr. jĂĽdische
Sklaven daselbst in Masse importirt hatte. Die später Freigelassenen (Liberti)
besetzten ein eigenes Quartier, jenseits des Tibers. Die Nachricht, dass dieselben
auch in Jerusalem eine Synagoge besassen (Act 6, 9), spricht an sich schon fĂĽr
die Verbindung der römischen Juden mit Jerusalem — eine Verbindung, welche
durch Festbesuche, Entrichtung der Tempelsteuer und die römische Verwaltung
Judäas an Intensität nur noch gewinnen mochte. Bei der a priori bestehenden
"Wahrscheinlichkeit, wornach die Kunde, dass in Palästina ein Messias aufge-
treten sei, in Rom nur bei Juden und Judengenossen Verständniss und Wider-
hall finden konnte (vgl. Langen S 19 f), wird auch nur in der Synagoge die
Wiege des römischen Christenthums zu suchen sein. Ueberdies stellt sich einer
solchen Construction die bekannte Notiz des Suetonius in der Biographie des
Claudius (25) zur VerfĂĽgung. Die nur ganz ausnahmsweise noch von Hofmann (III,
S 630 f), Wieseler (Chronologie S 122; Zur Geschichte der neutest. Schrift
S 58 f), GODET (I,.S 81 f), Oltramare (I, S 88) und Mommsen (RG V, S 523)
bestrittene Verwerthbarkeit derselben fĂĽr die Entwickelungsgeschichte des
römischen Christenthums hat Mangold (S 244 f) aufs Neue dargethan. Aber
gerade ĂĽber die Folgen des Ediktes fĂĽr die christliche Gemeinde besteht eine
tiefgreifende Differenz zwischen ihm, der das jĂĽdische Christenthum sich von
jetzt ab in völliger Lostrennung von der Synagoge weiter entwickeln lässt (S 249),
und HuG, Olshausen und Anderen (vgl. die Literatur bei Oltramare S 88 f),
welche die zuvor judenchristliche Gemeinde durch die Judenvertreibung in eine
vorzugsweise heidenchristliche sich umwandeln lassen. Der impulsore Chresto
entstandene Tumult habe zur baldigen Ausscheidung der messiasgläubigen Glieder
aus dem Judenthum Veranlassung gegeben und das auf solche Weise dem losen
Zusammenhange mit der Synagoge vollends entzogene Christenthum habe
während der Dauer des Exils der Juden sich um so mehr als heidenchristliche
Gemeinde weitergebildet. Nach Langen mussten unter Claudius mit den Juden
auch die Judenchristen die Stadt verlassen, um erst unter Nero zurĂĽckzukehren.
Einstweilen hatte sich eine wesentlich heidenchristliche Gemeinde um einige
zurĂĽckgebliebene Proselyten angesetzt (S 27, 33, 35). FĂĽr derartige, an sich
ja gar nicht unwahrscheinliche, Combinationen liegen aber die Beweise nur in
der Thatsache, dass mindestens erst zehn Jahre später die römische Obrigkeit
unter Nero zwischen Juden und Christen zu scheiden weiss und dass vollends
seit den Zeiten des Clemensbriefes an dem wesentlich heidenchristlichen Charakter
der römischen Gemeinde kein Zweifel sein kann. Mögen aber auch die Christiani
des Tacitus (Ann. 15, 44) ihrer Mehrzahl nach Heidenchristen gewesen sein, so
folgt daraus noch gar nichts fĂĽr die nationale Beschaffenheit des Leserkreises,
welchen Pls 58—59 voraussetzt (Mangold S 251). Ja selbst aus der von grossen
Schwierigkeiten bedrückten Erzählung über seine Aufnahme in Rom Act 28,
17 f erhellt höchstens die Unheilbarkeit des Bruches, welcher durch die Messias-
Der Brief an die Römer. 2. Die Leser. 261
frage in der römischen Judenschaft schon unter Claudius eingetreten war (S 253).
Möglicherweise könnte auch erst in Folge des persönlichen Auftretens des Pls
in Rom die Heidenmission so in Aulnahme gekommen sein (Phl 1, 12 — 14. 4, 22),
dass die Gemeinde eine heidenchristliche Physiognomie auf die Dauer gewann.
Die ganze Controverse (vgl. ĂĽber ihren jetzigen Stand H. Holtz-
MANN JprTh 1886, S 107 f j, erwachsen aus der Macht eines Total-
eindrucks, welcher mit der einfachsten Auslegung der Adresse in
diametralem Widerspruche steht, ist vielleicht insofern unlösbar,
als man es im ĂĽnterscliied von den bisher betrachteten Briefen dem
vorHegenden anmerkt, dass Pls keine eigene Anschauung von der
Gemeinde hat, an die er schreibt. Die Frage nach den statistischen
Verhältnissen derselben würde er wohl selbst , als er den Brief
schrieb, nicht zu lösen im Stande gewesen sein. Kommt es darauf
an, darzuthun, dass er ĂĽberhaupt in Eom etwas zu suchen hat, so
zählt die im Mittelpunkt der Heidenwelt befindliche und genug
imbeschnittenes Volk (darunter gewiss auch Proselyten) in sich ver-
einigende Gemeinde ja gewiss zu den Heiden (1, 5. 6. 13 — 15) und
wenigstens die Erwägungen 11, 13 — 32 sind geradezu direct und
ausschhessHch auf geborene Heiden berechnet. Vergegenwärtigt er
sich diejenigen Elemente, von deren religiöser Vorbildung (7, 1) und
innerer Vorgeschichte (7, 4 — 6), Antipathien (3, 5—8. 11, 1. 11)
und Sympathien (3, 1 — 4. 9. 9, 1 — 5. 10, 1. 2), von deren ganzer
Art auf sein Evglm zu reagiren (6, 1. 15. 7, 1) er sich ein be-
stimmtes Bild machen kann, die er darum auch sofort anredet (2, 1.
17 — 27), so sind das Juden, deren theokratische Vorzüge durchweg
anerkannt, deren sitthche und rehgiöse Bedenken schonend beseitigt,
deren Missverständnisse oder Verdächtigungen zurückgewiesen werden.
Von den Entstehungsverhältnissen abgesehen, sprechen im Briefe selbst
für einen wesentlich heidenchristlichen Charakter der Gemeinde („einige wenige
Judenchristen" gibt selbst Kneucker S 53 zu) folgende Data:
1) Die Adresse zählt 1, 5. 6 die Leser in demselben Sinne zu „allen
Heiden", wie Gen 12, 3. Ex 19, 5. Mch 4, 5. Jes 25, 6—8 navta xa s^vy) und
Israel Gegensätze büden (so auch eÖ-vf] Rm 2, 14. 3, 29. 9, 24. 30. 11, 11. 12.
26), und der weitere Fortgang stellt sie 1, 13 tot? \onzol(; e^veotv vollkommen
gleich, so dass beidemal xa eO-vYj wie Gal 1, 16. 2, 8. 9 als Ort der spccifisch
paulinischen Wirksamkeit erscheinen; auch die Motiviruug des Schreibens durch
Verpflichtung gegen Griechen und Barbaren , gegen Gebildete und Unge-
bildete 1, 14 weist auf die verschiedenen Schichten der heidnischen Welt
(Einwand: einer aus Nationalrömern gesammelten Gemeinde hätte der Apostel,
um sein Recht, sie anzureden, zu erweisen, nicht erst wiederholt klar zu
machen gehabt, dass sie unter die Kategorie toc eD-vYj fallen). 2) Die Heiden,
welche 11, 13 — 24 gewarnt werden, sich über die Juden zu erheben, müssen die
tonangebende Majorität in der Gemeinde gebildet haben; in ihnen redet daher
Pls 11, 25. 28. 30. 31 die ganze Gemeinde an (Einwand : vielmehr bedeutet 11,
2Ăź2 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
13 ĂĽjilv 8e XeY"> '^olc, e^vsotv Adresse an einen besonderen Bruchtheil der Ge-
meinde). 3) Die Starken, welche 14, 14 — 15, 7 ermahnt werden, nicht in
eitler Selbstgefälligkeit die Schwachen zu verletzen uiid die Eintracht der Ge-
meinde zu stören, sind 14, 2. 5 (wer uioTsaei cpaYsIv iravta und alle Tage für
gleich heilig hält, ist kein gesetzespflichtiger Jude), deuthcher noch 15, 8—12
Heiden, die sich über die jüdische Minorität wegsetzten (Einwand: der Gegen-
satz 14, 1 f betrifft nicht Christen aus den Juden und solche aus den Heiden,
sondern eine innerhalb der judenchristlichen Masse bestehende Sonderrichtung,
welche der essäischen Ascese ergeben war). 4) Die Leser werden 6, 17. 18 als
1^ l^vĂĽiv ajxapxtoXoi (Gal 2, 15) gekennzeichnet und darum 6, 19. 12, 1. 2. 13,
12 — 14 vor den Hauptsünden des Heidenthtims gewarnt (Einwand: 2, 1. 21—23.
7, 5. 6). 5) Der Epilog 15, 14 -21 leitet Recht und Pflicht, an die Römer zu
schreiben, abermals aus dem heidenapostolischen Beruf ab, wobei der Apostel
seine 12, 1 — 15, 13 gegebene Sittenpredigt entschuldigen zu müssen glaubt;
daher 15, 15 ToXfXTjpoxspov Se sYpa^^a 6jjiiv (Einwand: diese Entschuldigung gelte
vielmehr seinem Auftreten als Sachwalter der Heidenmission und wenn er, was
15, 16 über sein Thun als XsixoopYO? Xpiatoö et? xoc e^VYj gesagt war, 15, 17 — 21
gegen den Verdacht leerer Prahlerei sicher stellt, so sieht er sich dabei gegen
judenchristl. Verdächtigungen vor, gerade wie in den verwandten Stellen 2 Cor
10, 12-18. 12, 11. 12).
FĂĽr den wesentlich judenchristlichen Charakter der Gemeinde (Mangold
S 212: „allerdings gab es auch heidenchristliche Elemente in Rom, wie aus
15, 9 — 13 und 11, 13 f hervorgeht") sprechen folgende Data: 1) Stellen, da Pls
sich und seine Leser in der 1. Person Plur. zusammenfasst, trotzdem dass er
(anders 1 Cor 1, 1) nur in eigener Person schreibt: 3, 5 (?). 9 (TCpoeyojjLe^a). 4, 1
(H A C D 'Aßpaccji- xöv TCpoirdxopa y]|XU)V xaxa aapxa). 12. 7, 5. 6 (vovl hh uaxirjpY'ri^rjp.sv
äizb tob vofJLou). 9, 10 (Einwand: 4, 16 Traxvjp tcocvxcov 7|]ülü)V, d. h. aller Gläu-
bigen; auch 4, 12. 9, 6 f. Gal 3, 7; vgl. auch 1 Cor 10, 1 ol iraxepe? 7]|j.ĂĽ)v). 2) Der
Brief entwickelt nicht sowohl die paulinische Theologie ĂĽberhaupt als vielmehr
ihre das Judenthum überwältigenden, die gesetzlich befangene und beschränkte
Bewusstseinsform ĂĽberragenden Elemente, setzt sich daher in fortdauerndem
dialektischem Kampfe mit den Einwänden und Instanzen des religiösen wie des
sittlichen Bewusstseins geborener Juden auseinander (vgl. S 257), daher 3, 1
xt OüV xö irsptooöv xoö 'louBaioo ; 6, 1 xt o5v £poö|JLEV; iTCtjJLevtofXsv x^ a|j.apxia tva 4j
X^P^'i TtXgovao-jy ; 15 xi oov; dixapxYjawjJLsv oxi ohv. lo|JLev bizb vojjlov akXä ütcö x^'P^Vj
7, 7 xt OüV spoö/xev; 6 wi^oq djiapxta; |X7] '^hoixo (Einwand: auch nach Galatien
und Korinth, wo die Heidenchristen in der Mehrheit waren, richtete Pls antiju-
daistische Polemik; Rom aber war mindestens bereits bedroht). 3) Mag 7, 1
Ytvwoxoootv Y«? vojjiov XaXw anders deutbar sein, so hat es doch nur gegenüber
geborenen Juden, welche die Lösung des Bandes mit dem Gesetz wie einen
Act der Untreue empfanden, einen Sinn, wenn Pls seinen allgemeinen Satz
7, 2. 3 mit der Analogie des jüdischen Ehegesetzes erläutert, 7, 4 — 6 sich selbst
mit den Lesern in der gemeinsamen Erfahrung zusammenfasst, dass das Mit-
gestorbensein mit Christus zugleich ein dem Gesetze Abgestorbensein umschliesse,
und endlich den ĂĽberwundenen Zustand als TcaXatoxT]? Ypa|J-|J'.axo(; (vgl. 2 Cor 3, 6)
bezeichnet (Einwand: nach Gal 4, 9 steht die ganze vor- und ausserchristliche
Menschheit unter dem Strafurtheil des Gesetzes, welches nach Rm 1, 32. 2, 12—16
universale Bedeutung, wie die „Schrift" überhaupt, hat; die 7, 7 f geschilderten
Erfahrungen macht das Gewissen des Menschen, nicht des Juden). 4) Der Trost
Der Brief an die Römer. 3. Zweck. 263
für Israel Rm 9 — 11 hat wenig Interesse für eine heidenchristliche Gremeinde-,
die hier erledigten Bedenken konnten nur aus theokratischen Anschauungen
fliessen (Einwand: gleichwohl werden gerade 11, 11 f die Leser ausdrĂĽcklich
als geborene Heiden angeredet, wogegen 9, 1 f. 10, 1 f die Juden in 3. Person,
wie wenn die Leser nichts mit ihnen gemein hätten, die Judenchristen vollends
11, 5 als ein Xsljj.[j,a, ein Rest, eine IVIinorität auftreten). 5) Nur Rücksicht auf
ein vorzugsweise judenchristliches Publicum erklärt die vorsichtige Abwehr jedes
Gedankens an Feindschaft gegen sein Volk, verbunden mit Hervorhebung eigener
Fähigkeit, die Vorzüge der jüdischen Geburt zu schätzen 3, 2. 9, 1- 5, wozu
nicht blos die captivirenden Redewendungen des Epilogs (z. B. 15, 14 die Vor-
aussetzung, dass die Leser auch ohne Pls schon mit der ganzen Erkenntniss
erfĂĽllt sind), sondern auch ganze Abschnitte, welche lediglich dem Nachweise
des Einklanges alter und neuer Offenbarung gelten (3, 31 — 4, 25), die sichtlich
höhere Taxirung des Gesetzes 7, 12. 14 im Vergleiche mit Gal 3, 19. 20. 4, 3.
9 und andere Spuren davon kommen, dass Pls ein jĂĽdisch-christliches Bewusst-
sein auf dessen eigenem Boden zu ĂĽberwinden sucht (Einwand: die Opposition
welcher die antijudaistischen Pointen des Briefes gelten, war von aussen importirt).
6) Die "Warnung 13, 1 — 7 scheint aus der jüdischen und judenchristlichen Ab-
neigung gegen das vom theokratischen Standpunkte (Dtr 17, 15) aus illegitime
und durch missliebige Erinnerungen (Census des Quirinius, Caligula, Judenver-
treibung) verhasste Römerregiment zu erklären. In der That begreift sich eine
grundsatzmässige Opposition am leichtesten auf der genannten Seite , während
heidenchristliche Dokumente, Act voran, wenn sie ĂĽberhaupt politische Gesichts-
punkte vertreten, das Christenthum auf guten Fuss mit der Staatsmacht zu
stellen suchen (Einwand: der Stelle ist höchstens präventive Tendenz zuzuschreiben-,
ihre Nachklänge begegnen noch 1 Clem. ad Cor. 61 zu einer Zeit, da an dem
heidenchristl. Charakter der Gemeinde kein Zweifel obwalten kann). 7) Aus-
schHesslicher als irgend ein anderer Brief, Hbr ausgenommen, bewegt sich der
unsrige in den Denkformen des jĂĽdischen Geistes: von Anfang (1, 2. 3 Pro-
phetenzeugniss und Davidssohnschaft) bis Schluss (16, 26 alttest. Schriften) auf
Schritt und Tritt zahllose alttest. Beziehungen, BeweisgrĂĽnde und Citate (Ein-
wand: im apostolischen Zeitalter schloss sich jedwede christliche Erkenntniss
an das AT an und erfuhr auf Grund desselben Vertiefung und Förderung).
3. Zweck.
An der Frage nach dem Leserkreis unseres Briefes hängt die Frage nach seinem
Zweck. An diesem Problem sind schon die Theologen des patristischen Zeitalters
nicht ganz vorbeigegangen. Der bedeutendste Versuch, dem Briefe durch Nachweis
einer geschichtlichen Veranlassung die EigenthĂĽmlichkeit eines fĂĽr augenblickliche
BedĂĽrfnisse des ersten Leserkreises bestimmten Sendschreibens zu wahren, findet
sich im Commentar des sog. Ambrosiaster. Freilich ist der Gedanke, es sei
in der römischen Gemeinde eine jüdische Gesetzlichkeit aufgekommen, welcher
Pls habe begegnen wollen, nic^its weiter als ein Schluss , der aus dem allge-
meinen Eindrucke des Briefes gewonnen wurde und insofern auf einer Linie
mit anderen Hypothesen steht, wie wenn nach Chrysostomus Manichäer, nach
Theodoret Antinomisten bekämpft werden sollen. Nur schiessen diese letzteren
Annahmen am Ziele vorbei, während die erstgenannte den Hauptpunkt trifft,
dass nämlich die bekämpften Mängel mit dem Judaismus zusammenhängen.
Victor von Capua zog sich auf die freilich mit Unrecht dem Hieronymus zuge-
264 Besonderer Theil. Die ])aulinischen Briefe.
schriebene Ansicht zurĂĽck, dass der Apostel durch seinen Brief der Eifersucht
zwischen der judenchristlichen und der heidenchristlichen Fraction der römischen
Gemeinde habe begegnen wollen. So dachte meist das Mittelalter. Erasmus
setzte dafĂĽr einen prophylaktischen Zweck, als wehre Pls einer zu befĂĽrchtenden
Ansteckung durch den Judaismus. Dagegen herrscht bei den Reformatoren die
verallgemeinernde dogmatische Auffassung des Römerbriefes vor, und wurde ihm
das Gepräge eines unter gewissen geschichtlichen Voraussetzungen an einen
local abgegrenzten Leserkreis zur Erreichung eines bestimmten Zweckes gerich-
teten Sendschreibens so sehr abgestreift, dass er geradezu das biblische Grund-
buch der evangelischen Kirche, der Leitfaden wurde, nach welchem Melanchthon
sein dogmatisches Compendium schrieb. Luther nannte ihn ai)solutissima
epitome evangelii. Diese ältere, die geschichtlichen Bedingungen für die Aus-
legung des Briefes ĂĽbersehende, Anschauungsweise herrschte lange, und speciell
in Nachfolge der reformatorischen Exegese haben die meisten frĂĽheren Aus-
leger jeden polemischen Zweck abgelehnt. Möglichst allgemein geben aber
den Zweck des Briefes auch fast alle neueren Theologen, und zwar selbst
solche an, welche die speciellen Entstehungsverhältnisse der Epistel richtig
beurtheilen.
Zur Veranschaulichung dieser mehr oder weniger doctrinären Auffassung von
Rm möge folgende Musterkarte von Ausdrücken dienen. Reiche : Betrachtungen
über die Nothwendigkeit und Herrlichkeit der Heilsanstalt ; Köllner : Document,
wie Pls das Evglm überhaupt predigte-, Glöckler: Erhabenheit des Christen-
thums ĂĽber das Heidenthum und Judenthum; Fritzsche: Dogmatische und
ethische GrundzĂĽge des Christenthums ; Bleek: eine fast rein objectiv gehaltene
Auseinandersetzung des Wesens des Evglms ; Baumöarten-Crusius : die Gemein-
samkeit der Juden und Heiden in der christlichen Kirche; Wieseler: eine
meistens objectiv gehaltene und darum fĂĽr jede aus Juden- und Heidenchristen
zusammengesetzte Gemeinde, in welcher im Allgemeinen gesundes Glaubensleben
herrschte, passende Darstellung; ReĂĽss: Grundlegung der paulinischen Glaubens-
lehre; Olshausen: die wesentlichen Momente der paulinischen Dogmatik in rein
gegenständlicher Haltung ; de Wette : der einzige Brief, in dem Pls seine Lehre
im Zusammenhang vorträgt; Meyer: ein vollständiges, bleibendes Denkmal
seines Evglms, aufgestellt im Angesicht der Welthauptstadt und mit denjenigen
speciellen BezĂĽgen, wie er sie in Rom jetzt, im Falle seiner Anwesenheit, mĂĽnd-
lich gepredigt haben würde; Beyschlag: planmässige Darlegung der paulinischen
Heilspredigt; Schenkel: zusammenhängende Darstellung von dem Grunde und
Zwecke seiner Heilsbotschaft ; Hausrath : der wesentliche Inhalt seiner sonstigen
mündlichen Predigt; Hilgenfeld: eine vollständige Darlegung des Evglms,
welches Pls unter den Heiden predigt; Lipsius: sein Evglm in ausfĂĽhrlicher
Darlegung ; Pfleiderer : eine aus dem Wesen des Evangeliums selbst geschöpfte,
sachlich objective Entwicklung seiner Wahrheit; Lorenz: das erste Lehrbuch,
welches in zusammenhängender Gedankenentwicklung die hervorragendsten
christlichen Lehrpunkte bespricht; Godet: dogmatischer und moralischer Kate-
chismus; Beck: des Apostels Gesammtanschauung von der Offenbarung. Classisch
ist Volkmar: S Vni „ein System" und S IX, 107, 136 „ein Lehrbuch". Die
Auffassung des Briefes als eines Inbegriffs christl. Lehre oder paulinischer Dog-
matik ist übrigens unter den Neuem besonders von Tholuck (1—4. Afl) ver-
treten, an welchen sich mehr oder weniger auch Benecke, HĂĽther, Dietzsoh,
Delitzsch, Oltramare, Renan und viele der schon oben Genannten anschliessen.
Der Brief an die Römer. 3. Zweck. 265
Demgemäss findet noch Weiss (bei Meyer 7. Afl S 35) die Veranlas-
sung zu den Ausfiilirungen des Apostels, „nicht sowohl in Bedür&issen der
römischen Gemeinde, als vielmehr in einem Bedürfuiss des Apostels selbst",
welcher der Nöthigung gefolgt sei, den geistigen Ertrag der unmittelbaren Ver-
gangenheit sich selbst zum Bewusstsein zu bringen und durch eine schriftstel-
lerische Darstellung zu fixiren. Wie er gewohnt war, thut er dies nicht in einem
Buche, sondern in einem Briefe, welchem aber nicht eine durch die Verhält-
nisse der Gemeinde hervorgerufene Nöthigung, sondern die Art, wie seine ganze
Anschauung sich in den letzten Jahren des Kampfes entwickelt hatte, eine bald
polemische, bald apologetisch klingende Form verleiht. Dabei wird meist vor-
ausgesetzt, dass die Gemeinde schon mehr oder minder paulinisch gesinnt war,
als Pls an sie schrieb (so Neander, Olshausen, de Wette, Hofmann, Beck,
RücKERT, RiGGENBACH, Weiss). Das Zugeständniss, womit zuletzt schon Tholuck
(5. Asg, S 5 f) der anderen Auffassung entgegenkam, Pls habe es nebenbei auch
mit vorhandenen oder drohenden Irrungen seitens der Judaisten zu thun, erhielt
sich in der Form der Annahme eines prophylaktischen Zweckes (so Meyer,
Wieseler, Philippi, aber auch Credner, Jatho, Th. Schott, Beyschlag).
Im Grunde verzichtet man bei einer solchen Totalanschauung auf ein wirk-
lich geschichtliches Verständniss des Briefes. Denn aus reiner Freude an der
Kunst der Selbstdarstellung hat im apostolischen Zeitalter Niemand zur Feder
gegriffen (vgl. oben S 95 f). Wenn die Polemik in Rm eine weniger persön-
liche Färbung trägt, als in Gal und Cor, so liegt dafür der Grund auf der Hand:
Pls schreibt diesmal an eine ihm noch unbekannte Gemeinde, ist weder ĂĽber die
Neigungen der letzteren, noch ĂĽber die Erfolge seiner Gegner genau unter-
richtet; sein Verfahren kann nur ĂĽberwiegend sachlich gerichtet sein. Dieser
Erwägung verdankt die Auffassung der Kirchenväter ihre zeitgemasse Erneue-
rung: es sollte dem Briefe so wenig wie den ĂĽbrigen ein praktisches Motiv in
U^r AVirklichkeit des Lebens abgehen. Man suchte dasselbe nunmehr bald in
( iuer bestimmten Situation seines Verfassers, bald in concreten BedĂĽrfnissen
seines Leserkreises. Der letztere Gesichtspunkt fand zuerst Anerkennung, indem
im Briefe eine Streitschrift wider das Judenthum (Eichhorn, Schwegler) oder
lieber ein Versuch gefunden wurde, die Eintracht zwischen den römischen
Judenchristen und Heidenchristen herzustellen (HuG, Bertholdt, A. H. Schott,
Hemsen, Klee, Bretschneider, Flatt, Bleek). Polemik wider den christlichen
Judaismus anzunehmen, lud schon die Stelle 16, 17 — 20 ein. So zuerst Schmid,
De Paulinae ad Romanos epistulae consilio atque argumento quaestiones 1830;
dann Grau. Mehr noch reizte der Abschnitt 9 — 11 (so zuerst Rückert 1831).
In erfolgreicher Weise hat hier Baur eingegriffen (1836, vgl. oben S 187). Der
bei den übrigen Briefen bewährten Methode folgend, construirte er einen dem
Inhalte des Briefes entsprechenden Zustand der Gemeinde, und fand, dieselbe
müsse stark vom Judaismus inficirt gewesen sein, daher die 9 — 11 bezeugte
Beunruhigung der Judenchristen ĂĽber das rasche Zunehmen des heidenchrist-
lichen Elementes in der Kirche ; es habe sich nämlich der Gegensatz des Juden-
christenthums gegen das Heidenchristenthum in Rom dahin zugespitzt, dass man
nicht mehr ĂĽber die Form, unter welcher die Heiden Antheil am Reiche Gottes
nehmen sollten, gestritten habe, sondern darĂĽber, ob die Zulassung der Heiden
zum Gottesreiche ĂĽberhaupt zu billigen und nicht als VerkĂĽrzung der Anrechte
Israels, als Beeinträchtigung des Primates, welcher dem auserwähltcn Volke
gebĂĽhre, zu verurtheilen sei. Rechtfertigung des paulinischen Evglms gegenĂĽber
266 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
judaistischen Bedenken hiess jetzt der Zweck des Briefes auch bei Kling (StKr
1837, S 320 f), Krehl, Lutterbeck, Thiersch, van Hengel, auch bei C. W. Otto,
welcher die Veranlassung des Briefes in einem Conflikt zwischen der paulinischen
(gemeinde und dem judenchristlichen Conventikel des Aquila sucht (S 16 f). Gegen
die TĂĽbinger Auffassung machte Theodor Schott geltend, dass nicht blos die
inneren Verhältnisse einer Gemeinde den Apostel zum Briefschreiben bestimmen
konnten, sondern eben so gut auch seine persönliche Lage und das Verhältniss
der römischen Gemeinde zur ganzen Christenheit überhaupt (Der Römerbrief,
seinem Endzweck und Gedankengange nach ausgelegt 1858). In theilweisem
AnschlĂĽsse an ihn hat dann W. Mangold (1866 und 1884) die Wahrheit der
TĂĽbinger Aufstellung anerkannt, ihre Uebertreibungen beseitigt. Er geht von
der Annahme aus, dass Pls es mit gegenwärtigen Bedenklichkeiten der Gemeinde
zu thun hat, sofern der Heidenmission und ihrem apostolischen Träger innerhalb
der römischen Gemeinde, die er gewinnen will, ein doppelter Anstoss entgegentrat:
man beanstandete vom Standpunkte der jĂĽdischen Vergangenheit aus seine
Lehre, insofern sie den Glauben an Christus zur einzigen Bedingung des Heils
machte, und man beanstandete seine Praxis, die ohne die Bekehrung Israels als
Volk abzuwarten, sofort zur GrĂĽndung einer gesetzesfreien Kirche aus den
Heiden schritt; daher der Doppeinachweis, dass an die Stelle des Gesetzes das
Evangelium und dass an die Stelle der Juden die Heiden treten werden. Wie
die Letztgenannten legt auch Ewald (Sendschreiben des Pls S 315 f) grossen
Werth auf die brieflichen Notizen 1, 1 — 15. 15, 14 — 33. Allerdings ist in den-
selben ein Wendepunkt im apostolischen Berufsleben angedeutet, in welchem
Ortloph den völlig zureichenden Erklärungsgrund für Abfassung des Römer-
briefes erkennt (S 27). Der Apostel will seinen orientalischen Wirkungskreis
mit dem occidentalischen vertauschen und sieht sich zu diesem Behufe nach
einem zu erwählenden Mittelpunkte um. Darum setzt er den Römern ausein-
ander, wie auch sie zu seinem Missionsgebiete gehören, wie er aber bisher un-
möglich habe zu ihnen kommen können ; jetzt sei dies jedoch unumgängHch nöthig,
da er von Jerusalem bis Hlyrien hin eine ausreichende Anzahl von Gemeinden
gestiftet hat und seine Aufgabe im Orient als gelöst ansehen darf. Sowohl Th.
Schott wie Ortloph gehören der Schule Hofmann's an, welcher den Brief aus
der von Pls empfundenen Nöthigung erklärt, die das Centrum der Heidenwelt
bildende Gemeinde wissen zu lassen, wie er zu ihr stehe. Auf entgegengesetzter
Seite sieht Volkmar (1875) in diesem „Streit- und Friedensschreiben" den Ver-
such gemacht, eine judaistisch beschränkte Mehrheit sowohl mit dem Inhalt als
mit dem Erfolg der paulinischen Heilsbotschaft auszusöhnen und eben damit
auch den Frieden zwischen ihr und der paulinischen Minderheit herzustellen.
In ähnlicher Weise conciliatorisch fassen bei Anerkennung der antijudaistischen
Apologetik auch Sabatier, Hilgenfeld, 0. PFLEroERER und namentlich Holsten
Sinn und Zweck des Briefes; Letzterer, indem er zugleich auf das Doppelziel
der beiden Metropolen des Judenchristenthums hinweist , auf welches der Blick
des Apostels von Korinth aus gleichzeitig gerichtet sein musste, wenn er die
judenchristlichen Gegner zu entwaffnen das Bedürfniss fühlte. Ruhelos drängt
der eigene Trieb den Apostel nach Westen (1, 10. 13—15), wälu-end die Feind-
seligkeit des Judenchristenthums, die vorher beschworen sein will, nach Osten
ruft (ZwTh 1872, S 446 f; JprTh 1876, S 83 f. 1879, S 713 f)- Mit ihm
harmonirt in allem Wesentlichen Lipsius (Protestanten-Bibel 1872, S 476 f), indem
er die Aufgabe des Briefes wesentlich darein setzt, die Ankunft des Apostels
Der Brief an die Römer. 3. Zweck. 267
in Rom vorzubereiten (S 482, ähnlich H. Schultz JdTh 1876, 127. Schenkel,
Christusbild S 263. Langen S 36. Gräfe S 50 f). Der Apostel beweist nach
Weizsäcker der Gemeinde zuerst, dass er ein Recht auf sie habe und ihr
auch bisher keineswegs etwa aus Feigheit ferne geblieben sei, um sodann zur
AViderlegimg der beiden Verdächtigungen überzugehen, mittelst welcher die
Judaisten ihm den Weg nach Rom abzuschneiden versuchten, als thue nämlich
seine Gnadenlehre der SĂĽnde Vorschub und verunehre zugleich das Gesetz,
indem sie dasselbe als sĂĽndenmehrende Potenz auffasse. Eine noch dringhchere
Veranlassung zu der ganzen apologetischen Auffassung enthĂĽllt sich da, wo Pls
9, 1 f mit beweglichen Worten dem Vorwurfe begegnet, dass er ein AbtrĂĽn-
niger sei, dessen Lehre darauf ziele, die eigenen Volksgenossen um ihre Ver-
heissungen zu bringen. Hiernach wäre der Brief gegen einen Judaismus ge-
richtet, welcher in Rom bereits von aussen eingedrungen war und sich ebenso
sehr, wie Paulus, um den Besitz einer bisher neutralen Gemeinde bemĂĽhte (Ap.
Zeitalter S 440 f). Dieselbe Grundansicht ist vertreten von Grau, NeĂĽbaĂĽr
Gräfe und Pfleiderer, welcher den im Briefe bekämpften Geist des Judaismus
in die IVIinderheit der Gemeinde verlegt. Aehnlich stehen auch Beyschlag,
demzufolge der Apostel das milde Judenchristenthum der römischen Proselyten
zur vollen Höhe des eigenen Standpunktes emporheben will (StKr 1867, S 656 f,
660), und diejenigen Theologen, denen zu Folge der Brief einer Gemeinde, welche
bezĂĽglich der in Griechenland und Kleinasien schwebenden Fragen noch unent-
schieden, unklar oder neutral war (Sabatier, Seyerlen, Lorenz), dazu verhelfen
will, die wĂĽnschenswerthe Stellung zu nehmen (Hausrath), indem er dem auch
dieser Gemeinde bedrohenden altjüdischen Vorurtheil wider die Zulässigkeit
der Heiden unter andern Bedingungen als denen des vorgängigen Einverständ-
nisses mit der theokratischen Gesetzesautorität entgegentritt (Schenkel BL V,
S 109; Christusbild S 79). Mehr oder minder kommt in allen diesen Hypothesen
endlich noch der andere Gesichtspunkt zur Geltung, wonach dem Apostel es
bei Erlass des Schreibens vornemlich um einen StĂĽtzpunkt fĂĽr seine Mission
im Abendland zu thun war (Th. Schott, Mangold, Krenkel, ReĂĽss, Riggenbach,
Beyschlag, Gräfe).
Als feststehende Ergebnisse dĂĽrften folgende zu betrachten
sein ^) :
1) Der Brief erklärt sich zunächst daraus, dass die äussere Lage
seines Verfassers dazu angethan war, seine Aufmerksamkeit auf die
römische Gemeinde zu lenken. Derjenige Apostel, welcher, im
Unterschied von den Zwölfen, die Fahne der Heidenmission auf-
gepflanzt hatte und seine Aufgabe darin fand, die neue Heilslehre
vorweg auf allen Brennpunkten des Völkerverkehrs einheimisch zu
machen, musste früher oder später den Mittelpunkt der christl.
Geographie und die Stätte, da die Schicksale des Christenthums
^) Wären dieselben in sich so bodenlos und dem wirklichen Gehalt des
Briefes so wenig entsprechend, wie Pierson und Naber zu zeigen versuchen
(S 287 f), 80 wĂĽrde daraus gleichwohl nicht folgen, dass die bisher geĂĽbte
Methode mĂĽhsamer Forschung zu verlassen und mit einem Sprung in's Dunkle
zu vertauschen wäre.
268 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
sich entscheiden sollten, in Rom finden. Nach 1, 10 ist er dess-
halb schon längst darauf gespannt, diese Stadt zu erreichen und
die dortige Gemeinde sich zu verbinden. In dem unserem Briefe
zunächst vorangehenden Sendschreiben überfliegen seine Gedanken
bereits das in Korinth winkende nächste Ziel seiner Wirksamkeit
(2 Cor 10, 15. 16; vgl. Rm 15, 24. 28). Nur ein Meer trennte
ihn in Korinth von der AYelthauptstadt, dem längst in Sicht genom-
menen Anhaltspunkt fĂĽr sein ferneres Wirken (Act 19, 21). Vor
sich her schickt er, den Römern „ein Unbekannter, und doch be-
kannt" (2 Cor 6, 9), als Zeichen seiner Theilnahme und Liebe
(1, 11) diesen Brief, welcher ebenso seinem Verfasser brĂĽderHche
Aufnahme in Rom verschaffen sollte, wie 2 Cor ihm Raum in
Korinth bereitet katte. Die Römer sollen, so lange sie ihn persön-
Hch nicht in ihrer Mitte haben, wenigstens wissen, wie nahe sie
seinem Herzen stehen und dass er keineswegs Scheu hegt, sein
Evglm auch ihnen zu verkĂĽndigen (1, 16); sie sollen auch wissen,
von welcher Art dieses Evglm ist und was sie von ihm zu erwarten
haben.
2) Um die Zeit der Korintherbriefe war aber zugleich auch
eine innere Krisis in der Laufbahn des Apostels eingetreten. Die
zuvor gemachten Erfahrungen waren an ihm nicht ohne tiefe Spuren
zu hinterlassen vorĂĽbergegangen. Sollte das Christenthum sich nicht
im inneren Kampfe zerreiben, so musste die eingetretene Spannung
beseitigt und der Hass des Judenchristenthums beschworen werden.
Eben darum geht er nicht direct nach Rom, sondern lässt sich vor-
läufig durch den Brief vertreten, um persönlich sich noch einmal
nach Jerusalem zu begeben und mit der Friedensgabe der Collecte
seine Wirksamkeit im Orient abzuschliessen (15, 25. 30 — 32). Dem
bedeutsamen Wendepunkt der apostolischen Laufbahn, auf welchem
es Entstehung gefunden, entspricht ganz der milde und ausgleichende
Charakter des Sendschreibens. Paulus kommt hier dem Juden-
christenthum nicht blos sonst überall bis an die Grenzen des Mög-
lichen entgegen (1, 8 f. 16. 2, 1 f. 9. 10. 3, 2. 9, 1 f. 4. 5. 11, 16f.
15, 14 f. 22. 33), sondern lässt auch 14, 1 f. den absonderhchen Vor-
schriften essäischer oder essäerartiger Asceten eine Schonung zu
Theil werden, welche ein noch grösseres Maass von Duldung für ein-
fach gesetzespflichtige, den mosaischen Speiseverboten naclilebendeii
Juden zur selbstverständlichen Voraussetzung hat. Der alte Streit,
welcher den christhchen Orient aufgewĂĽhlt hatte, sollte, wo immer
möglich, dem Abendlande fern gehalten werden.
3) Eben darum ist der Brief doch aucli irgend wie durch das
Der Brief an die Römer. 4. Inte^tät des Briefes. 269
Bild bedingt, welches der Apostel sich von dem Zustande und den
BedĂĽrfnissen der Gemeinde entworfen hatte, an welche er schreibt.
Sie war ihm bisher nur in einzelnen, nach dem Osten versprengten,
Mitghedern bekannt geworden (16, 3. 4 == Act 18, 1 — 3). Aber
bei dem regen Verkehr der syrischen und kleinasiatischen Juden-
schaft mit dem Mittelpunkte des Reiches mochten leicht die in
Galatien und Achaia ausgebrochenen Kämpfe auch in Rom Fort-
setzung finden. Der Apostel will dieser entweder schon eingetretenen
(3, 8 '/aO-w? ßXaa(pYj{JLo6[i£^a zal za^ox; ^paaiv tivs? ^ä«; Xs^etv) oder
mit höchster WahrscheinHchkeit zu befürchtenden Gefahr wehren;
er kann und darf bei der Unsicherheit ĂĽber das, was ihm in Jeru-
salem begegnen wird (15, 30. 31), nicht warten, bis er selbst per-
sönlich in Rom auftreten wird. Noch ist das Gebiet frei; morgen
kann es occupirt sein. Allermindestens muss er in Rom die näm-
Hchen Hindernisse fĂĽr sein in Aussicht genommenes Wirken voraus-
setzen, welche der Judaismus aller Orten gegen die Gnadenlehre
geltend machte, weil jedem geborenen Juden starke Voreingenommen-
heit gegen eine Lehre, welche dem Ansehen des Gesetzes zu nahe
zu treten schien, auf der einen, gegen Erfolge, welche der nationalen
Prärogative Israels Abbruch zu thun schienen, auf der anderen
Seite im Blute lag. Während daher der Brief in einzelnen Partien
durch die in einer gemischten Gemeinde drohende Uneinigkeit ĂĽber-
haupt, speciell durch die hochmĂĽthige Ueberhebung der Mehrheit
ĂĽber die ascetischen Liebhabereien einer Minderheit motivirt ist, will
er im Grossen und Ganzen die Gemeinde gegen judaistische Occu-
pationsgelüste sichern und positiv soweit fördern, um erwarten zu
dĂĽrfen, sie werde bei seiner Ankunft in Rom bereitwiUig auf seine
Pläne eingehen oder ihn doch wenigstens friedlich gewähren lassen
;i, 12).
4. Integrität des Briefes*).
Nachdem schon Semler von einem doppelten Anhang zum
lömerbrief (Paraphrasis epist. ad Rom 1769), Paulus von Neben-
)riefen an die Aufgeklärten und Vorsteher (De originibus cpistolae
'ad Rom. 1801), Gkiesbacii, Flatt und Eichhorn von Beigaben
zur weiteren AusfĂĽhrung des zuletzt behandelten Gegenstandes ge-
sprochen und theilweise auch die Frage angeregt hatten, ob insonder-
heit Kap. 16 als ein nach Rom gerichtetes StĂĽck zu begreifen sei,
erkannte in letzterem zuerst David Schulz das Fragment eines
*) Vollständige Literatur bei Lucht, Ucbcr die beiden letzten Kapitel des
Römerbriefes 1871, S 2 f. Mangold 1884, S 1 f.
270 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe,
Epheserbriefes (StKr 1829, S 609 f) — eine Ansicht, welche bis
auf die neueste Zeit sich des grössten Beifalles erfreut. Nur über
den Umfang dieses Epheserfragments ist niäii noch nicht in's E-eine
gekommen, sofern dasselbe sich bald auf 1 — 20 (Eichhorn, D. Schulz,
ReüsS; "Weiss und Renan), bald auf 1 — 23 (Weizsäcker), bald auf
3 — 20 (Ewald, Mangold, Ritschl, Heinrici, van Rhijn), bald
auf 1 — 15 (Laurent, Hitzig), bald auf 1 — 6. 17 — 20 (Lucht,
LiPSius), bald auf 1—16. 21—23 (Holsten), bald auf 1-16
(Krenkel), bald auf 3 — 16 (Kneucker) erstrecken sollte. Ja sogar
auf Kap. 9—11 (Weisse, Beiträge zur Kritik der paul. Briefe 1867,
S 46 f) oder auf Kap. 12—14 (Straatman ThT 1868, S24f, 55 f.
H. Schultz JdTh 1876, S 104 f) wollte man die Ephesus-Hypothese
ausdehnen, wogegen Rovers (ThT 1868, S 310 f). Kremer (ebend.
1869, S 26 f) und Mangold (S 21 f) aufgetreten sind, während
Renan eine mehrfache Ausstellung des ganzen Briefes durch Pls
selbst annimmt, so dass nach Rom blos die 11, nach anderen Ge-
meinden die 14 ersten Kapitel bestimmt gewesen wären, nach
Ephesus insonderheit mit dem Zusätze 16, 1 — 20 (St. Paul 1869,
S LXVf, LXXIIf, 461 f). Ebenso Sabatier (S 184), während
Schenkel in Kap. 16 ein ostensibles Empfehlungsschreiben der
Phöbe sieht, bestimmt für die verschiedenen, auf der Reise berühr-
ten Gemeinden, also zunächst für Ephesus, zuletzt auch für Rom
(BL y, S 114 f). Baur, Schwegler, Zeller ihrerseits hielten
beide Schlusskapitel fĂĽr einen ausgleichenden , dem Judenchristen-
thum entgegenkommenden Nachtrag aus dem 2. Jahrh. Nachdem
Straatman sich die TĂĽbinger Bedenken angeeignet, jedoch Stellen
wie 15, 8. 15. 16. 23. 25 — 29 für pauhnisches, vom Redactor über-
arbeitetes Material erklärt hatte, hat sich seit 1871 Lucht, der
scharfsinnigste Vertreter der Interpolationshypothese, das Verdienst
einer eingehenden und erschöpfenden Darstellung des gesammten,
der Beurtheilung sich darbietenden Materials erworben, lieber ilm
hinaus sind Volkmar und Schölten gegangen, jener, indem er
Alles, ausser 15, 33 — 16, 2. 21 — 24 für theils in Rom, theils im
Orient hinzugedichtet nimmt (ThJ 1856, S 321 f-, Römerbrief S 55 f,
69 f, 129 f), dieser, indem er den echten Schluss auf 16, 1. 2.
21—24 reducirt (ThT 1876, S 1 f.). Holsten endlich hält den ur-
sprĂĽnglichen Schluss geradezu fĂĽr verloren (Lit. Centralblatt 1875,
S 763; PrK 1885, S 195 f).
Folgendes sind die Hauptpunkte, darum die Debatte sich bewegt, in
welcher nicht blos Advokaten der Ueberlieferung, sondern auch Hilgenfkli»,
Schenkel, PpLErDERER, "Weizsäckkr, H. Schultz, Seyerlen, Reuss, Meykh,
1
Der Briet an die Römer. 4. Integrität des Briefes. 271
''eiss und Mangold als Vertheidiger der Echtheit aufgetreten sind (vgl. die
Lcten des Streites bei H. Holtzmann ZwTh 1874, S 504 f).
1) Während die 14 ersten Kapitel ein wohlgeordnetes, in klare Gruppen
ich auseinanderlegendes Ganzes bilden, beginnt der Strom der Rede von 15,
etwas zu versanden und endlich in verschiedenen Bächen dem Meere sich zu
lem. Der Brief ist fertig und gewinnt doch kein Ende. Der vierfache Schluss
33. 16, 20. 24. 27 fällt auf, zumal in der Verbindung mit der textkritisch
lurchaus unsicheren Stellung der Doxologie 16, 25 — 27 und dem, zwischen die
Griisse gewaltsam hereingezwängten, polemischen Abschnitt 16, 17 — 20.
2) Nach des Origenes Commentar zu Rm 16, 25 — 27 (T. X, 43) schnitt
Marcion den Brief mit 14, 23 ab (dissecuit) und nach Tertullian (Marc. 5, 14)
las er die Stelle 14, 10 in clausula. Möglicher Weise missfielen ihm Stellen
wie 15, 4. 8. 9. 21. 27. Anders läge die Sache, wenn es nicht zufällig wäre,
dass Irenäus, welcher den Brief in seinen übrigen Theilen häufig citirt, gerade
die beiden Schlusskapitel ignorirt, und wenn sich nachweisen Hesse, dass die
abendländische Kirche sie noch im 3. Jahrh. nicht gelesen hat. Doch scheint
schon Tertullian sie zu kennen (Mangold S 36 f), und Can. Mur. mit seiner
viel umstrittenen Behauptung, dass Lucas semote passionem Petri et pro-
fectionem Pauli ab urbe ad Spaniam behandle, auf Rm 15, 24 hinzudeuten, wo
dieselbe ungewöhnliche Form für Hispania oder 'Ißvjpia steht. Ausdrücklich
citirt finden sich Stellen aus beiden Kapiteln erst bei Clemens von Alexandria.
3) Der Abschnitt 15, 1 — 13 soll zwar das Thema von den Starken imd
Schwachen fortsetzen, operirt aber mit neuen AusdrĂĽcken (ocaO-evqji.axa = im-
becilKtates, BovaTot und &S6vaxoi «= firmiores und infirmiores) und scheint jenem
speciellen Gegensatz von 5, deutlicher noch von 8 ab den allgemeineren von
Judenchristen und Heidenchristen zu substituiren (eine Schwierigkeit, die fĂĽr
diejenigen nicht existirt, welche auch schon Kap. 14 nur Heidenchristen und
Judcncliristen, sei es auch essenerartige, sich entgegentretend finden). Dabei
. fallt 4 die Belehrung ĂĽber den Nutzen des AT aus dem Zusammenhang heraus
(Mangold: „Abschweifung"), und die Aufforderung zur hoffenden Geduld in
Leiden, von welchen weder vorher, noch nachher die Rede war, ist lediglich
durch das Schriftcitat und eine Reminiscenz aus 3 veranlasst. In den Zusammen-
hang von 1 und 2 wird dann 5 mit der lexikalischen Verbindung 6 d-tbc, x-yj?
6t:o[xovyj? %al tyj? 7:apaxX*f]aÂŁu>(; zurĂĽckgelenkt, wie auch d-sbq xriq BXTtioo(; 13 nur
formal -an die Schlussworte des vorangehenden Citats anschliesst. Mindestens
beginnt hier die bisherige Geschlossenheit des Gedankenfortschrittes sich zu
I ackern, wenn auch die Citate 9 — 12 durch ihre gemeinsame Beziehung auf 7
l? So^av Toö ^£0ü mehr Halt gewinnen.
4) Manches macht den Eindruck des Entgegenkommens gegen juden-
hristliche Prätensionen. Christus heisst 15, 8 Stdxovo? TCepixo|X'y](; und scheint
zunächst nur um der Juden willen gekommen. Diesen allein gelten hier (anders 12)
auch die Verheissungen. In demselben Zusammenhang ist es gedacht, wenn Pls
19 seine Mission von Jerusalem aus aufiiimmt, wenn 27 die Gemeinde von Jeru-
salem als Lehrerin der Heiden und wenn 29 die Herstellung eines brĂĽderlichen Ver-
hältnisses zwischen Juden- imd Heidenchristen durch die CoUecte als irX*rjpoi}Aa
eiXo^ta? erscheint. Freilich könnten derartige Erscheinungen weniger befremden,
wenn der Brief an eine wesentlich judenchristl. Gemeinde in conciliatorischer
Tendenz gerichtet wäre. Auch 1 Cor 9, 11. 16, 1 f. 2 Cor 9, 12 f. Gal 2, 10
sind die Heidenchristen den Heiligen in Jerusalem verschuldet, und dass die
272 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
Juden wegen der Väter Grottgeliebte seien, sagt Pls auch Rm 11, 28; ja in Stellen
wie 11, 13 f. 17 f. 28 f wird der Heidenmission sogar selbstständige Bedeutung
abgesprochen, sie wird zum Mittel zur Erreichung., des eigentlichen Zweckes,
der Bekehrung Israels. Nimmt man hierzu das 1, 16. 2, 9. 10. 3, 2. 9, 1 — 5.
10, 1 bezeugte heilige Interesse des Apostels fĂĽr sein Volk, so wird man den
Abschnitt von dieser Seite her verständlicher finden.
5) Im ganzen Abschnitte 15, 14 — 28 scheint 2 Cor 10, 12 — 18 nachzu-
kUngen. Auch die Berufung auf die vollbrachten Wunder und Zeichen Rm
15, 19 hat in 2 Cor 12, 12, der Grundsatz Rm 15, 20 jjiy] stc' ^cXXoxpiov â– O-sjxeXtov
oixo8ojJ.(Ju in 2 Cor 10, 15 (ohv. tlc, zä ajULexpa icau/a)jj,s:voi iv äWaxpioic, v.6v:oi(;).
16 (ohv. Iv aXXoTpiü) xavovi) auffällige Seitenstücke. Dasselbe Parallelitäts Verhältnis s
lässt sich sogar noch weiter verfolgen (15, 24. 28 = 1 Cor 16, 6, 7 und 2 Cor
10, 16. Rm 15, 25 = 2 Cor 9, 1. Rm 15, 27 = 1 Cor 9, 11. 2 Cor 8, 14. Rm
16, 16 = 1 Cor 16, 19. 20. 2 Cor 13, 12), und man mĂĽsste sich zuletzt con-
sequenter Weise auch an Rm 14, 13. 15. 21 = 1 Cor 8, 9 f. stossen. FĂĽr
gewisse, häufiger sich einstellende Aufgaben scheint sich Pls stereotype An-
schauungen, Behandlungsmittel und Ausdrucksweisen gebildet zu haben.
6) Die persönlichen Notizen 1,8—15 werden 15, 14 -24 (beziehungsweise
29) nicht blos reproducirt, sondern auch durchweg modificirt. Bezieht sich
1, 8 der Dank des Pls darauf, dass die Leser ĂĽberhaupt Christen sind, was den
Apostel 1, 11. 13 nicht abhält, ihnen tiefere Erkenntniss des Evglms mitzu-
theilen, so ist die Gemeinde dagegen nach 15, 14 auch ohne sein Zuthun voll
aller Trefflichkeit und Erkenntniss, so dass der Brief fast ĂĽberflĂĽssig erscheint.
Daher 15 die Entschuldigung, dass er TöX|jLY)p6x£pov geschrieben habe; aber er
beabsichtigt ja auch nur wieder in Erinnerung zu bringen (ax; STcavafxtfjLVTjaxwv),
was sie längst schon wissen, also nichts Neues zu sagen. Warum Letzteres
ihm nicht zusteht, erfahren wir, wenn als Grund des 1, 13 blos durch Hindernisse
entschuldigten Fernbleibens 15, 20 — 22 die Reflexion geltend gemacht wird,
dass Rom eigentlich ein dem Pls fremdes Gebiet sei. Während daher nach
1, 10 Rom das eigentliche Missionsziel ist, wo er das Evglm predigen will (1, 15),
erscheint 15, 24, 28 als Ziel vielmehr Spanien, das noch unberĂĽhrte, ofiene
Gebiet, und wird Rom nur als Durchgangspunkt, der römische Besuch gleichsam
nur als Höflichkeitsakt, eine römische Wirksamkeit aber als nicht beabsichtigt
hingestellt. Das dieser Tendenz entgegenstehende eitiTCoO-u) yap 't^s^v üjxä? 1, 11
erscheint somit 15, 23 neben lirqv.ixi totcov tyjiov Iv xot? TcXijiaatv zooxoiq nur als
HĂĽlfsconstruction, mittelst welcher sich der Apostel gegen den Vorwurf, den
15, 20 aufgestellten Grundsatz verletzt zu haben, decken will. Doch erträgt
letztere Stelle, wenigstens wenn man statt mit B D F G P cptXoTtfj,oö|j.ai mit K
A C E L <ptXoTi|JLou|j,ÂŁvov liest, auch eine Auffassung, der zufolge Pls die Aussage,
dass er den Orient christianisirt habe, der Wahrheit gemäss dahin beschränken
will, dass er bisher ĂĽberall da, wo ihm noch keiner vorangegangen war, gewirkt
habe. Mindestens beweisen die verschiedenen Gesichtspunkte eine gewisse
Doppelstellung, vielleicht sogar Verlegenheit, in der sich Pls gerade der
römischen Gemeinde gegenüber befand.
7) Der Wirkungskreis des Apostels wird mehr nach der Apostelgeschichte
dargestellt, d. h. es wird 15, 19 vorausgesetzt, dass Pls airö 'lepooaaXYjfx xal xuxXo)
(wie Act 1, 8. 26, 20. Lc 24, 47 f) mit seiner Predigt angefangen habe. Man
mu88 hier den Nachdruck allerdings vom Centrum schon recht kĂĽnstlich nach
der Peripherie (xuxXo?) rĂĽcken, damit als dieser Anfangspunkt Syrien und
Der Brief an die Römer. 4. Integrität des Briefes. 273
Cilicien (Gal 1, 21) gelten können. Und auch an den Endpunkt, d. h. [J-syp'.
xoö 'IXXopixoö reicht 2 Cor 10, 14—16 (vgl. 2, 12. 13. 7, 5. 13, 1) nur bei
ähnlichen Maassnahmen. Höchstens in rhetorischer "Weise rr]v S'.axövtav So^aCcuv
(Rm 11, 13) könnte Pls schon in die als Scheide des Morgen- und Abend-
landes geltende Provinz des Reiches gelangt sein, also den ganzen Orient durch-
messen haben und ebenso jetzt, da er |X7]xÂŁti totiov eyoiv ist (15, 23) im Morgen-
lande, sofort auch das neue Gebiet des Abendlandes in seinem aussersten
Zielpunkte auffassen, indem er et? tyjv Sitaviav strebt (15, 24. 28) — ein Plan,
von dessen AusfĂĽhrung die beglaubigte Geschichte so wenig etwas weiss, als
von dem Aufenthalt in Illyrien. Der Interpolator liess demgemäss den Apostel
bis nach Illyrien gekommen sein, weil derselbe nach Rom wollte, und ihn
nach Spanien reisen, weil er in Rom nicht verbleiben durfte. Um so weniger
scheint freilich 15, 30—33 in einer derartig angeschriebenen Rechnung auf-
zugehen.
8) Mancherlei Anschauungen könnten auf spätere Zeiten weisen. So 16, 1
die erst 1 Tim 3, 11 wieder vorkommende Diakonissin; 15, 16 der XsitoopYo?,
ein Ausdruck, welcher für die Thätigkeit der von den Aposteln eingesetzten
Kirchenvorsteher üblich wurde; auch lepöopYslv und Tcpoo^popa deuten bereits auf
sacrificielle Functionen des Klerus. Aber die Anschauung eines Boten Christi,
an die Heiden, der das Evglm Gottes priesterlich verwaltet, um eine aus den
Heiden bestehende Opfergabe an Gott zu erzielen, fĂĽhrte ungezwungen auf jene
Ausdrücke. Sollte dagegen 15, 20 — 22 wirklich aus einer Auffassung stammen,
derzufolge Rom und Italien einen dem Pls fremden Boden darstellen, nicht zu
seiner Provinz gehören, so dürfte sich der Epilog bereits den Petrus als Stifter
der römischen Gemeinde vorstellen.
9) Es ist schwer zu denken, dass Pls in einer Gemeinde, in welcher er
noch gar nicht gewesen ist, so viele Bekannte gehabt haben sollte, wie nach
16, 3 — 15 vorausgesetzt werden müsste. Sofern in dieser Liste von Notabein
die Namen Junias 7, Narcissus 11, Rufus 13 (vgl. Mr 15, 21), Hermas 14
Xereus 15, vielleicht auch Aristobulus und Herodion als Herodäer-Namen 10. 11
nach Rom weisen, andere auch wirklich auf Grabinschriften aus der ersten
Kaiserzeit vorkommen, könnten sie ja auch der ältesten Localsage entnommen
sein. Andererseits kennt das Corpus inscriptionum graec. Namen wie Hermas
und Narcissus auch in Griechenland und Kleinasien.
10) Die eingeschaltete Warnung vor Irrlehrern 16, 17 — 20 passt schwerlich
in eine Anrede des Pls an die römische Gemeinde vom Jahre 59; zulässiger
ist immerhin die Adresse nach Ephesus (1 Cor 16, 8. 9. Act 20, 29. 30). Da-
gegen erinnert schon 17 an 2 Joh 10. 2 Tim 3, 5 und der Ausdruck tcoieIv toi?
oiyozxa'zirxi xal xa cxavSala icapcc xy]v Z'.^ayxiv r^v ufAsI? eixdO-exs fĂĽhrt auf gnostisi-
rende Häretiker, welche von dem gemeinschaftlichen Glauben abweichen; die-
selben werden 18 ähnlich wie 1 Tim 1, 6. 6, 20 als redefertige (Sia xtj? xP"'1<3'co-
Xo^ta? xai e?)XoYta(; = Col 2, 4 ev uiO-avoXoYiot), aber sittlich verkommene Menschen
beschrieben, und 19 wird mit leisem Anklang an Mt 10, 16 der Gemeinde das
Zeugniss ausgestellt, dass sie bisher von Irrlehren unberĂĽhrt geblieben sei; dies
wieder nach 1, 8, wo aber nur vom Vorhandensein einer römischen Gemeinde,
nicht von ihrer Rechtgläubigkeit Weltbekanntschaft ausgesagt war. Ist der
Abschnitt pseudopaulinisch, so fällt der Verfasser, nachdem er 19 sich in die
Zeit des Pls zurĂĽckzuversetzen suchte, 20 aus der Rolle, indem er unmittelbar
gegenwärtige Kämpfe voraussetzt.
Iloltzmann, Einleitang. 2. Auflage. ]3
274 Besonderer Theil. Die paulinisclien Briefe.
11) Nach Ephesus scheinen auch Aquila und Prisca Rm 16, 3. 4 zu
weisen, da sie sowohl vorher (Act 18, 18. 26. 1 Cor 16, 19) als nachher (2 Tim
4, 19^ daselbst sich befinden-, ebenso 5 die ötirap^*»] t^l? 'Aota? et? Xptoxov. Auf
die Zeit der Gefangenschaft deuten aovar/_jj-aXu)Tot fxoo 7 = Col 4, 10. Phm 23.
12) Auch von Reiche, Krehl, Delitzsch, Pfleiderer, Hilgenfeld, H.
Schultz, Mangold aufgegeben ist die Doxologie 16, 25 — 27, welche in anti-
gnostischem Sinne aus Reminiscenzen an 1, 2. 5. 11. 2, 16. 11, 33. 36 gebildet
ist. An sich könnte sie freilich, wie Eph 3, 20. 21 (vgl. weitere Anklänge Eph
3, 5. 9. 10) beweist, auch am SchlĂĽsse von Rm 14 stehen, ohne dass daraus
etwas fĂĽr die Unechtheit der Schlusskapitel folgte, da dieselben ohnedies als
Nachträge zu betrachten sind. Ueberhaupt dürfte der Schluss des Briefes,
vielleicht auch weil die Abreise der Phöbe sich verzögerte, mit Unterbrechungen
geschrieben worden sein, wesshalb 15, 1 — 3 die Wiederaufnahme des allgemeinen
Gredankens von Kap. 14 erst einen neuen Fluss der Gedanken veranlasst, wobei
der Apostel vielleicht auf Grund neuer und bestimmterer Nachrichten ĂĽber die
Physiognomie der römischen Gemeinde dem Bedürfnisse nach Glättung und
Milderung des Eindruckes, den der Brief machen konnte, nachgab ; hierauf tritt
der Vorsatz, den Brief zu schliessen, 15, 33 noch einmal hervor, aber nur, um
abermals Aufschub der AusfĂĽhrung zu erfahren.
Der Brief an Philemon.
Specialcommentare von Hagenbach (1829), M. Rothe (1844), Demme (1844),
Koch (1846), Ellicott (A commentary critical and grammatical on St. Paul's
epistles to the Philippians, Colossians and to Philemon, 3. Asg 1865), Bleek,
herausgegeben von F. Nitzsch (Vorlesungen ĂĽber die Briefe an die Kolosser, den
Philemon und die Ephesier 1865), J. B. Lightfoot (St. Paul's epistle to the
Colossians and to Philemon 1875, 7. Asg 1884). Dazu H. Holtzmann ZwTh
1873, S 428 f.
Dem als oovspYĂ–g des Apostels (1) ausgezeichneten Philemon,
in dessen Haus ein Theil der Gemeinde sich versammelte (2), war
sein Sklave Onesimus entlaufen (18). Da derselbe anderswo (Col
4, 9) als der Gremeinde zu Kolossä angehörig erscheint, sucht man
ebendaselbst auch den Wohnort seines Gebieters. Weil aber der
Zuspruch an Archippus Col 4, 17 im Gefolge des den Kolossern
und Laodicenern aufgetragenen Briefaustausches begegnet, versetzt
eine Minderheit (A. Maier, Wieseler, Thiersch, Laurent JdTh
1866, S 130) den Philemon sammt Appia und Archippus, die ihm
nach Phm 2 eng verbunden sind (als Gattin und als Sohn?), nach
Laodicea. Dagegen scheint aber so gut wie gegen die gewöhnliche
Annahme der Umstand zu sprechen, dass Pls, der den Philemon
bekehrt hat (19), nach Col 2, 1 weder am einen, noch am anderen
Orte gewesen ist. Demnach muss man entweder unter Voraus-
setzung der Echtheit von Col 4, 9 den Philemon (und wohl auch
Archippus und Onesimus) dem Apostel an einem 3. Orte, etwa in
Ephesus, begegnet sein lassen oder aber unter der entgegengesetzten
Der Brief an Philemon. 275
Voraussetzung ihm geradezu die genannte Stadt als Wohnort an-
weisen (Hitzig, Zur Kritik paulinischer Briefe S 31), wohei sein
Name freilich 2 Tim 4, 19, eventuell auch E,m 16, 3 — 15 vermisst
würde. Spätere Zeiten sehen in Philemon, Archippus und Onesimus
die Bischöfe von Kolossä, Laodicea und ßeröa (Const. ap. 7, 46.
Can. ap. 73).
Erst BaĂĽk hat den Brief angefochten. Das romanhafte Zu-
sammentreffen ganz eigenthümlicher Umstände, das ihm verdächtig
vorkommt, verschwindet ĂĽbrigens, wenn man annimmt, dass Pls
und Onesimus sich schon frĂĽher gekannt haben. Sobald daher der
Flüchtling Reue fühlte oder in bedrängte Umstände gerieth, suchte
er den Apostel auf, der damals gefangen w^ar (1. 9. 10. 23) sei es
in Cäsarea, wohin jener zu Fuss gelangen konnte, sei es in Rom,
wohin über Ephesus von Kolossä der Gelegenheiten viele, und zwar
mit der hier erforderlichen Schnelligkeit, fĂĽhrten (Strabo XIV, 2,
29), und wo auch Versteck und Unterkunft zu finden waren. Der
Apostel aber war nach Act 28, 30 daselbst jedenfalls zugänglicher
als im militärisch besetzten Palast des Herodes in Cäsarea, wo der
Procurator wohnte und nach Act 23, 35 auch seine Gefangenen
verwahrte. Jedenfalls gewann Pls den in der Gefangenschaft be-
kehrten Onesimus lieb (12. 13. 16. 17) und sandte ihn gelegentlich
mit Tychicus (Col 4, 7 — 9) dem Philemon mit einem Privatschreiben
zurück, darin er nach Zuschrift (1 — 3) und Eingang (4 — 7) diesen
ermahnt, dem Sklaven zu vergeben und ihn als Bruder zu betrachten
(8 — 21); an Ankündigung baldiger eigener Ankunft und Herberge-
l)estellung (22) reiht sich der Schluss (23—25).
Da auch Col 3, 22—25 (= Eph 6, 5—9) die Sklavenverhältnisse ange-
legentlichst geregelt werden, könnte man in unserem Briefe eine Exemplification
dazu finden und demgemäss das eigentliche Motiv seiner (nachpaulinischen)
Entstehung in dem BedĂĽrfnisse finden wollen, fĂĽr das schwierige und gerade
innerhalb der christl. Gemeinschaft peinlich empfundene Sklavenwesen eine
apostolische Norm vom idealsten Standpunkte aus aufzustellen. Aber dann
wĂĽrde der Brief an Stelle der lediglich individuellen eine principiellere Be-
handlung erwarten lassen, auch wohl definirbarere Vorschläge machen (Haus-
RATH III, S 362), während er sich in Wirklichkeit gerade auf der paulinischen
Linie 1 Cor 7, 21 f hält (Weizsäcker JdTh 1876, S 20, doch vgl. Ap. Zeitalter
S 565). Dem Briefe, der den paulinischen Ton z. B. 14 und 16 so unnach-
ahmlich trifft, wäre überhaupt nur von einem bestimmten Standpunkte aus, den
die Kritik von Eph und Col gewährt, beizukommen, und auch dann wird es sich
höchstens darum handeln können, ob einzelne Stellen, vor Allem die exegetisch
nicht zu bewältigenden Verse 4 — 6 (= Eph 1, 15 — 17. Col 1, 3. 4. 9) Spuren
«'iner redigirenden Thätigkeit aufweisen, so dass bei aller Originalität Phm doch
auch in dieser Beziehung der 3. im Bunde mit den beiden anderen Briefen
wäre, deren Abfassungsverhältnisse er theilt. Im Grossen und Ganzen aber
IS*
276 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
bildet selbst auf diesem Standpunkte „die lebhafte, gedrängte Sprache das
Gegentheil der oratorischen Breite des Epheserbriefes und der Interpolationen
des Kolosserbriefes" (Hausräte S 363).
Der Brief an die Kolosser.
Specialcommentare von Bahr (1833), Böhmer (1835), Steiger (1835), Huther
(1841), Baumgarten- Crusius (Commentar ĂĽber die Briefe an die Epheser und
Kolosser 1845—46), Dalmer (1858), Bleek (vgl. oben S 274), Ellicott (ebenso)
Lightfoot (ebenso). Klöpper (1882). Dazu H. Holtzmann, Kritik der Epheser-
und Kolosserbriefe 1872. H. v. Soden JprTh 1885, S 320 f, 497 f, 672 f.
Schmiedel EWK Sect. H, 38, 1886, S 138 f.
1. Paulus und die Kolosser.
Die Notizen Phm 2. 10. 11 stimmen zu Col 1, 7. 4, 9. 17 und sichern
beiden Briefen die gleichen Entstehungs Verhältnisse. Dass Phm 23 Epaphras,
Col 4, 10 Aristarch des Pls oüvai)(_jxaXwxo(; heisst, während doch dieser auch
Phm 24, jener auch Col 4, 12 genannt ist, führt nur auf kleine Veränderungen
der unmittelbarsten Umgebung 5 in der weiteren befinden sich auch Marcus,
Demas, Lucas Phm 24 = Col 4, 10. 14. Um so unklarer sind die UrsprĂĽnge,
der Gemeinde in Kolossä. Pls war zweimal in Phrygien gewesen (Act 16, 6.
18, 23). Das erstemal wehrten ihm Weissagungen den Eintritt wenigstens nach
Asia proconsularis, das zweitemal, als er alle vorhandenen Gemeinden besuchte,
Hess er die von seiner Route sĂĽdwestlich abgelegenen Theile, wo Laodicea,
Hierapolis und Kolossae (KoXoaaai, im Yolksdialekt KoXaoaai) zu suchen sind,
unberührt. Das „Städtchen" (Strabo XII, 8, 13 Tr6Xiajj.a, erscheint dagegen bei
Plinius, Hist. nat. V, 41, 145 unter den oppida celeberrima) lag am oberen
Lykus, von welchem rechtwärts Hierapolis (Col 4, 13), linkwärts Laodicea (2, 1.
"4, 13 — 16) als Nachbarstädte die Schicksale Kolossä's theilten. Ein Erdbeben
betraf nach Tacitus (Ann. 14, 27) Laodicea im Jahre 61, nach Eusebius (Chron.
Ol. 210, 4) alle 3 Städte 64, nach Orosius (Histor. 7, 7) erst 68. Daraus ist
kein Schluss zu ziehen, als ob Col etwa vor 61 geschrieben sein mĂĽsste. Da-
gegen ist in Apc zwar Laodicea (3,14 — 22) angeredet, nicht aber das wohl noch
verödet liegende Kolossä.
Da für einen nach Act 18, 23 fallenden späteren Besuch im
Leben des Pls kein Raum mehr ist, so kann Pls die Gemeinde in
Kolossä weder gestiftet, noch auch nur gesehen haben; sonst hätte
er 1, 23 anders gefasst. Damit stimmt Col 2, 1 (vgl. 1, 4. 8. 9),
wonach Pls Kolossä so wenig kannte als Laodicea; dagegen hat
sich um die GrĂĽndung der Kolosser-Gemeinde Epaphras verdient
gemacht, ein Kolosser, der dem Pls besonders nahe gestanden haben
muss (1, 7. 8. 4, 12. 13) und dessen christliche Predigt dieser als
correct anerkennt (1, 4. 2, 6). Die wohl erst nach dem Zeitpunkt
Act 18, 23 gegründete (1, 3—5. 9. 2, 6. 7) Gemeinde bestand
vorwiegend aus Heidenchristen (1, 21. 27. 2, 11. 13) und war von
Anfang an paulinischen Charakters. Daher die grosse Theilnahme
des Apostels (1, 9. 2, 1) für die zu seinem Missionsgebiet gehören-
Der Brief an die Kolosser. 2. Die Irrlehre. 277
den (1, 25) Christen in Kolossä. Gerne möchte er in ihrer Mitte
sein (2, 5), wie auch sie um ihn sich bekĂĽmmern (4, 7). Aber er
ist verhindert (4, 3), gefangen (1, 24. 4, 18); seine Grefangenschaft
theilte eine Zeit lang Epaphras (Phm 23), welcher von Kolossä zu
Pls gekommen war; auf seine Nachrichten hin schrieb der Apostel,
wahrscheinlich durch die Hand des 1, 1 mitgenannten Timotheus
den Brief, welchen sofort Tychicus nach Kolossä brachte (4, 7. 8).
Die Nachrichten des Epaphras scheinen sich hauptsächlich auf das
Eindringen gefährHcher Elemente bezogen zu haben; zwar wai* der
Kern der Gemeinde noch gesund (1, 4 — 8. 2, 5), ihr Friede aber
durch das Auftreten der Irrlehre in bedrohHchster Weise gefährdet
(3, 14. 15).
2. Die Irrlehre.
FĂĽr den jĂĽdischen Charakter der Gegnerschaft, die dem Pls
in Phrygien erwuchs, kann man sich zumeist auf ihre Beobachtung
der Speise- und der Festordnung (2, 16), wahrscheinlich auch der
Beschneidung (2, 11) und des Gesetzes ĂĽberhaupt (2, 14), sowie
der :rapaSoai<; twv av^pwTTCöv (2, 8 =-- Mr 7, 8) berufen. Aber was
ydr vom Inhalte der letzteren weiter erfahren, nöthigt uns über den
gleichfalls der Tradition huldigenden vulgären Judaismus, wie ihn
Pls früher zu bekämpfen hatte, hinauszugehen, trotzdem dass dem
Werthlegen auf den Festkalender Gal 4, 10 und der Unterordnung
dieser Dinge unter den Begriff der axor/sLa toö xöafxoo (Col 2, 8. 20)
Gal 4, 3. 9 entspricht. Die spätere Erscheinung des judenchristlichen
Gegensatzes, mit der wir es hier zu thun haben, greift ĂĽber jene
frĂĽhere und damit auch ĂĽberhaupt ĂĽber die gemeinjĂĽdische Sitte
dadurch hinaus, dass ihr Dogmatismus (vgl. 2, 20) sich auch auf
ĂźpwoK; xal TTĂ–ot? (2, 16) erstreckt; wenigstens letzterer Artikel ist
im Pentateuch nur fĂĽr Priester, Leviten und Nasiraer von (zeit-
weihger) Bedeutung. Auch ĂĽber ihre Geistesverwandten in Eom
gehen diese zu Kolossä auftauchenden Judaisten insofern hinaus, als
jene es nur sich selbst zur Gewissenssache machen, jĂĽdische Fest-
zeiten zu beobachten (Em 14, 5. 6) und Fleisch (14, 2) wie Wein
zu vermeiden (14, 17. 21), während hier eine derartige a^siSta owjiaxo«;
(Col 2, 23) zur Bedingung des Heils fĂĽr Alle erhoben werden sollte.
Daher die Verbote [xtj atj^ijj |j.7]S^ ysootq |A7]S^ O-iyto«; (2, 21), welche
Speise- und Reinigungsvorschriften 2, 8 TrapdSooK; twv avi^pwTrwv und
22 ta ^VTdX[j.aTa xal SiöaoxaXiat twv avO-pwjrwv heissen. Wird ihre
Lehre gleichzeitig eine ^tXooo^ia genannt (2, 8, vgl. 23 aiivd eaitv
X^YOv {JL^ ^x°^Ta oocpia(;), so ist dieser Ausdruck, welchen übrigens
Philo und Josephus auf die jüdische Religion und Theologie häufig.
278 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
zuweilen aber auch auf einzelne Richtungen derselben anwenden,
hier entweder in ähnlichem Sinne zu nehmen, oder er weist auf die
i^eXo^pYjazsta %al TaTistvo^poaovY] (2, 23), die TaTTSLVo^^poaĂĽVYj xal ^p7]a-
xsia zm «yy^Xoov (2, 18), folglich auf eine dualistische Weltanschauung
zurĂĽck, welcher zufolge der dem irdischen Stoff entstammte Mensch
zu niedrig ist, um unmittelbar mit Gott zu verkehren, daher der
Vermittlung angelischer Kräfte bedarf. Wie also praktisch als
Ascese, so stellt sich die Irrlehre theoretisch als Verehrung der
Engel dar. Sie verstieg sich in die transcendenten Regionen einer
höheren Geisterwelt (2, 18) und führte in dieser Richtung Vor-
stellungen mit sich, durch welche die einzigartige Stellung Christi
beeinträchtigt erschien (2, 19 oo xpatwv t7]v xs^aXYJv).
Daraus verstehen sich die christologischen Digressionen, sofern
solche eine Erkenntniss von Christi Person und Werk sicher stellen,
vor welcher die Irrlehre von selbst zu Boden fällt (daher 1, 18f == 2,
9 f. 18 f). Es scheinen also die Engel insonderheit theils an der
Weltschöpfung in einer für Christus präjudicirlichen Weise betheihgt
(1, 17), theils aber auch als active Versöhnungsmittler (1, 18 — 20)
gedacht zu sein, während auf der anderen Seite der Christ vermöge
seiner materiellen Leibesnatur noch unter dem EinflĂĽsse feindhcher
Geisteskräfte steht, welchen er sich durch entsinnhchende Ascese
und (als Symbol dafĂĽr) Beschneidung entziehen muss. Dieser Ver-
kümmerung der Vollkommenheit des Erlösungswerkes durch Engel-
lehre und Engeldienst gelten die antithetisch zu begreifenden Aus-
sagen, dass Christus slxwv toö -O-soö (1, 15) und Wohnstätte des ge-
sammten göttHchen TiX-j^ptoj^a ist, der durch das Blut seines Kreuzes
Frieden und Versöhnung gestiftet (1, 20. 2, 14), dadurch aber auch
allen feindlichen Geistesmächten den Grund etwaiger Ansprüche an
die Gläubigen entzogen hat (2, 15). Indem der Verfasser das, was
die Gegner von der Geisterwelt aussagten, vielmehr auf Christus
bezieht (1, 19. 2, 9), welcher Schöpfer und Erlöser sei, und zwar
auch fĂĽr Engel, so dass diese nicht selbst wieder vermittelnde und
versöhnende Functionen ausüben können (2, 10), greift er zu dem
Ausdrucke TrXTJpcöixa, mit dessen vom gemein neutest. abweichenden
Gebrauche er sich seinerseits der eigenthchen Gnosis nähert.
Diese Irrlehrer haben nach Bleek, Hofmann, Reüss, Weiss mit pharisäisch-
gesetzlichen auch theosophisch-ascetische Elemente verbunden. Mit dem Alexan-
drinismus bringen sie zusammen Schenkel und Koster ; fĂĽr in die christliche
Gemeinschaft ĂĽbergegangene Theosophen und Asceten essenischer Art hielten
sie Flatt, Rheinwald, Credner, Meyer, Ewald, Thiersch, Ritschl, Wittichen,
LiGHTFOOT, Salmon; für christianisirte Essäer Klöpper und Mangold, für mit
Cerinth verwandte önostiker Mayerhoff, Neander undF.NiTZscH; für gnostisirende
Der Brief an die Kolosser. 3. Datum und Inhalt. 279
Ebjoniten Baur, Lipsius, Sabatier, Hoekstra, DAvrosoN, Blom, PpLEroERER und
ScHMiEDEL; fĂĽr theils ebjonitischen , theils gnostischen Charakters Renan und
HiLGENFELD, wahrend die Anhänger der Interpolations-Hypothese unterscheiden
zwischen dem ursprünglichen Bilde essenisch-christlicher Asceten, die ungefähr
auf dem Niveau der ftaO-svoövxE? Rm 14 stehen (Holtzmann S 288, mehr noch
V. Soden S 677 f, 681 f ), und der bestimmteren Färbung angelologisch-dualistischer
Speculation, welche ihm der Ueberarbeiter gegeben hätte; ähnlich Weizsäcker,
Apost. Zeitalter S 563 f.
3. Datum und Inhalt.
Der Inhalt des Briefes, welcher nach 4, 3. 4 (= Act 28, 31).
10 (den Marcus versetzt die altkirchHche Sage nach Rom). 14
(Demas = 2 Tim 4, 10) eher in Eom als in Cäsarea, also nach 61,
geschrieben ward, ist bedingt durch die Gefahr, welche die Irrlehre
den Gemeinden zu Kolossä und Laodicea bereitet hatte. Das Ganze
zerfällt nach herkömmhcher Auffassung in zwei gleiche Theile. Der
1. beginnt mit Gruss (1, 1. 2) und Danksagung fĂĽr den Christen-
stand der Kolosser (1, 3 — 8), dessen fernere Entwicklung in Form
eines Gebetswunsches geschildert wird (1, 9 — 12). "Wie nämlich
Pls sich freut ĂĽber den gesegneten Fortgang des Evglms unter den
Lesern, so ist es jetzt Sache dieser, sich der Wohlthat der durch
Christus reaUsirten Erlösung und Versöhnung in ihrem ganzen Um-
fange immer bewusster, im Glauben und Hoffen immer fester zu
werden (1, 13 — 23). In diesem Zusammenhange tritt der erste
christologische Excurs des Briefes (1, 14 — 21) auf, worin in noch
unausgesprochenem Gegensatze gegen das System der Irrlehrer die
Vermittelung der Gläubigen mit Gott durch Christus gelehrt wird,
der ĂĽberhaupt das Centrum des Universums, das Haupt der Geister-
welt, der Herr der Kirche ist. Nebenbei spricht der Verfasser in
einem Uebergangsabschnitt, darin er persönlich der Gemeinde sich
vorstellt, von seinem apostolischen Berufe (1, 24 — 29) und seinem
darin begründeten Interesse für die Leser (2, 1 — 5). So vorbereitet
geht er nunmehr (2, 6 — 23) zu dem eigentlichen Gegenstande
ĂĽber, um desswillen der Brief geschrieben ist, zu der "Warnung vor
fremden und falschen EinflĂĽssen, welchen die Leser ausgesetzt sind.
In der Entwickelung dieser Antithese des Briefes kommt es zwischen
den parallelen "Warnungen 2, 8 und 16 zu einer zweiten christolo-
gischen AusfĂĽhrung, in welcher gezeigt wird, wie der volle Begriff
des "Wesens Gottes in Christus wohne, welcher das Haupt sei aller
Engel und Geistermächte, so dass künftighin die Gläubigen, als mit
Christus der "Welt abgestorben, ĂĽber die natĂĽrhche Weisheit und
Menschensatzung der Irrlehrer hinaus seien. DafĂĽr sollen sie, wie
> in der praktischen Hälfte (3, 1 — 4, 6) gezeigt wird, in der Gemein-
230 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
Schaft mit dem ĂĽberweltlichen Christus sich als dem Erdendasein
bereits entrückt erachten (3, 1 — 4), alles dessen mit Fleiss sich
entäussern, was jener widerstreitet (3, 5 — 17)^ namentHch aber, im
Gegensatze zu dem unfruchtbaren Ascetismus der Irrgeister, die
Standespflichten und Berufsaufgaben des Lebens richtig wĂĽrdigen
(3, 18 — 4, 1), in der eigenen Mitte den Gebetssinn, nach aussen den
Wandel in Weisheit und Vorsicht pflegen (4, 2 — 6). Zum Schlüsse
folgen noch mancherlei Grüsse und Nachrichten persönlicher Art
(4, 7-18).
4. Echtheit.
Nachdem schon Mayerhoff (Der Brief an die Kolosser mit vor-
nehmlicher BerĂĽcksichtigung der Pastoralbriefe 1838) Wortvorrath,
Ausdrucksweise und Gedankengehalt unpaulinisch gefunden hatte,
begann seit 1845 der regelrecht gefĂĽhrte Feldzug der Kritik, indem
Baür, Schweglek, Planck, K. R. Köstlin, Hilgenfeld, B. Bauer,
HoEKSTRA, Blom, Straatman, Pfleiderer, Hausrath, Davidson,
Thoma, Schmiedel im Col den Uebergang fanden zur Theologie
des 4. Evglms, besonders durch die ĂĽber die paulinische hinaus-
gehende Christuslehre, die nur in einem von gnostischen Ideen
erfĂĽllten Kreise entstehen konnte. Christus erscheine hier als das
allgemeine Centralwesen des Universums (1, 15 — 19), in welchem
sich daher die Gegensätze der Engel- und Menschenwelt und in
letzterer wieder die des Juden- und Heidenchristenthums auflösen
müssen (1, 20 — 22). Eine so hochfliegende, transcendente An-
schauung von der Person und WĂĽrde Christi finde sich nirgends
in den echten Briefen. Unser Brief erscheint wenigstens bei Baur
geradezu als ein Versuch, die paulinische Lehre mit der Logoslehre
auszugleichen, die letztere in den PauHnismus einzufĂĽhren. In Be-
zug auf biblisch-theologische Fragen wird allgemein betont, dass
Christus gegen Rm 11, 36. 1 Cor 8, 6 Weltziel (1, 16. 20 sk
a6TĂ–v),_zusammenhalt ender Weltmittelpunkt (1, 17 toc Tudvia iv aktp
aov^aTYjxev) , Wiederhersteller nicht sowohl der sitthchen Menschen-
natur als vielmehr des Universums (1, 20), ;up(OTĂ–Toxo<; nicht sv
noXkolq aSsX^oig (Rm 8, 29), sondern ;raa7]<; XTLasw? (Col 1, 15) sei, der
in_seinem Kreuzestod nicht blos Menschen (wie Rm 11, 15. 2 Cor
5, 19), sondern auch die höhere Geisterwelt theils mit Gott aus-
gesöhnt (1, 20), theils ihrer Macht beraubt habe (2, 15). Ersteres
kann er nach Rm 8, 3 gar nicht thun, weil im Verhältnisse zu
den Engeln die gemeinsame Grundlage und Voraussetzung des
6{xoiü)[j.a aapxöc afiapriac fehlt. Letzteres wird er nach 1 Cor 15,
Der Brief an die Kolosser. 4. Echtheit. 281
24 — 26 erst als Erhöhter thun, damit Gott sei la :rdvTa Iv Tuäatv 1 Cor
15, 28, während hier die Losung 3, 11 gilt ta Tüavta Tcai Iv Tüäaiv Xptaiö*;.
Die kirchenhistorische Bedeutung des Briefes fand man demgemäss in
seiner friedeschaffenden, ausgleichenden Tendenz, welche sich auch in der Er-
wähnung der petrinischen und paulinischen Gehülfen Marcus (4, 10) und Lucas
(4, 14), sowie in der Betonung der nothwendigen Kircheneinheit (3, 14. 15)
ausspreche. Dieses Argument Baur's ist von Schwegler noch dahin pracisirt
worden, dass Col den Unionsbestrebungen innerhalb der kleinasiatischen Kirche
eingereiht wurde^ welche mit HĂĽlfe des beginnenden Gnosticismus den ursprĂĽng-
lichen Ebjonitismus verdrängt habe. An die Stelle der populären Ausgleichungs-
formel Tcbxt? xal £pYa seien daher auch hier höhere BegrüFe getreten wie ä'(a.Kriy
^-i^vojaK;, ixuaxTjp'.ov. Die Späteren heben mehr hervor, dass die christologischen
Aussagen zwar im Allgemeinen die paulinischen, aber bereits in die Formen
der Gnosis eingekleidet seien, wie es denn namentlich mit der Vorstellung von
der Kirche als einem owjxa und ^XY^pcufia Xpiaxoö, einer Ergänzung des Hauptes
(2, 19) zusammenhängt, wenn der Apostel 1, 24 in mindestens befremdlicher
und an Ignatius (Eph. 21, 1. Smyrn. 10, 2. Polyc. 2, 3. 6, 1) erinnernder "Weise
seine eigenen Leiden als eine die ^X[']/£t(; Xptaxoö ergänzende und auf ihr VoU-
maass bringende Leistung zu Gunsten der Kirche einfĂĽhrt.
Diese Auffassung ist nicht ohnej Widerspruch geblieben, und haben ihr
gegenüber namentlich sämmtliche Commentatoren, aber auch Beyschlag, W. Grimm,
Renan, zuletzt noch (gegen H. Holtzmann) B. Weiss (Biblische Theologie des
NT 4. Afl S 202 f •, JdTh 1872, S 748 f), J. Koster (De echtheid van de brieven
aan de Kolossers en de Epheziers 1877; vgl. dagegen H. Holtzmann ThLz 1877,
S 609 f) und A. Klöpper (Der Brief an die Kolosser 1882; vgl. dagegen
H. Holtzmann ThLz 1883, S 29 f ; ZwTh 1883, S 460 f) die paulinische Origi-
nalität des Briefes empfohlen. Der angeblich conciliatorischen Tendenz des
Briefes widerspreche die Art und Weise, wie derselbe, ohne die mindeste Con-
cession zu machen, gegen den Ebjonitismus der Irrlehrer polemisirt, imd Niemand
habe merken können, dass die in der Personenliste weit von einander getrennten
Namen Marcus und Lucas hier als Symbole der Kirchenunion auftreten sollten.
Der Gnosticismus aber ruhe, namentlich in seiner judaisirenden Gestalt, auf
Anschauungen, die älter als das Christenthum sind. Kein Wunder daher, wenn
des Apostels Polemik gegen einen speciell dem Essäismus entstammten Judaismus
von der sonst bekannten Bekämpfung des pharisäischen Judenchristenthums in
dem Maasse sich entfernt, als der erstere Standpunkt ĂĽber den letzteren hinaus-
reicht. Im Gegensatze zu ganz neuen christologischen und soteriologischen
Theorien sah sich Pls veranlasst, Christi Verhältniss zur Geisterwelt und damit
ĂĽberhaupt seine universale Stellung und kosmische Bedeutung absichtsvoller her-
vorzuheben. Lässt sich eine Ausdehnung des Erlösuugswerkes, wie sie 1, 20
liervortritt, innerhalb der sonst feststehenden Grenzlinien paulinischer Vor-
stcllungsreihen nicht nachweisen, so liegen doch die Elemente zu einer solchen
Erweiterung der Christuslehrc in Stellen wie Rm 1, 3. 4. 9, 5. 1 Cor 8, 6.
10, 4. 2 Cor 4, 4. 5, 19. 8, 9 vor; und dafĂĽr, dass von diesen Ausgangspunkten
('ol Fortsetzungslinien zieht bis zu den Punkten, welche zuvor noch nicht erreicht
waren, lässt sich geltend machen, thoils dass Pls sonst nach dem Grundsatz
l Cor 2, 2. 6 handelt, von welchem aber hier abzuweichen er eben durch die
Natur des zu widerlegenden Irrthums veranlasst war, theils dass weitere Ent-
282 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
Wickelungen einzelner Theile seines Lehrbegriffes überhaupt nicht grundsätzlich
auszuschliessen sind. Schon seit Jahren seinen alten Gemeinden und ihren
individuellen BedĂĽrfnissen entrĂĽckt, wendet der Gefangene seine Aufmerksamkeit
der Gesammtkirche zu (daher exvtXYjoia, nicht mehr IxTcXfjatat) und zieht 1, 24
im RĂĽckblick auf sein langes, drangsalsvolles Berufsleben die segensvollen Resul-
tate desselben fĂĽr die Gesammtheit der Gemeinden in Betracht.
Vermittelungshypothesen gingen von Ewald (Sendschreiben des Pls S 11,
466 f) und Renan (L'antechrist S 91) aus, welche annahmen, dass Timotheus,
der gewohnte Secretär des Apostels, mit der Zeit selbstständiger arbeitete und
als alter ego die Form des gegebenen Stoffes bestimmte. Insonderheit fand der
Erstgenannte die Sprache theilweise unpaulinisch ; so die ungewöhnlichen Wort-
zusammensetzungen und Schwerfälligkeiten der 2 ersten Kapitel, während Pls
später (4, 7. 18) die Feder wieder mehr selbst in die Hand genommen habe.
Aber gerade jene Kapitel enthalten ja den eigentlichen Schwergehalt des Briefes
und sehen es recht deutlich darauf ab, den Eindruck paulinischer Abstammung
zu machen. Schon 2, 1. 5, besonders aber h(<h UabXoq 1, 23 nöthigt die Leser
zur Annahme mindestens eines directen Dictates (dies auch gegen die Annahme
einer redigirenden Thätigkeit des Tychicus und des Onesimus bei Gardthausen
S 298 f), oder aber das so angelegentlich wiederholte l^^twiii]')^ lyw Siaxovo?
(1, 23. 25) verräth die Absicht eines späteren Verfassers, der auf diese Weise
das Seine thut, um dem Briefe paulinische Autorität zu verleihen. Doch
könnte die Lösung des Räthsels auch drittens in einer Aufstellung liegen,
der zufolge der Brief zugleich paulinisch und nichtpaulinisch erscheint (vgl.
unten S 295 f.).
In formaler Beziehung wird apologetischer Seits die „antithetisch-plero -
phorische Sprachweise", die „äusserst schwierige und gedrungene Gedanken-
entwickelung" als charakteristisch für das Sendschreiben zugegeben (Klöpper
S 119, 399) und bewundert, sofern sich darin die „ganze Energie diplomatisch
genau markirender AusdrĂĽcke" (S 348) in eher hyperpaulinischer als unpau-
linischer Weise kund gebe (Koster S 101). AusdrĂĽcke wie cptXococpia, voojAYjvta,
SoYfJLaxtCetv und ^TCO^pT^ai? finden hinlängliche Erklärung aus der Besonderheit
des polemischen Zweckes. Die längeren Wortzusammensetzungen belegt man
mit parallelen Erscheinungen der anderen Briefe, wie ^iXoxifjLeloO-at, -/^priaxoXö^ia,
&itoxapa8oxia, oofJLTcapaXajxĂźdvsiv, hxtpol^o'^Bly, elScuXoXaxpsia, xsvoBo^ca; dem ent-
sprechen hier e!pf]VOTiotelv 1, 20, %i^a\io\o'^ia 2, 4, l^sXoO-pYjaxEta 2, 23, alo^po-
Xo^ia 3, 8. Was gleichwohl Anstoss bereiten könnte, ist nur die unverhältniss-
mässige Häufung der sesquipedalia verba, zumal solcher, die sich sonst bei Pls
nicht finden (vgl. ĂĽbrigens Analogien bei v. Soden S 330 f). FĂĽr den ver-
hältnissmässig kleinen Brief ist es schon viel, wenn er ausser 34 eigentlichen
&Ttai XeY&fJ-eva noch 23 Wörter bietet, die auch sonst im NT, aber nur gerade
nicht bei Pls vorkommen, während eine Reihe von Ausdrücken ganz vermisst
wird, welchen zu begegnen man sonst bei Pls gewöhnt ist; darunter sind auch
Elemente von rein formaler Art, wie jiäXXov, sl jxyj, o^Se, outs, ei ti«;, tl xat,
et Tzoi(;, etuep, iiovoy, ob juiovov 5e . . diXkä v.(xi, eti, oöxext, jJLTjxsxt, xs, die bei Pls
so häufigen Zusammensetzungen mit bizkp, die Folgerungspartikeln 8t6, hioxi, apa,
Äpa ouv. Doch fehlt es nicht an logischen Conclusionen mit ei, y«P> o^v, vöv, also
an der dialektischen Fortbewegung der Gedanken, wenn auch der Stil im All-
gemeinen ruhiger, die Perioden dagegen ausgebildeter sind, als in den erregten
Streitbriefen (v. Soden S 540). Ein Abstand von der aus Gal, Cor, Rm be-
Der Brief an die Epheser. 1. Inhalt. 283
kannten syllogistischen Form des Pls macht sich immerhin fühlbar. „Statt der
Springfedem seiner Dialektik, statt des unruhigen Widerspiels von Thesen und
Antithesen, des Vorwärtsstürmens einer kriegerischen Polemik — ein langsames,
mühevolles Fortschieben von wenig innerlich zusammenhängenden Gedanken, ein
lockeres Aneinanderreihen oft luxurirender WortgefĂĽge, ein liturgischer Erguss
kettenartig angeknüpfter Stimmungsmotive" (Klöpper S 16 im Namen seiner
Gegner redend). Dazu beweist der durchgehende, keine Hoffnung auf Schlichtung
bietende Dissensus der Ausleger darüber, welche der 1, 15 — 19 begegnenden
Prädicate dem präexistenten, welche dem historisch existenten, welche dem
postexistenten Christus zukommen, schon an sich, wie schwankend und undurch-
sichtig das Vorstellungsgebiet, oder wenigstens wie vieldeutig seine Ausdrucks-
weise ist.
Der Brief an die Epheser.
Specialcommentare von HolzhaĂĽsen (1833), Matthies (1834), F. K. Meier
(1834), RĂĽcKERT (1834), Harless (1834, 2. Afl 1858), Baumgarten-CrusiĂĽs (s.oben
S 276), Hodge (1856), R, Stier (Die Gemeinde in Jesu Christo 1848—49, ver-
kĂĽrzt 1859), Bleek (vgl. oben S 274), Ellicott (3. Afl 1864), Ewald (Sieben
Sendschreiben des Neuen Bundes 1870), Dale (1882). Dazu H. Holtzmann
(vgl. oben S 276). Schmiedel (ebenso).
1. Inhalt.
"WĂĽrde uns dieser Brief nicht in der Hinterlassenschaft des
Pls begegnen, so wĂĽrden wir ihn als einen Hirtenbrief von sehr
allgemeiner, vorzugsweise praktischer Natur unter die katholischen
Episteln einreihen. Schon nach der patristischen Exegese zerfällt er
in zwei, durch die Doxologie 3, 20. 21 geschiedene Theile, von
welchen der 1. mehr lehrhafter Art ist, aber doch ganz zur Vor-
bereitung auf den 2., d. h. die ethische Hälfte, dient.
Nach der Zuschrift (1, 1. 2) folgt eine lang ausgedehnte Lob-
preisung Gottes (1, 3 — 14), welche den Lesern zu Gemüthe führen
dass ihr Christenstand nicht eine Sache eigenen Behebens und
Intschhessens, sondern VerwirkHchung eines vorzeitlichen und auf
len Abschluss aller Geschichte zielenden Rathschlusses Gottes ist.
Daran reiht sich (1, 15 — 23) eine Danksagung mit Fürbitte, dass
Gott sie möge erkennen lassen, wie etwas Grosses es sei um diesen
Christenstand und wessen sich die Gläubigen von der Krafterweisung
Gottes, die ja in ihnen die gleiche ist, wie in Christus, versehen
dĂĽrfen. Im unmittelbarsten AnschlĂĽsse hieran wird die Versetzung
in solchen Stand als eine der Auferweckung Christi gleichkommende
Erweckung aus dem Sündentode durch eine grosse Tliat göttlicher
Macht und Gnade beschrieben (2, 1 — 10) und auf diese Weise eine
Erinnerung an die Heidenchristen motivirt (2, 11 — 22), dass sie
dem heilsgescliichthchen Gemeinwesen zuvor fremd waren und ihren
Eintritt nur dem, die Scheidewand zwischen Israel und der Völker-
284 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
weit niederreissenden, Kreuzestode Christi zu verdanken haben.
Alle diese AusfĂĽhrungen, in denen nach 3, 4 der Schwergehalt des
Briefes ruht, werden schliesslich noch sicher gestellt durch Hin-
weisung auf den gefangenen Apostel, welchem die Heidenchristen
die Bekanntschaft mit jenem, fĂĽr die Menschen- und Geisterwelt so
bedeutungsvollen, Greheimnisse von der Aufnahme der Heiden in die
göttliche Heilsgeschichte verdanken (3, 1 — 19). Die Ermahnungen
des praktischen Theiles werden zunächst (4, 1 — 16) aus dem Wesen
der neuen Gemeinschaft abgeleitet, in welche die Leser herĂĽber-
getreten sind, und fordern demgemäss ein der grossartigen Einheit
des Leibes Christi entsprechendes und dieselbe bewahrendes Liebes-
verhalten der Einzelnen unter sich und ein durch das organische
Ineinandergreifen Aller dem Ganzen zu Gute kommendes Streben
nach christlicher Vollreife. Insonderheit muss ihr jetziger Wandel
das reine Widerspiel sein von dem früheren heidnischen (4, 17 — 5,
20) und die christHche TĂĽchtigkeit sich in richtiger WĂĽrdigung der
natürlichen Gemeinschaftsverhältnisse und Berufskreise bewähren
(5, 21 — 6, 9). Bei dem Allem aber ist und bleibt des Christen
Leben ein beständiger Kampf wider die Mächte der Finsterniss;
dazu und zum Gebet wird noch aufgefordert (6, 10 — 20). Briefliches
macht den Schluss (6, 21 — 24). Die Einheit des die ganze persön-
liche Welt umfassenden Heilsplans, die Zusammenfassung der bis-
herigen, in Heidenthum und Judenthum getrennt gewesenen Mensch-
heit ist der durchschlagende Gedanke, die höchste Idee sowohl im
dogmatischen, wie im ethischen Theil (2, 13 — 22. 3, 6. 4, 3 — 6).
2. Die Adresse.
1) Der Adresse zufolge ist der Brief gewidmet lotc aYiotc toic
o\i(5i\f £v 'E^sacj) xal maroic sv Xpiaiij) 'lyjaoö (1, 1). Nun hatte Pls in
Ephesus Jahre lang (Act 19, 10. 20, 31) gewirkt, zuerst unter
Juden, dann auch unter Heiden (19, 9. 10. 17), aber vorzugsweise
bezeugt ist das Vorhandensein eines starken judenchristHchen Ele-
mentes in Ephesus (18, 19. 20. 19, 8. 13—16. 34. 1 Cor 16, 9.
Apc 2, 1. 2. 6). Als Leser unseres Briefes dagegen sind blos
Heidenchristen gedacht (2, 1. 2. 11—13. 19. 3, 1. 6. 4, 17. 22.
5, 8), sei es nun, dass das *^{jl£i? im Gegensatze zu ujjlsi«; die Juden-
christen (gewöhnliche Auffassung) oder Juden- und Heidenchristen
zusammen (Hofmann IV, 1, S 64) oder bald das eine, bald das
andere bedeute (Kiene StKr 1869, S 297 f). Der ganze Abschnitt
4, 25 — 6, 9 enthält eine Art von Gesetzgebung und Sittencodex
fĂĽr das Heidenchristenthum (Ewald S 160).
Der Brief an die Epheser. 2. Die Adresse. 285
Von einer persönlichen Bekanntschaft dieses Publikums mit dem Verfasser
begegnet nirgends eine Spur. Vielmehr kennt man sich gegenseitig nur vom
Hörensagen (1, 15. 3, 2). Auf das Lesen und Studiren seines Briefes werden
3, 4 die Angeredeten hingewiesen, um sich von der Competenz des Verfassers
in Sachen christl. Wahrheiten zu ĂĽberzeugen : und als ob er es selbst nicht wissen
könne, setzt er 4, 21 zu E|xaO-cX£ xov Xp'.axov ein tX-^z aüxöv vjxooaats. Daher
nach Theodor von Mopsuestia und Theodoret die Epheser dem Pls noch per-
sönlich unbekannt gewesen sein sollen, als er an sie schrieb. Neuere Versuche,
jenen Stellen theils eine mildere Deutung zu geben, theils sie als Ironie zu fassen,
theils ihnen die Beziehung auf die Vergangenheit abzuerkennen, haben den be-
stimmten Wortlaut gegen sich. Je lebhafter das Interesse ist, welches der
Schreibende sowohl selbst an dem Leserkreise nimmt, als auch bei diesem be-
ansprucht (1, 15—18. 3, 1. 13—19. 6, 10. 19—22), desto befremdlicher wirkt
der Mangel aller GrĂĽsse an einzelne Christen (wie ganz anders der hypo-
thetische Epheserbrief Rm 16, 3 — 16) oder von einzelnen Freunden, die, wie
Timotheus und Aristarch mit dem Apostel in Ephesus gewesen waren (1 Cor
4, 17. Act 19, 29) und zur Zeit der Briefabfassung seine Umgebung bildeten
(Col 1, 1. 4, 10. Phm 1.). Die herkömmliche Ausrede, Tychicus werde nach 6,
21. 22 alles Persönhche mündlich besorgen, verfängt nicht, da er ja gleichzeitig
auch einen anderen Brief ĂĽberbringt (Col 4, 7. 8), in welchem derartige Be-
grüssungen nicht überflüssig erschienen (4, 10 — 17). Und w^as wollen nach
lauter allgemeinen Erörterungen und Ermahnungen die kurzen Grüsse Eph 6
23. 24 besagen, wo so innige Beziehungen statt hatten wie die Act 20, 17 — 38
beschriebenen !
2) Aeussere geschichtliche Thatsachen bestätigen den befremd-
hchen Eindruck. Sowohl Marcion als sein Gegner TertulHan haben
im Eingange des Briefes keine Adresse gelesen. Denn wenn jener
ihm die wahrscheinlich dem Eindrucke von Col 4, 15. 16. (2, 1)
entstammte Adresse :rpö<; Aao5i%sa<; lieh (Tertull. Marc. 5, 11.
Epiph. Haer. 42, 9, wozu vgl. Hilgenfeld S 51), so macht dies
auf TertuUian keineswegs den Eindruck der Fälschung (vgl. S 145)
sondern nur der Affeetation besonderer Gelehrsamkeit (Marc. 5,
17 quasi et in isto diligentissimus explorator). Aus einem von
A. Gramer (Catenae VI, S 102) mitgetheilten Fragment aus dem
Commentar des Origenes geht bevor, dass dieser nur die Worte las
Tol? ol^iok; toi? ouat xal Tctatot«;. Nach BasiHus (Eunom. 2, 19)
nennt Pls die Christen övrac, weil sie auf wahrhafte Weise durch
Erkenntniss tcj) ovtt geeinigt seien (oorto Yocp xal ot Tupö ii\Lm Ttapa-
SsSwxaat xal Yjjtsi^ Iv tote i:aXaiotg twv avrtYpa'^wv ei)p7jxa|iÂŁv), und in
>< und B ist iv 'E'f^acj) in der Tliat erst nachträglich eingefügt.
Auch Hieronymus thut im Commentar zu der Stelle der basiliani-
schen Deutung Erwähnung (ab eo qui est hi qui sunt appellantur).
3) In neuerer Zeit hat man die Schwierigkeiten der Adresse
bald durch Annahme von Textverderb niss oder willkĂĽrhcher Aus-
lassung, bald durch neue Uebersetzungsversuche des ooaiv ohne iv
286 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
'E'f^a(p abhelfen wollen, wie „den Heiligen, die es in der That sind"
(ScHNECKENBURGER, Beitr. S 133), „an sämmtliche da seiende Heilige
und Griäubige" (Matthies), „an die Heiligen, welche auch Gläubige
sind" (Hofmann, Weiss). Aber abgesehen davon, dass es keine
f^Ytacj{jL£Voi gibt, die nicht auch Jütarol sv XpLorij) 'Itjcjoö wären, kann
der Brief doch wohl nicht an alle Heiligen und an alle Grläubigen
gerichtet sein. Ein einigermaassen abgegrenzter Leserkreis wird
1, 15. 16. 2, 11. 19. 3, 1. 4, 20 vorausgesetzt (auch in Ermah-
nungen wie 4, 28. 5, 4. 18). SchHesslich kann der Schreiber zoIq
oootv nicht anders gemeint haben, als so, dass es, wie in den Parallel-
stellen Em 1, 7. 2 Cor 1, 1. Phl 1, 1, die Ortsbestimmung auf-
nehmen sollte.
Allen anderweitigen Erklärungsversuchen ist noch immer voraus die von
Beza und Grotius angedeutete, von Usher (1650) begrĂĽndete Hypothese, wornach
der Brief ein Umlaufschreiben gewesen wäre. So J. D. Michaelis, Schmidt,
HuG, Eichhorn, Flatt, H. A. Schott, A. Maier, Credner, Thiersch, Neander,
Anger, Kiene, Wiggers, J. P. Lange, Langen, Renan, Schenkel (Christusbild der
Apostel S 88, anders BL 11, S 124) und sogar Weiss (Theol. des NT S 202). Den
Umstand aber, dass diese Adresse frĂĽh schon fehlte, muss man entweder dahin
deuten, dass der Apostel gleich von vom herein mehrere Exemplare habe
schreiben lassen (OlshaĂĽsen, RĂĽckert); oder aber, da in diesem Falle zu er-
warten wäre, dass sich auch Spuren von den übrigen Adressen erhalten hätten,
dass die Adresse in blanco gelassen wurde, um jedesmal in entsprechender
Weise ausgefĂĽllt zu werden (Westcott und Hort, auch Chr. Hoffmann, Bibel-
fbrschungen II, 1884, S 166). Neben dem Typus, welcher gar keine bestimmte
Adresse nannte, wĂĽrde sich letzteren Falles ein anderer gebildet haben, welcher
hinter xolq oöoiv gleichsam als exemplificirendes Muster der Ausfüllung die Worte
Iv 'EcpsaĂĽ) brachte, zumal wenn der Brief fĂĽr diese G-emeinde in erster Linie be-
stimmt war ; vgl. W. SeĂĽfert ZwTh 1881 S 183. Vielleicht besitzt man aber auch
noch wirklich eine Spur von anderweitiger Adresse in dem besprochenen marcio-
nitischen Titel. Schon vielfach hat man in Eph geradezu den Col 4, 16
signalisirten Laodicenerbrief finden wollen (Mill, Wettstein, Holzhausen,
Räbiger, Laurent, Klostermann, Grau, aber auch Baur, Yolkmar, Hausrath) ;
insonderheit nahmen Bleek (S 593, 596 f; Die Briefe an die Solosser etc.
S 181 f) und Kamphausen ( JdTh 1866, S 742 f ) an, unser Brief sei zwar nach
Laodicea gesandt, und zwar ausschliesslich dahin, später aber auf irgend einem
Wege von den Ephesern annectirt worden. Als eine an die phrygischen Ge-
meinden gerichtete Encyklica, die u. A. auch nach Laodicea und von da (daher
Col 4, 16 tY]V ex AaoSixsta?, nicht tyjv sl^ AaoSty.etav) nach Kolossä gelangen
sollte, fassen den Brief Reuss (Ep. Paul. II, S 153 f), Sabatier (S 209 f) und
W. Schmidt (bei Meyer zu Eph S 17). Einen Schritt weiter gehend zählt
Hofmann (S 154, 177) Ephesus und Laodicea in gleicher Weise zu den Be-
stimmungsorten des Briefes. Dies aber fĂĽhrt auf eine Reihe, welche an die
7 Gemeinden Apc 1, 11 erinnert, sofern deren Cyclus von Ephesus eröffnet
(2, 1) und von Laodicea beschlossen wird (3, 14). Dann hätte Tychicus die
Aufgabe gehabt, sowohl die 7 Gemeinden (Eph 6, 22), als speciell die Kolosser
Der Brief an die Epheser. 3. Echtheit. 287
(Col 4, 8) ĂĽber die Lage des Apostels zu beruhigen; an letzterem Orte sollte
man sich die, durch Tychicus schon zuvor von Ephesus aus in Umlauf ge-
setzte, Encyklica verschaflfen, sobald selbige an der Endstation Laodicea ange-
langt sein wĂĽrde.
3. Echtheit.
Zum Vorspiel des kritischen Prozesses gehörte es, wenn üsteri
(PauKnischer Lehrbegriff 1824, S 2 f ) und de Wette (1826) Zweifel
äusserten, die bei Letzterem mit der Zeit bis zur Ablehnung der
pauHnischen Authentie sich steigerten (Ex. Handbuch IT, 4, 1843).
AehnHch stand Schrader (V, 1836, S 175 f), während Schleier-
macher auf die Meinung gerieth, der Apostel habe, nachdem er
Col geschrieben, einen seiner GehĂĽlfen, den Tychicus, aufgefordert,
einen ähnhchen Brief an eine andere Gemeinde zu richten (Einl.
S 165 f, 194). Noch bedeutend verschärft wurden aber die Zweifels-
gründe von Baur, Schwegler, Planck, K. R. Köstlin und Zeller,
welche die zeitgeschichthchen Beziehungen auf Gnosticismus und sogar
auf Montanismus betonten. Ohne diese BegrĂĽndung durchweg zu theilen,
haben den Brief dem Pls entschieden aberkannt Ewald, Renan,
Davidson, Hausrath, Hilgenfeld und in Folge neuer eingehender
Untersuchungen Hoekstra (ThT 1868, S 599 f). Hitzig (Zur Kritik
paulinischer Briefe 1870, S 22 f), Honig (ZwTh 1872, S 63 f),
O. Pfleiderer (Der Paulinismus 1873, S 28, 431 f), Weizsäcker
(S 330 f, 561 f, 693 f), welchen sich Schölten, Yolkmar, Lucht,
Holsten, Blom, Straatman, Ritschl, Mangold, A. Krauss,
C. Hase, Weiffenbach, H. v. Soden, Thoma, Seufert, Schmiedel
gelegentlich angeschlossen haben.
Die Sätze der apologetischen Kritik (hier auch vertreten von Theologen
wie RücKERT, Räbiger, Krenkel, Klöpper, Reuss, Schenkel) erstrecken sich
hauptsächlich auf folgende Punkte:
1) Die Klarheit der geschichtlichen Verhältnisse. Der Brief ist nach 6, 21
durch Tychicus nach Ephesus gebracht, gleichzeitig mit Col (vgl. Eph 6,
22 — Col 4, 8) und Phm (vgl. S 276). Pls hat befriedigende Nachrichten aus
Ephesus empfangen, aber es fehlt noch am rechten Greist der Einheit (2, 11 f.
4, 1 f) und an entschiedenem Bruch mit heidnischen Unsitten (4, 25 f. 5, 3 f).
Andererseits ist freilich der Brief durchaus nicht so durchsichtig wie die frĂĽheren
und zweifellos echten Sendschreiben. Er bewegt sich ganz in Betrachtung
einer allgemeinen Situation der Kirche. Der Heidenapostel redet zu Heiden-
christen, welchen er eine Zi^fxy^'q zukommen lässt, ähnlich der im Namen der
Zwölfapostel überlieferten Schrift (S 113). Daher erscheinen auch die Leser
mehr wie eines Predigers Publikum, welchem die Einheit der christlichen Kirche
und die daraus sich ergebenden Folgerungen und Pflichten zu GemĂĽthc gefĂĽhrt
werden sollen.
2) Der Geist und Charakter der Schrift. Selbst de Wette findet ihr
den Stempel des apostolischen Zeitalters aufgedrĂĽckt (1. Afl S 264). Aber es
288 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
handelt sich hier um das Gepräge des paulinischen Greistes, dessen theilweiser
Mangel durch beständige Einschärfung der amtlichen Stellung des Verfassers
(3, 1 — 3. 7. 4, 1. 6, 20) wenigstens nicht ausgeglichen "wird. Eher steht es einem
Späteren zu Gesicht, welcher auf die Ergebnisse des bereits abgeschlossenen
Werkes des Pls zurĂĽckblickt, wenn 2, 20. 4, 11 in rein objektiver Art von den
Aposteln die Rede ist. Speciell die ganz unpaulinische Bezeichnung ot
5r(ioi aizoQ'zokoi 3, 5 erklärt sich auf natürliche "Weise nur als rhetorisches
Produkt einer Zeit, die den Aposteln bereits ferner steht und mit um so grösserer
Ehrfurcht zu ihnen als der Lehrautorität der kanonischen Epoche des Christen-
thums hinaufblickt (vgl. oben S 125 f). Die Annahme einer Glosse (Reuss, Ep.
Paul. II, S 162) hilft nicht ĂĽber den Anstoss hinweg, sofern dieser den ganzen
Zusammenhang betrifft, zumal die Erinnerung an seine Vergangenheit (3, 8
6 l:\ayiQz6xtpoc, udvxtov aYituv, unmotivirte Steigerung des wohl motivirten hluyiczoc,
T(Lv ^TToaxoXajv 1 Cor 15, 9) und die wenig geschickte Berufung auf seine Ein-
sicht in den göttUchen Rathschluss, von welcher die Leser sich (aus der Leetüre
von 2, 11—22) selbst überzeugen können (3, 4). Während der geschichtliche
Pls und die Urapostel getheilte Arbeit treiben und jener in zeitweiligem Gegen-
satze zu diesen wirkt, besitzen Eph 3, 6 alle Apostel in gleicher Weise die
Einsicht in das Geheimniss der Gleichstellung der Heiden mit den Juden im
Gottesreich und bilden 2, 20 als einheitliche Kategorie gedacht den Grundstein
des Gotteshauses (vgl. dagegen 1 Cor 3, 11).
3) Der grossartige, dem paulinischen Lehrbegriffe ganz angemessene Inhalt.
Allerdings ist die im Briefe gefeierte Kirche 1, 23. 4, 12. 16. 5, 23 acüfj.«
XptGxoö, wie 1 Cor 12, 27. Während aber für Pls die gläubigen Individuen
zusammen ev ocojxa Iv Xpioto) sind (Rm 12, 5. 1 Cor 12, 13), Christus daher
nicht sowohl xscpaXYj, als vielmehr das den Leib beseelende TCvsöjxa (1 Cor 6, 17.
12, 13) ist, ist er Eph 4, 15. 5, 23 der Kirche als seines Leibes Haupt, bildet
mit ihr eine organische Einheit, wie Mann und Weib (5, 28), wozu 1 Cor 11,
3 den Anlass und Uebergang bot. Was so die Kirche ideell ist, ein vom
Haupt aus belebter und durchdrungener Organismus (Eph 4, 12 — 16), dazu
sollen die Glieder, ein jedes an seinem Theile, sie reell machen (4, 13). Wie hierin
der praktische, so gipfelt der theoretische Gehalt des Briefes durchaus in der
speculativen Durchbildung des Begriffes der Universalkirche im Gegensatz zu
den bei Pls gewöhnlich begegnenden IxvtXTjaiat, Localgemeinden (vgl. A. Krauss,
Das protestantische Dogma von der unsichtbaren Kirche 1876, S. 134 f, 138 f).
Geht die Auffassung unseres SchriftstĂĽckes auf diesem Punkte ĂĽber Pls hinaus,
80 findet sich andererseits 2, 8—10 dieselbe Zurückstellung, zwar nicht der
Gnaden- aber der Glaubens- und Rechtfertigungslehre, die in Verbindung mit
steigender Betonung der epya so charakteristisch fĂĽr den kirchl. Instinkt
des werdenden Katholicismus ist. Dazu eine Christologie, deren Tragweite das
individuelle Bewusstsein des Pls als einen Widerspruch mit seinen eigenen
theologischen Prämissen empfunden hätte (Eph 1, 10. 21. 5, 5 gegen 1 Cor 15,
24—28). Der Brief feiert bereits den Sieg der Sache, in deren Entwicklungs-
krisen der paulinische Lehrbegriff entstanden ist. Der uns bekannte Pls steht
auf jeder Station seines Lebens mitten in der Arbeit am unfertigen Werke,
und die 5 Jahre, welche nach seinen grossen Briefen liegen, haben darin schwer-
lich eine Aenderung gebracht, in deren Folge z. B. die Gal 3, 13 ausgesprochene
Abrogation des Gesetzes durch den SĂĽhnetod des Sohnes Gottes zu einer Abro-
gation der den Heiden verhassten Lebensordnung des jĂĽdischen Volkes, zu
Der Brief an die Epheser. 3. Die Echtheit. 289
einer Aufhebung des n.to6xoiy[ov xöö cppaYjjLoö und dadurch zum Motiv der Ver-
einigung der bisher getrennten Theile der Menschheit im einheitlichen owjjia
der Kirch^ (2, 14—16. 18), jener Tod selbst aber zu einem Opfer behufs Weihung
dieser Kirche geworden wäre (5, 2. 25 — 27).
4) Sprachvorrath und Periodenbau. Bei den durchgehenden Anklängen
an die bekannte paulinische Art mĂĽsste der Verfasser, wenn er nicht Pls selbst
gewesen sein sollte, diesen mit unbegreiflichem GlĂĽck nachgeahmt haben. So
begegnet das bei Pls so beliebte Bio, das selbst in Col fehlt, in Eph fĂĽnfmal;
20 Wörter stehen im NT nur in den bisher betrachteten Plsbriefen und in Eph.
Andererseits begegnen an letzterem Orte allein 40 ocTra^ Xs^ojAsva und 44 Wörter,
die im NT gerade nur bei Pls nicht zu finden sind — Verhältnisse die im
Einzelnen vielfach auf zufälligen Ursachen beruhen mögen, im Ganzen aber den
Ijesonderen Griffel kennzeichnen, welchem so durchaus eigenthĂĽmliche Ver-
bindungen oder Formen angehören, wie ta uvco/xaxtxa xy]«; 7tov7]pia(; (6, 12),
u^a^bq ^p6<; xc (4, 29), a.'(a::ä.v xtjv IxxXtjowv von Ohristus (5, 25), ocYai^äv xöv
xup'.ov (6, 24, wie 2 Tim 4, 8. 1 Pe 1, 8, während Pls sagt a-^aKäv xöv d-sov
Rm 8, 28. 1 Cor 2, 9. 8, 3), 4] ä-^irx iv.y.XYjo:« (5, 27), xa xaxwxepa (fJ-ep*^) rrj«;
*i"^? (4, 9; vgl. Phl 2, 10 xaxay^ovtoi), toxs '(ivixiOv.ov'ZB(; (5, 5), jJLsö-oSsia xoü 8ia-
^öXoo (6, 11; Pls sagt überhaupt nicht h6t.'^o'ko<;, wie hier auch 4, 27, oder gar
apywv TTj? I^oüoiac; xoü aepo?, wie 2, 2, sondern aaxavä<;), SiSovai xiva xi (1, 22.
4, 11), ^YttiiY) }XÂŁxa TzioxBUic, (6, 23, welche Formel in bezeichnender Weise ver-
mittelt zwischen der paulinischen uioxk; ot' a-^ĂśTz-riq Gal 5, 6 und |XÂŁTa Kioxeco?
xal a.-^6.Tzti<; 1 Tim 1, 14), avefxoi; zri<; St^aoxaXta? (4, 14), "rifxspa a7coXĂĽxpa)aÂŁU)(;
(4, 30; Pls sagt xup'lou 1 Cor 5, 5). Statt ohpavoq oder oĂĽpavot sagt Eph auf-
fälligerweise lä litoüpavia (1, 3. 20. 2, 6. 3, 10. 6, 12), und durchaus eigen-
thümlich sind die Formeln fic, Tzäoac, xa<; -^Bveäq xoö alüivoc xüiv aia>vu)V 3, 21
(Pls kennt weder •^tvsaX xoö alcüvo? noch einen alu>v xwv aitovcDv), aluive? e7iep)r^6-
|xevoi (2, 7, wofĂĽr das NT sonst sagt alojv tpyoix^voq), tp-^a axap^a (5, 11, wozu
der positive Gegensatz Tit 3, 14 sich findet; bei Pls nur voö? axapKo^ 1 Cor
14, 14), 7tvÂŁĂĽp,a xoĂĽ vo6<; (4, 23) u. a. Das Hauptgewicht der Entscheidung ruht
indessen erst auf dem Gebiete der Wort- und Satzverbindung. Längst haben
die Exegeten diese gewaltsame Häufung von Substantiven, diese dunkle und
nicht immer gerade durch Ueberfluss von Stoff und Gedanken motivirte FĂĽlle
des Ausdrucks, den breiten, wortreichen und tautologischen, oft schwĂĽlstigen
Ton, die mit Zwischensätzen überladene, ungelenke Schreibart, infolge deren oft
Sätze wieder aufgenommen werden, die man bereits vergessen hat, bemerkt und
liervorgehoben. Alle Berufungen auf „hohen Stil", „freien Schwung der Ideen",
„kühne Tropen" und „ausgesuchte Redensarten" können die Thatsache nicht
aufliel)en, dass gegenĂĽber der scharfen, markirton Schreibweise, dem lel)ondigen
dialektischen Gange in Rm das Einschachtelungssystcm der Perioden in Eph
sehr weit geht. Finden sich ähnliche Ungefügigkeiten auch da und dort in den
un])e8trittenen Briefen des Apostels, so bildet „jene endlose und zutällige Satz-
verbindung, die durch immer neue Relativa oder Participia den Gedanken nach
einer anderen Richtung weiterspinnt" (Schmiedel S 141), hier geradezu die
Kegel. Mit einem unmässig langen Satze hebt der Brief 1, 3 — 14 au, und da
2, 1—10 syntaktisch und logisch eng mit 1, 15-23 zusanmienhängt, stellt im
Grunde auch 1, 15 — 2, 10 eine einzige Periode dar. Die Gruppe 3, 1 — 12
besteht zwar aus zwei Sätzen 3, 1 — 7 und 8-12, aber der zweite ist nur die
Wiederaufnahme eines im ersten schon vierfach (3, 2. 3. 5. 7) angelegten öe-
Uolt/. mann, Einleitung. 2. Auflage. |9
290 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
dankens, und in der schon an sich schleppenden Periode 3, 14—19 findet vollends
3, 1 Wiederaufnahme. Fernere Beispiele liefern Stellen wie 4, 11 — 16. 17 — 19.
20—24. 5, 18—21. 6, 5—8.
5) Das Zeugniss der Tradition. Die unleugbar schriftstellerische Ver-
wandtschaft mit 1 Pe (wo Eph benutzt ist nach H. Holtzmann S 259 f; das
umgekehrte Verhältniss statuiren B. Weiss, 0. Pfleiderer, Hilgenfeld, David-
son, Honig, Koster S 207 f ; dagegen streitet Seufert für Identität des Ver-
fassers beider Schriften ZwTh 1881, S 178 f), mit Lc und Act (H. Holtzmann
S 250 f ) und mit Clemens (ebend. S 276 f ; ZwTh 1877, S 394 f. Hofmann V,
S 24 f) wird noch immer nicht allenthalben auf ĂĽbereinstimmende Weise be-
urtheilt und erklärt. Um so gewisser haben den Brief gekannt Hermas (Mand.
ni, 4 = Eph 4, 30), Justin (Dial. 39. 87 = Eph 4, 8. Dial. 120 = Eph 1, 21),
Polycarp (1, 3. 12, 1 = Eph 2, 8. 9. 4, 26) und Ignatius (Eph. 2, 2 naoXoo
oufX|j.6oTai o? Iv Tzdo'Q hmoToX'Q juivYjfxovsus: ĂĽ/xwv == Eph 3, 4-, vgl. Zahn, Ignatius
S 612). Marcion hatte den Brief in seinem Kanon; die Valentinianer beriefen
sich mit unverkennbarer Vorliebe auf^ ihn, und zwar scheint es fast, als sei der-
selbe in ihrer Schule förmlich commentirt worden (Heinrici, Die valentinia,nische
Gnosis und die h. Schrift S 184 f, 192).
4 "8^ Der Mangel an Tendenz und Spuren späterer Zeitverhältnisse. Nirgends
werden mit Schärfe streitende Parteien gezeichnet, deren Versöhnung etwa
Veranlassung oder Zweck des Briefes hätte sein können. Ebenso wenig werden
bestimmte Wege zur Herbeiführung oder Förderung einer solchen Einheit ge-
bahnt, und die sittlichen Ermahnungen sind ganz allgemeiner, den Voraus-
setzungen der Tendenzkritik widerstrebender Art. „Mit Sicherheit kann con-
statirt werden, dass der Stand der Parteien derselbe war, wie in den Tagen
des Pls" (Koster S 40). Aber die Christenheit, wie sie sich von dem Zeit-
hintergrunde unseres Briefes abhebt, kennt thatsächlich keine Streitfragen, wie
die um die Geltung des Gesetzes und um Dass oder Wie der Zulassung der
iSeiden mehr (2, 11 — 22); dagegen wird in Eph nicht blos mannigfache Lockerung
des paulinischen GedankengefĂĽges zu Gunsten eines mittleren Durchschnitts von
Lehre beobachtet, sondern 4, 13. 14 auch bereits gewarnt vor LehrwillkĂĽr und
Umherschwanken zwischen verschiedenen Systemen, wie solche mit den ein-
fachen Gegensätzen des apostolichen Zeitalters nichts zu thun haben, um so mehr
aiier an Betriebsamkeit und Concurrenz der gnostischen Schulparteien erinnern
(Ewald, Sieben Sendschreiben S 192). Dem Wechsel menschlicher Irrlehre
gegenĂĽber soll die Kirche, deren Verwirklichung sogar Gegenstand und Ziel
eines vorweltlichen Bathschlusses Gottes ist (1, 4—11. 3, 9 — 11), eine voll-
kommene Einheit des Glaubens und der Verfassung darstellen (4, 5. 6). Dabei
geht aber schon Alles irdischer und menschlicher zu. Die wunderbaren unter
den 1 Cor 12 28 aufgezählten Geistesgaben werden 4, 11 ausgelassen, dafür
den Aposteln, Propheten und Evangelisten, als den mit einem Auftrag an die
ganze Kirche versehenen Functionären, zur Seite und entgegengestellt ttoiijlsvs;«;
xal otodtaxaXot, die Vorsteher und Lehrer der Einzelgemeinden. In der Beziehung
bildet die AiSax'rj ein commentirendes Seitenstück zu Eph. Um Förderung des-
selben Aufbaus handelt es sich (2, 20. 21. 4, 12. 16), dessen Vollendung die
Grundidee des Hermas bildet, während die neben der Heiligkeit so stark hervorge-
hobene Einheit der Kirche (4, 3 — 6) bereits die Tendenzen der Ignatianen präformirt.
Als denkbar frühester Termin mag die Zeit um 75(Ewald) oder 80 (Schölten) gelten ;
als spätester die Zeiten Hadrian's (Volkmar, Hausräte, Hilgenfeld und Davidson).
Der Brief an die Epheser. 4. Das Verhältniss zum Kolosserbrief. 291
4. Das Verhältniss zum Kolosserbrief.
1) FĂĽr die Kritik von Eph nicht minder als auch von Col liegt
der Hauptknoten, welcher Lösung verlangt, erst in dem eigenthüm-
lichen schriftstellerischen Verhältnisse beider Briefe. Dieselben lassen
nämhch einen bei Pls sonst nicht wieder vorkommenden Parallelis-
mus der Gedanken und AusdrĂĽcke erkennen. Insonderheit stimmen
ĂĽberein Gruss (Col 1, 1. 2 =- Eph 1, 1. 2), Dank und Bitte zu Gott
in Betreff der Leser (Col 1, 3—13 = Eph 1, 15—19), Darlegung
der Weltstellung und versöhnenden Thätigkeit Christi (Col 1, 14 — 23 =
Eph 1, 20 — 2,22), Hervorhebung der heidenapostolischen Berufsthätig-
keit des Pls (Col i, 24—27 = Eph 3, 1—9), Mahnung zu sitthcher
Erneuerung (Col 3, 5—17. 4, 5. 6 = Eph 4, 21—5, 21), Auf-
stellung der Haustafel (Col 3, 18—4, 1 — Eph 5, 22. 33—6, 9),
Aufforderung zu Gebet und Fürbitte (Col 4, 2—4 ^ Eph 6, 18—20),
Briefliches (Col 4, 7. 8 = Eph 6, 21. 22).
Selbstständiger gehalten erscheinen daher in Eph Stellen, wie
1, 3 — 14 (Eingang). 3, 10 — 21 (zumal von 13 an: Ermahnung zu
innerer Kräftigung). 4, 1 — 20 (zumal bis 16 : Ermahnung zu kirch-
licher Einigkeit). 5, 23—32 (Christi Ehe mit der Kirche). 6, 10—17
(geistliche WaffenrĂĽstung). 23. 24 (Schluss).
Umgekehrt erreicht Col eine gewisse Originalität erst 1, 6 — 8.
13. 23. 28. 29, theilweise auch in den christologischen Aussagen
1, 15 — 19. Selbstständig erscheint besonders 2, 1 — 9, welche Stelle
abermals in einer christologischen AusfĂĽhrung gipfelt. Der Abschnitt
2, 10 — 15 dagegen findet, wie schon zuvor 1, 9 — 12. 14. 20. 21 in
Eph 1 und 2 vielfache Parallelen. Fast ganz ohne solche steht da-
gegen Col 2, 16—3, 4 da; nur Col 2, 19 und Eph 4, 16 berühren
sich auffällig. In der Ermahnung 3, 5 — 4, 6 hat dafür blos die
Aussage 3, 11 keine augenfälligen Doppelgänger in Eph. Erst Col
4, 9 — 18 ist wieder durchaus eigenthümlicli.
Eine Parallelen-Tafel nach dem Gange von Eph gibt de Wette 6. Afl
S 313 f. Unter Voranstellung von Col dagegen gestaltet sich das Verhältniss
wie folgt:
Col.
Eph.
Col.
Eph.
3. 4. 9
- 1, 15. 16.
1, 24
= 3, 1. 13.
10
==4, 1.
1, 25
= 3, 2. 7.
14
= 1,7.
1, 26
= 3, 3. 6. 9.
10
= 1, 21.
1, 27
- 1, 9. 18. 3, 8. 9.
18. 19
-- 1, 22. 23.
2, 11
^ 2, 11.
20
- 1, 10. 2, 16.
2, 13
= 2, 1. 5.
21
— 2, 1. 3. 12. 17.
2, 14
= 2, 15.
22
-= 1, 4. 2, 5. 6.
2, 19
= 4, 16.
23
= 3, 7.
3,3
= 3,9.
19*
292 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
Col.
Bph.
Col.
Eph.
3, 5
= 4, 19. 5, 3. 5.
3, 20
= 6, 1.
3, 6
= 5, 6.
3, 21
= 6, 4.
3, 7-10
= 2, 2. 3. 4, 22—26.
3, 22-25
-= 6, 5—8
29. 31. 5, 4.
4, 1
= 6, 9.
3, 12. 13
== 4, 2. 32. 5, 1. 2.
4, 2—4
= 6, 18—20.
3, 14. 15
= 4, 3. 4.
4, 5
= 5, 15. 16.
3, 16. 17
= 5, 19. 20.
4, 6
= 4, 29.
3. 18. 19
= 5, 22. 24. 25. 28.
4, 7. 8
= 6, 21. 22.
Man hat den Parallelentafeln vorgeworfen, sie Hessen gerade die
Hauptsache im Dunkel, dass nämlich nur einzelne Gedanken, Schlagwörter,
Formeln die grössere Verwandtschaft bilden, nicht aber die doppelte Exposition
eines und desselben Themas (Reuss I, S 108). Allerdings ist das Thema keines-
wegs identisch, und findet beiderseits freie Bewegung des Gedankens statt.
So folgt z. B. auf die Versicherung steter Danksagung Col 1, 3. 4 = Eph 1, 15
beiderseits, jedoch so, dass Col 1, 5 — 8 ein kurzer, auf individuelle Verhältnisse
hinauslaufender Abschnitt dazwischentritt, eine längere Fürbitte (Col 1, 9 f
Eph 1, 16 f). Aber „im Briefe an die E^heser erbittet sie den Lesern Er-
kenntniss des hoheii^ Werthes ihres Christenstandes und derjjrrösse der gött-
lichen Macht, deren sie sich getrösten dürfen, dagegen im Briefe an die Kolossgr
volle Erkenntniss des "Willens Gottes, wie sie wandeln sollen, und was sich an
diese Erkenntniss anschliesst" (Hofmann IV, 2, S 168). „Col 2, 19 gehört in die
Ideenreihe von Christi göttlicher Würde und alleiniger Bedeutung für die Ge-
meinde, Eph 4, 16 in die Ideenreihe von der Organisation und einheitlichen
Gliederung letzterer" (Reuss S. 108). Die Stellen Eph 3, 1—9 und Col 1, 24—27
laufen parallel in der Beschreibung des heidenapostolischen Berufs. Aber in
Eph ist der Verfasser natĂĽrHch dazu veranlasst durch die vorangehende Aus-
! fĂĽhrung ĂĽber die Bestimmung_.der Heiden, gemeinsam mit den Juden als Bau-
steine in den Tempel Gottes hineingebaut zu werden, während in Col die Moti-
virung in dem dargestellten Heil überhaupt und in der es krönenden Versöhnung
I Gottes und der Menschen insonderheit beruht. In_Eph wendet sich der Apostel
nachher wieder zur EmpfehIung„„dßJ Einigkeit an die Christen, in Col dagegen
I benutzt er die Erwähnung seines Berufes, um zu eigener Besorgniss und zur
Warnung an die Leser überzugehen. Beidemal sind es ihm persönlich fremde
i Gemeinden, welche durch die parallelen Abschnitte in die rechte Stimmung
versetzt werden sollen, um sich das sagen zu lassen, was der Briefsteller ihnen
' zu sagen hat.
Aber gerade bei dieser verhältnissmässigen Selbstständigkeit des beider-
seitigen Ideenganges befremdet um so mehr, dass in sinnverwandten Stellen
beiderseits das gleiche Wortmaterial zu Tage tritt '). So ist die Stelle Col 2,
i 11 — 14 in ihren einzelnen Wortelementen vorhanden Eph 1, 19. 20. 2, 1.
4— 6. '11. 15. Wie Eph 3, 17. 18 folgt auch Col 2, 2 auf die Erwähnung der
^) Vgl. SCHMIEDEL S 139. „Von den nicht ganz 1600 Wörtern des Kolosser-
briefes stimmen weit über 400, öfters in ununterbrochenen Reihen bis zu 10,
Buchstabe fĂĽr Buchstabe mit solchen des Epheserbriefes ĂĽberein, ausserdem
gegen 160 im Wortstamme, während die Endung wegen abweichender Con-
struction eine andere ist, und etwa 30 in der Endung, während der Begriff
durch ein Synonymum ausgedrĂĽckt wird."
c Der Brief an die Epheser. 4. Das Verhältniss zum Kolosserbrief. 293
xapSiai aĂ–TĂĽJV oder ofi-ĂĽiv ein in Apposition zu diesen Genetiven stehendes
Particip im Nominativ mit dem Zusatz iv aYartig, Aus Addition der Ausdrucks-
mittel von Eph 4, 2 — 4. 32 lässt sich die Stelle Col 3, 12 — 15 gewinnen. Hier
hat doch wohl entweder der Autor ad Colossenses, indem er zunächst Eph 4,
32 copirte, die Stelle 4, 2 — 4 nachträglich eingearbeitet und sonach beide Stellen
combinirt, oder aber der Autor ad Ephesios hat den Zusammenhang von Col
3, 12 — 15 auf zwei Partien seiner Ausführung sorgsamst vertheilt; zumal da
auch die 12 beiden Parallelen gemeinsamen Begriffe mit nur einer Ausnahme
beiderorts die gleiche Reihenfolge innehalten. Dies ist aber keineswegs der
einzige Fall, dass die Parallelen zu Col an zwei auseinanderliegenden Puncten
von Eph begegnen. Man vergleiche z. B.
Eph 1.
9. •^'^(»pioa<; 4j}jlIv xb [au-
ax-fiptov TOD ^sX-fjfxaTO?
aüToö.
18. e'.osvat öfxä? ti? eaxtv
4j sKkk; zri<; xX-fjoeux;
a&xoö xal Ti? 6 itXoö-
povo}xia(; aoxoĂĽ ev zolc,
Col 1.
27. ol? eO-eXvjasv 6 d-zbc,
Yvcopbat xl xö tzKoö-
xo? x-fj<; o64f](; xoij [xu-
axYipioo xouxoo Iv xoI(;
ed-vsoiv loxiv Xpt-
rrj? oo^Yj?.
Eph 3.
8. ev xoT? ed-vsotv e^ay-
YeXioao^at xö ävs^i-
)(viaoTOv tcXoöxo(; xoö
XptOXOD.
9. xal cpcoxioat udvxa? xt<;
4] olxovo|xia xoö jxü-
OXYjplOU.
16. xaxa xö irXoöxoi; xyj?
86^Y|? aüxoö.
17. xaxotxTjaat xöv Xpt-
oxöv 8ia x*»]? itioxeux;
ev xaT(; xapSiai«; 6}X(Ji>v.
Hier finden die] complicirtesten Wechselbeziehungen statt. Die INIittel-
stelle ist verbunden 1) mit Eph 1, 9 durch die Begriffe des }xuax*f]piov, des d-ilfnia.
oder O-eXsiv, endlich des y^^^P'-Cs'-v, 2) mit Eph 1, 18 durch die eXttI? (xX-fjoecj?
oder Sö^f]";), durch xt<; 6 oder xi xö ttXoöxoc, xyj? oo^ric, ev xolc; (dYtot<; oder e^vsaiv),
3) mit Eph 3, 8 durch den TtXoöxo? und das Iv xoT? e^-vsatv, 4) mit Eph 3, 9
durch die, das einemal an fvwpiaai, das anderemal an «ptuxbat angehängte, in-
directe Frageform xi xö ttXoöxo? . . . xoö fxuoxYjpiou oder xi? yj o'.xovojjiia xoö
jiüoxTjpioo, 5) mit Eph 3, 16 durch den Begriff kKoöxoi^ zr^q So^vj«;, 6) mit Eph
3, 17 durch die, dem izkobxoq xyj(; o6^y](; beiderorts auf dem Fusse folgende,
Vorstellung Xpioxö? ev (ojxiv oder xal? xap^iai? 6}X(I»v). In allen drei Reihen sind
in wesentlich gleicher Bedeutung und Beziehung vertreten namentlich folgende
Elemente: 1) das .[jLüax*fiptov, 2) der Tzkoöxoq vr^q So^yj?, 3) die Frageform x'k;
oder xi eaxiv xö oder -rj. Man beachte, wie die Parallelen im 1. oder im 3.
Kapitel von Eph beisammen stehen, und zwar im letzteren wieder so, dass nicht
blos 3, 16. 17 schon durch die Akoluthie beider Verse sich als Parallele zu Col
l, 27 bewährt, sondern auch 3, 8. 9 direct zu dem Gedanken des jJiuoxYjpiov
d::oxexpĂĽjxfi.evov ĂĽberleitet, welcher Col 1, 26 unmittelbar vorhergegangen ist.
Zugleich berĂĽhren sich die Stellen Eph 1 und 3 unter sich nur durch Ver-
mittelung von Col 1, 27.
2) Bei so beschaflfcner Sachlage ist ohne Zulassung irgend eines Maasses
von schriftstellerischen Beziehungen bei der Erklärung des Thatbestandes nicht
auszukommen, wie denn auch die Vertheidiger der Echtheit, wenn sie in Eph
den zuvor geschriebeneu Brief sehen, sich darauf berufen, dass briefliclie Mit-
theiluugen bei wiederholter Redaction kĂĽrzer auszufallen pflegen (Reuss, Gesch. I,
294 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
S 109). Sollte dagegen kĂĽnstliche Nachahmung im Spiele sein, so erscheint
eher Eph als ins Breite gezogene, wortreiche Erweiterung des anderen Briefes,
welcher in seiner reichen Kürze und seinen strengen Uebergängen das Gepräge
der Ursprünglichkeit trägt. So de Wette, Schleiermacher, Ewald, Renan,
während Mayerhoff umgekehrt die Echtheit auf Seite von Eph gefunden hatte.
Im Falle, dass beide Briefe unpaulinisch sein sollten, wird durchgängig die
Priorität auf Seiten von Col gefunden, sei es nun, dass Ein Pseudopls beide
Briefe verfasst habe (Baur, Straatman), sei es, dass man zwei Autoren unter-
scheide (Schwegler, Hilgenfeld, Davidson, Hoekstra ThT 1868, S 599 f). Aber
auch nach Hönig's Eintreten für eine totale Abhängigkeit von Eph (ZwTh 1872,
S 63 f) sind neben zahlreichen Punkten, wo diese Hypothese unzweifelhaft im
Recht ist, der Gegeninstanzen nicht wenige ĂĽbrig geblieben (vgl. H. Holtzmann,
S 40 f, 46, 71 f). Der gewöhnlichen Voraussetzung zufolge wäre überhaupt nicht von
der Abhängigkeit des einen Briefes vom anderen, sondern nur beider von einer
herrschenden Stimmung und geistigen Beschäftigung des Augenblicks zu sprechen,
so dass der Verfasser bei Abfassung des 2. Briefes die einzelnen Gedanken,
Wendungen und AusdrĂĽcke des zuerst geschriebenen, die ihm noch in der Seele
hafteten, frei verwerthet hätte. Damit würde freilich das Verwandtschaftsver-
hältniss einen möglichst unschuldigen Charakter gewinnen, gleichwohl aber immer
noch es sich fragen, ob als der zuerst geschriebene Brief Eph (Eichhorn, Hug,
Credner, Schneckenburger, Matthies, Böttger, Guericke, Reuss, Klostermann,
Braune und Hofmann) oder Col (Wiggers, Harless, Neander, Bleek, Meyer,
Schenkel, Wieseler, Sabatier und Koster) zu gelten habe. Es besteht nämlich
unter den Vertheidigern der Echtheit beider Briefe keine Einigkeit darĂĽber, ob
Pls, als er den Tychicus nach Kleinasien sandte, zuerst die lokale Gefahr ins
Auge gefasst (Col 4, 7 — 9) und dann sich entschlossen habe, bei dieser Gelegenheit
auch einem weiteren Kreise Kunde von sich zukommen zu lassen, weil zu Eph
6, 21 tva 8s eISyjts xal uixst? xa xat' Ep.ÂŁ die Parallele Col 4, 7 kein xal auf-
weist. Die fĂĽr Abfassung der Encyklica gebotene Eile Hesse die Anlehnung
des Inhalts und der Form an den früher geschriebenen Brief allenfalls erklärlich
erscheinen. Ebenso möglicherweise aber hat Pls zuerst diese Encyklica ge-
schrieben, welche von Ephesus, wohin Tychicus zunächst gelangte (vgl. 2 Tim
4, 12), bis Laodicea gehen sollte. Nachher erst schien es ihm von Nöthen, an
die Kolosser, welche nicht mit in diese Reihe eingeschlossen waren, noch eine
besondere Ansprache zu richten, worin der allgemeine Inhalt des frĂĽher ge-
schriebenen Briefes concentrirt wiedergegeben und mit einer polemischen Pointe
versehen wurde. Weil aber auch Laodicea in derselben Lage war wie Kolossä
und sich dadurch von anderen Gemeinden unterschied, wird 4, 15. 16 Vorsorge
getroffen, dass der 2. Brief auch nach Laodicea gelangt, was am fĂĽglichsten
auf dem Wege eines Austausches gegen die Encyklica, sobald dieselbe ihren
Weg bis nach Laodicea gefunden, geschehen konnte. Daher der Verfasser,
welcher sich bewusst ist, zuvor ähnliche Ermahnungen an eine Gesammtheit
von Gemeinden gerichtet zu haben Col 3, 8 (vovl ^k 8cir6^£0^e xal öfxel? xa icavia),
„auch" (fehlt in der Parallele Eph 4, 22, vgl. 25.. 31) die Kolosser und Laodi-
cener zu ähnlicher Leistung auffordern kann. Die Frage, wie denn die Leser
des einen Briefes dazu hätten kommen können, eine solche Beziehung auf einen
anderen, zunächst nicht an sie gerichteten Brief herauszufinden, besteht zu
gleichem Recht auf den beiden gegnerischen Seiten, die sie wider einander aus-
spielen. Ein xai wiegt so schwer wie das andere.
Der Brief an die Epheser. 4. Das Verhältniss zum Kolosserbrief. 295
3) Die Sackgasse, in welcher sich diesmal die conservativen Kritiker mit
ihrer Gegnerschaft zusammenfinden, dürfte vermieden werden, wo man als Prä-
missen fĂĽr jede Urtheilsbildung folgende Thatsachen anerkennt:
1: Die Verwandtschaft ist allerdings z. Th. eine solche, welche auf die
Voraussetzung der Einheit des schriftstellerischen Subjectes fĂĽhrt, zum anderen
und wohl grösseren Theil aber eine schriftstellerisch vermittelte, wie besonders
aus den Stellen erhellt, wo ein gemischter Wortvorrath in beiden Briefen auf
verschiedene Weise fast wie mit Sorge, dass nichts verloren gehe, vei*theilt
erscheint. Mit ausschliesslicher Betonung der 1. Hälfte dieses Satzes (Einheit
des zeitlichen und psychologischen Moments) ist die vorliegende Aufgabe nur auf
bequeme Manier umgangen; denn auch der identische Verfasser beider Briefe
müsste doch immer bei Abfassung des späteren den früheren vor sich liegen
gehabt und z. Th. pedantisch reproducirt haben.
2: Aber auch die in irgend welchem Maasse unausweichbar sich auf-
drängende Annahme eines schriftstellerischen Abhängigkeitsverhältnisses lässt
sich ebenso wenig unter der Voraussetzung einer Priorität von Eph, wie unter
der entgegengesetzten reinlich und vollständig durchführen. In jedem der beiden
Briefe laufen Merkmale des Ursprünglichen und des Seeundären nebeneinander
her und durcheinander hin, so dass man sich auf eine Hypothese verwiesen
sieht, der zufolge gegenseitige Abhängigkeit denkbar erscheint.
3: Den Weg zu einer solchen weisen die Beobachtungen, dass zwar Eph
ein StĂĽck aus Einem, aber nicht aus dem paulinischen, Gusse, dagegen Col in
jeder Beziehung theilweise ist, was Eph ganz (BaĂĽr, Pls II, S 39), dass alle
aulfälhgen Spracheigenthümlichkeiten , womit Col die paulinische Linie über-
schreitet, sich mit Wortvorrath und Stil von Eph berĂĽhren (Zeller ThJ 1843,
S 540 f) und folglich Col ein „Doppelgesicht" trägt (Ewald, Göttingische ge-
lehrte Anzeigen 1872, S 1621), sofern sich Spuren der Abfassung durch Pls
einerseits, durch den Verfasser von Eph andererseits durchkreuzen.
Da nun eine wesentlich nur eigenes Product wiederholende Thätigkeit
dem schöpferischen Geiste des Pls nicht entspricht, so weist der 3. dieser Sätze
in Verbindung mit dem 1. auf ein methodisch durchgefĂĽhrtes Interpolations-
und Ueberarbeitungsverfahren hin von oben (S 225 f) beschriebener Art (An-
wendung auf Col zuerst bei Weisse, Philosophische Dogmatik I, 1855, S 146 ;
Beiträge zur Kritik der paulinischen Briefe 1867, S 59 f). Speciell um des 1.
Satzes willen muss dann aber der Autor ad Ephesios mit dem Interpolator von
Col identisch sein, so dass ein echter Plsbrief mit mancherlei Material in der
Manier von Eph unterwebt, durchwirkt und erweitert wurde (so zuerst Hitzig,
Zur Kritik paulinischer Briefe 1870, S 22, 26). Dem 2. Satze gemäss nöthigt
aber das Abhängigkeitsverhältniss in der complicirten Gestalt, wie es vorliegt,
zu der Annahme, dass der Autor ad Ephesios nicht blos den echten Plsbrief
als Grumllage benutzt, sondeni ihn der so gewonnenen eigenen Vorlage nach-
träglich auch auf dem Wege eindringender Uebemrbeitung conformirt hat. Das
Gewirrc der Parallelen wird nämlich durchsichtiger, sobald man bemerkt, wie
theils einzelne Abschnitte des ursprĂĽnglichen Plsbriefes der Reihe nacli in Eph
zur Verarbeitung kommen, theils aber auch Eph StĂĽck fĂĽr StĂĽck zur Ausfiillung
in Col venvendet ist. Die auf auseinander liegenden Punkten erscheinenden
Parallelenreihen in Eph finden dann in demselben Verhältnisse ihre Erklärung,
welches auch mit sich bringt, dass die Parallelen in Col theilweise als aus Eph
ĂĽbertragen, theilweise aber als Originale fĂĽr Eph zu betrachten sind. Diejenigen
296 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
Bestandtlieile endlich, welche nach Ausscheidung alles sprachlichen und sach-
lichen Eigenthums des Autor ad Ephesios theils als bereits in Eph benutzt,
theils als überhaupt in Col original und selbstständig 'im Reste bleiben, schliessen
sich untereinander zwanglos zu einem neuen Ganzen zusammen, dessen theolo-
gischer Gehalt allenthalben durch den genuinen Paulinismus der anerkannten
Hauptbriefe gedeckt wird. Ein Versuch durchgängiger Reconstruction wurde
1872 geboten, von welchem HaĂĽsbath (Pls, 2. Afl S 461 5 Zeitgeschichte III,
2. Afl 1875, S 358 f) in Einzelheiten abweicht (Mangold bei Bleek S 602 erhofft
wenigstens in der hier gewiesenen Richtung die endliche Lösung des vorliegenden
Problems), während 0. Pfleiderer (Paulinismus, S 366 f, 370 f, 431 f), v. Soden
(1885) und eventuell auch Schmiedel (S 143) die Interpolationshypothese vielmehr
in der Weise durchführen, dass sie nach Hönig's Vorgang zwischen dem Autor
ad Ephesios und dem Interpolator von Col scheiden, wobei v. Soden nur
1, 15 — 20. 2, 10. 15. 18 (von d-iXcav bis e}j.ßax£Uü>v), Pfleiderer auch die ganze
Umgebung dieser Verse ausscheidet.
Aus der Entfernung aller nicht nachweisbar und deutlich paulinischen
Elemente resultirt ĂĽbrigens ein sehr einfach angelegtes Schreiben, welches der
keinen einheitlichen Gedankenfortschritt darbietenden , den Redegang vielmehr
undurchsichtig machenden Digression 1, 14 — 22 ledig geht und sein Thema in
1, 10 usptTCaxYjoai 6|i.äi; ailiuc, toö d-zob findet. Da wo dasselbe aus dem weit-
bauschigen Gewände des jetzigen Briefes wieder hervortaucht, 1, 23, schliesst
sich der Uebergangsabschnitt 1, 24 — 2, 5 an, in welchem Pls den Lesern näher
rĂĽckt, um sie vor dem Irrwege einer ascetischen Gesetzlichkeit zu warnen
(2, 8) und darüber zu belehren, wesshalb sie als Gläubige über jenes Satzungs-
wesen hinaus sind (2, 11 — 3, 4). Die gemeinchristlichen Tugenden der Barm-
herzigkeit, Verträglichkeit, Bruderliebe u. s. w., sowie auch die Erfüllung der
Berufspflichten finden hierauf (3, 5 — 4, 6) im Gegensatze zu einer Irrlehre Em-
pfehlung, welche die Vollkommenheit vielmehr auf dem Wege des ascetischen
Abenteuers zu erreichen sucht. Tychicus, welcher den Brief ĂĽberbrachte (4, 7),
und Epaphras, der alsbald zu den Kolossern zurĂĽckkehrend gedacht (4, 12) und
im voraus als Vertreter und Geschäftsträger des Apostels legitimirt ist (1, 7),
werden die mĂĽndliche Interpretation der kurzen Zuschrift ĂĽbernehmen. Diese
Reliquie des Apostels, deren Wortlaut selbstverständlich nur noch mit mehr
oder weniger Wahrscheinlichkeit festzustellen, nicht aber in jedem Detail sicher
reconstruirbar ist, wäre sonach der Kirche erst in derjenigen Gestalt bekannt
geworden, welche der Autor ad Ephesios, der sie der Vergessenheit an abge-
legenem Orte entriss, ihr zu geben fĂĽr gut fand, indem er Col und Eph als
Zwillingsbriefe ausgehen und ein vereintes Zeugniss fĂĽr die Herrlichkeit der
werdenden Völkerkirche ablegen Hess. Während er dabei speciell in der positiven
AusfĂĽhrung (Eph) ein Progamm der LebenstĂĽhrung fĂĽr die geborenen Heiden ent-
wirft, bekämpft er dagegen eine drohende Gefahr in Col, wo die metaphysische
BegrĂĽndung der Ascese durch ^pYjaxsta tcĂĽv a-^^kliĂĽ^ 2, 18 einen in das ursprĂĽng-
liche Bild hineingemalten, bereits die Gnosis ankĂĽndigenden Zug darstellt.
. 4) Im Gegensatze zu letztgenannter Zeiterscheinung (S 133 f) verlegen beide
Briefe den sich realisirenden Ejad^s^ck Ggitjas. nipht sondern in^
djft bcxX-no ca (Eph 3, 10-, vgl. Col 1, 20—22), feiern demgemäss die Kirche,
\ welche, auf dem Grunde der Apostel und Propheten erbaut (Col 1, 23. 25. Eph
2, 20 — 22), sich als ein mit dem erhöhten, einheitlichen Haupte unzertrennlich
verbundener Leib organisch zusammenfĂĽgt (Col 2, 19. 3, 15. Eph 1, 22. 23.
Der Brief an die Philipper. 1. Abfassimgsort u. VerhältnisszuEph, Col, Phm. 297
4, 4. 12. 15. 16. 5, 23. 25—27. 29. 30. 32), in nerhalb de ssen es^nen Unter-
s chied vo n jrygT'.^ jiitd ,YV-<J^?1^ g^t)t (4, 13), da die (/.'(ojz-fj^'zoö Xptaxoö alle fvwat?
übertrifft (3, 19j. Andererseits verallgemeinem sie den Erlösungsprozess
(Eph 1, 7—10. 12. 18. 20. 23. 4, 9. 10. Col 1, 16. 20. 3, 11) und stellen Christus
als^kosmisches Centralwesen dar, welches ebenso in der Kirche sein TCXrjpcufxa
findet (Eph 1, 23. 4, 10. 12. 13), wie es selbst seinerseits das 7tX-f]p(i)fAa Gottes
ist (Col 1, 19. 2, 9. 10 = Eph 3, 19). In diesem Christus liegen daher alle
Schätze der Weisheit und Erkenntniss (Col 2, 3), aber nicht etwa als zu ewiger
Verborgenheit, sondern gegentheils als zur Erleuchtung der ganzen Menschheit,
nicht blos der Gnostiker, bestimmte (Col 1, 28. Eph 3, 18. 4, 13). Daher die
I(l( •■( iiu s vdii Anbeginn der "Welt her in Gott verborgenen, jetzt aber den
Aposteln und durch sie der Kirche geoffenbarten jxooxYjpiov mit Vorliebe gepflegt
wird (Eph 1, 9. 10. 3, 3—5. 9. 5, 32. 6, 19. Col 1, 26. 27. 2, 2. 4,3),
wie andererseits das viele Reden von Stavoia, aoveo'.?, (ppovYjai?, yvwok;, Iuiyvcooi;,
Gocpia, SiSdoxeiv, jj-avO-dvstv, cpcuxtCeiv, dTCOxaXoTCxetv , vosiv, "^viopi^^tiv , cpavepoöv
u. s. w. an Gnosis und Mysteriencult erinnert. FĂĽr alle diese EigenthĂĽmlichkeiten |
einer deuteropaulinischen Weltanschauung fehlt es an vereinzelten Ansätzen in
Kundgebungen des Heidenapostels nicht, und so hat der Verfasser schliesslich
auch seine Darstellungsweise an derjenigen seines Vorbildes herangebildet, indem '
er sich einzelner Vorkommnisse und Elemente der paulinischen Lehrsprache f
mit Liebhaberei bemächtigte und sie zu wirklichen Eigenthümlichkeiten steigerte, f
Daher Häufungen von Synonymen, von Genetiven, von Fragewendungen mit xt? ^
oder xt im Sinne von quantus und quäle, von mit uä<; verbundenen Substan- ,
tiven ; zahlreiche Worte, die den Begriff der FĂĽlle ausdrĂĽcken, wie TtXvjpoov,
7cXirjpoüa9-ai, dvxavaTcXYjpoöv, i^Xir^pocpopsIoO-at, uXYjpocpopia, TrXviOfi.ov'r] und itX*f|p(üjjLa;
längere Wortzusammensetzungen, wie imter den 84 anal Xs^o/Asva beider Briefe
namentlich dv^ptoTidpeGxof;, o^fd-aXit-oZooKtia, aTcaXXoxptoöaO-at und <5cTCoxaxaXXdoaeiv,
wogegen unsere Briefe nur 5 Wörter ausschliesslich mit Pls gemein haben; vgl. (
oben S 282.
Der Brief an die Philipper.
Specialcommentare von Rhelnwald (1827), IVIatthies (1835), van Hengel
(1838), Hölemann (1839), Rilliet (1841), Baumgarten-Crusius (s. oben S 233),
Jatho (1857), Weiss (1859), Ellicott (vgl. oben S 274), L B. Lightfoot (1868,
t). Afl 1881), C. L Vaughan (1882), Eadie (1884). Dazu C. HĂĽlsten JprTh
1875, S 425 f. 1876, S 58 f, 282 f. P. ScmiiDT, Neutestamentliche Hyperkritik
;in dem jĂĽngsten Angriff gegen die Echtheit des Philipperbriefes auf ihre Me-
tliodc hin untersucht 1880. Th. Zahn ZWL 1885, S 182 f, 243 f, 281 f.
1. Abfassungsort und Verhältniss zu Eph, Col, Phm.
Viermal, wie in den ĂĽbrigen Briefen aus der Gefangenschaft
(Phm 1. 9. 10. 23. Col 1, 24. 4, 3. 10. 18. Eph 3, 1. 13. 4, 1.
♦>, 20), erfahren wir auch in diesem Briefe (1, 7. 13. 14. 17), dass
der Apostel Fesseln trägt. Nun istPhl, woran unter den Neueren
nur Bleek zweifelt (S 563, 603 f), jedenfalls nach den 3 anderen
i;eschrieben. Für Cäsarea, wo Paulus (De tempore scriptae prioris
ad Tim. atque ad Phil, epist. Pauli 1799), Büttger (Beiträge zur
298 Besonderer Theil. Die paulinischen Briefe.
historisch- kritischen Einleitung in die paulinischen Briefe 1837, 11,
S 37 f) und Thiersch (Kirche S 173) auch Phl entstanden sein
Hessen, spricht, dass unter dem Prätorium 1, 13 und Kaiserhaus 4, 22
auch der Palast des Herodes daselbst als das bedeutendste öffent-
Hche Gebäude verstanden sein könnte (Act 24, 23). Treffender aber
scheint die Beziehung von 1, 13 auf die Kaserne, der praetorianae
cohortes (Sueton. Tib. 37) und von 4, 22 auf das kaiserliche Gesinde.
Möglicherweise war Pls kürzlich aus dem {iLa^w^i^a Act 28, 30 in ein
Gefängniss beim kaiserlichen Palast gebracht worden. Bestimmter
weist die ihm zum Verdrusse geübte judenchristHche Lehrthätigkeit
nach Eom, wie denn gerade die antijĂĽdische Polemili auch den
Kolosserbrief (2, 11 — 14. 16. 17) mit dem unsrigen verbindet und
nach Eom zieht. Pls ist Phl 1, 14 von einer grossen Gemeinde um-
geben, womit die Col 4, 3. 4 (= Eph 6, 19. 20) sich eröffnende
Aussicht auf eine fruchtbringende Thätigkeit stimmt. Insonderheit
aber schliesst sich Phl 2, 20. 21 steigerungsweise an die Col 4, 11
ausgedrĂĽckte Stimmung bezĂĽglich seiner Mitarbeiter an. Schliess-
lich treten auch die mancherlei Hoffnungsstrahlen, die Phl 1, 25 — 27.
2, 23. 24 hervorbrechen, wieder zurĂĽck hinter dem Gedanken an das
nahe Ende. Stellen wie 1, 20. 21. 2, 17. 3, 10. 11 fehlen in den
3 anderen Briefen gänzHch. Es ist das Testament des Apostels,
das wir vor uns haben — und das schrieb er in Rom.
In neuerer Zeit gilt daher als ausgemacht, dass Phl, falls ĂĽberhaupt echt,
vom Rom aus datirt ist (anders nur noch E. Böhmer, Rm S .185 f), selbst für
den Fall, dass die 3 anderen Grefangenschaftsbriefe, welche allerdings zusammen-
gehören und gemeinsame Abfassungsverhältnisse voraussetzen, in Cäsarea ge-
schrieben wären (D. Schulz, Schott, Wiggers, Meyer, Reüss, Schenkel, Weiss).
Auf keinen Fall darf man daher noch Eph allein in Palästina, dagegen mit Phl
auch Phm und Col in Rom abgefasst sein lassen (Schneckenburger, Beiträge
S 143). Alle Andern treten fĂĽr Rom als Abfassungsort aller 4 Briefe in die
Schranken; sofern sie ihnen ĂĽberhaupt Echtheit zuerkennen, auch Renan, Aube,
Davidson, Hitzig, während Hausrath, Pfleiderer, Hilgenfeld, in gleichem
Falle befindlich, nur Phl in Rom, das Uebrige in Cäsarea entstanden sein lassen,
endlich Credner (Einl. S 390; Das NT S 290) und de Wette (Rom 1826
und 1843—47, Cäsarea 1830—1848) sich schwankend verhielten ; vgl. H. Holtz-
mann, Kritik der Epheser- und Kolosserbriefe S 279 f.
2. Veranlassung.
Die Christen in Philippi, welche Pls auf der ersten Missionsreise
gesammelt (Act 16, 12 — 40) und auf der 2. mehrfach besucht hatte
(20, 1 — 6), waren im Gemüth mit dem gefangenen Apostel um so
mehr beschäftigt, als der Prozess gegen ihn endlich (28, 30. 31) be-
gonnen und damit seine Lage scheinbar eine Wendung zum Schhm-
Der Brief an die Philipper. 2. Veranlassung. 299
meren genommen hatte. In Wirklichkeit freilich diente der Anfang
des Prozesses nur dazu, die rein religiöse Ursache seiner Gefangen-
schaft an's Licht zu bringen (Phl 1, 7. 13) und den gesunkenen
Muth der deprimirten Gemeinde Roms wieder zu heben (1, 14). Die
Philipper aber hatten bereits den Epaphroditus (welchen Manche
seit Grotius mit Epaphras Col 1, 7. 4, 12 Phm 23 identificiren)
zu ilmi gesandt, welcher in Rom fast einer schweren Krankheit er-
legen wäre, wovon seine Gemeindegenossen nur zu ihrer noch grösseren
Beunruhigung Kunde empfangen hatten (2, 26. 27. 30). Wie nun
aber Pls auch sonst ausnahmsweise von seinen „Macedoniern" Ge-
schenke angenommen hat (4, 15. 16 = 2 Cor 11, 8. 9), so war auch
Epaphroditus mit einer Gabe eingetroffen (2, 30. 4, 10. 18). Die
Pflicht, liierfĂĽr zu danken, und das BedĂĽrfniss, sich sowohl ĂĽber seine
Lage als über die Gemeindezustände in Philippi, wie sie ihm der
Gesandte geschildert hatte, auszusprechen, motiviren den Brief, wel-
chen Pls dem zurĂĽckkehrenden Epaphroditus (2, 25. 28. 29) mit
einer Empfangsbescheinigung (4